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KCanG II: Neufestsetzung einer Strafe nach dem KCanG, oder: Dann gibt es einen Pflichtverteidiger

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Im zweiten Posting dann etwas Verfahrensrechtliches, nämlich den LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 10.01.2025 – 7 Qs 3/25 – zur Bestellung eines Pflichtverteidigers im Vollstreckungsverfahren, wenn zu prüfen ist, ob eine Freiheitsstrafe unter Anwendung der Art. 313, 316p EGStGB i.V.m. Art. 13 CanG neu festzusetzen bzw. zu ermäßigen wäre.

„Die gem. §§ 142 Abs. 7 Satz 1, 311 StPO zulässige Beschwerde ist begründet. Dem Beschwerdeführer war ein Pflichtverteidiger zu bestellen, da im Vorliegenden ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO analog gegeben ist.

Im Vollstreckungsverfahren ist dem Verurteilten in entsprechender Anwendung des § 140 Abs. 2 Satz 1 StPO ein Verteidiger zu bestellen, wenn die Sach- oder Rechtslage schwierig oder sonst ersichtlich ist, dass sich der Betroffene nicht selbst verteidigen kann (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 140 Rdn. 34), oder wenn die Entscheidung von besonderem Gewicht ist (vgl. OLG Jena, NStZ-RR 2003, 284; OLG Karlsruhe, StV 1994, 552). Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass im Vollstreckungsverfahren in weitaus geringerem Maße als in dem kontradiktorisch ausgestalteten Erkenntnisverfahren ein Bedürfnis nach Mitwirkung eines Verteidigers auf Seiten des Verurteilten besteht (vgl. BVerfG, NM 2002, 2773) und die drei abschließend genannten Merkmale des § 140 Abs. 2 Satz 1 StPO daher einschränkend zu beurteilen sind (vgl. KG, NStZ-RR 2006, 211). Für eine analoge Anwendung dieser Vorschrift kommt es insbesondere dar-auf an, in welchem Umfang die vollstreckungsrechtliche Entscheidung in die Rechte des Verurteilten eingreift (vgl. KG, NJW 2015, 1897; KG, BeckRS 2016, 119933).

Danach sind die Voraussetzungen für eine Pflichtverteidigerbestellung hier gegeben.

Der Gesichtspunkt der Schwere der Tat gebietet grundsätzlich nicht die Mitwirkung eines Verteidigers. Da im Vollstreckungsverfahren – anders als im Erkenntnisverfahren – die Höhe der Strafe feststeht, lässt sich die Rechtsprechung über die Notwendigkeit der Verteidigung wegen der Schwere der Tat grundsätzlich nicht ohne Weiteres auf das Vollstreckungsverfahren übertragen. Vielmehr ist auf die Schwere des Vollstreckungsfalles für den Verurteilten abzustellen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 140 StPO Rdn. 34). Vorliegend wurde der Beschwerdeführer rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten verurteilt. Im gegenständlichen Vollstreckungsfall wäre zu prüfen, ob diese Freiheitsstrafe – als freiheitsentziehende Straftatfolge – unter Anwendung der Art. 313, 316p EGStGB i.V.m. Art. 13 CanG neu festzusetzen bzw. zu ermäßigen wäre. Insoweit nahm die Kammer die höchst- und obergerichtliche Rechtsprechung zu Freiheitsstrafen von über einem Jahr zu § 140 Abs. 2 StPO in den Blick (vgl. LG Neuruppin, BeckRS 2024, 31189). Weiter nahm die Kammer auch die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage in Blick. Auch hierbei verkennt die Kammer nicht, dass sich diese ebenfalls nicht nach den Verhältnissen im Erkenntnisverfahren beurteilt. Denn der Beschwerdeführer muss sich nicht gegen einen Tatvorwurf verteidigen; das Vollstreckungsgericht ist an die rechtskräftigen Feststellungen des Tatrichters in dem zu vollstreckenden Urteil gebunden. Maßgebend ist vielmehr auch, ob die rechtliche Lage schwierig ist (vgl. KG, BeckRS 2016, 119933). Dies ist hier jedoch aufgrund divergierender gerichtlicher Entscheidungen zur Neufestsetzung bzw. Ermäßigung in Fällen in denen der gleichzeitige Besitz verschiedener Betäubungsmittel den Tatbestand des unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln nur einmal verwirklicht der Fall, da die Vorschrift des Art. 313 EGStGB hierzu keine ausdrückliche Regelung enthält (vgl. LG Magdeburg, BeckRS 2024, 23106; Saarländisches OLG, Beschluss vorn 16.04.2024 – 1 Ws 37/24).

Aufgrund einer Gesamtschau dieser Umstände war dem Beschwerdeführer im Vorliegenden ein Pflichtverteidiger für das Nach-/Prüfverfahren gem. Art. 313, 316p EGStGB i.V.m. Art. 13 CanG zu bestellen.“

Pflichtverteidiger „nur“ für Hafttermin bestellt, oder: Grund-, Verfahrens- und Terminsgebühr

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Im zweiten Posting dann hier ein weiterer, recht frischer Beschluss zur Frage, welche Gebühren für den Pflichtverteidigers entstehen, der „nur“ für eine Haftbefehlsverkündung bestellt worden ist. Die Frage ist in der Rechtsprechung nicht abschließend geklärt. Mit dem LG Regensburg, Beschl. v. 14.01.2025 – 10 Qs 5/25 – hat sich jetzt aber ein weiteres Gericht der Auffassung angeschlossen, die nach Teil 4 Abschnitt 1 VV RVG abrechnet und Grund -, Verfahrens- und Terminsgebühr gewährt:

„1. Die Beschwerde ist begründet, da Vergütung der Beschwerdeführerin sich mangels Anwendbarkeit nicht nach Teil 4 Abschnitt 3 VV RVG richtet, sondern nach Teil 4 Abschnitt 1 VV RVG (a) und die Beschwerdeführerin daher Anspruch auf die Vergütung in beantragter Höhe hat (b).

a) Teil 4 Abschnitt 3 VV RVG ist hier nicht anzuwenden, da durch die Bestellung der Beschwerdeführerin als Pflichtverteidigerin für den Vorführtermin am 16.08.2024 ein Verteidigungsverhältnis im Sinne des Teils 4 Abschnitt 1 VV RVG begründet wurde. Die Vergütungsvorschriften zu „Einzeltätigkeiten“ sind gem. der Vorbemerkung 4,3 Abs. 1 in Teil 4 Abschnitt 3 VV RVG hierzu subsidiär.

Das OLG Köln führt in seinem Beschluss vom 24.01.2024, Az. 3 Ws 50/23, hierzu folgendes aus:

…..

Die überzeugende Argumentation des OLG Köln im zitierten Beschluss macht sich das Gericht zu eigen.

Hier ist es zudem so, dass der spätere Verurteilte zum Zeitpunkt der Bestellung der Beschwerdeführerin zur Pflichtverteidigerin nicht anderweitig anwaltlich vertreten war. Der Beschwerdeführerin oblag also insbesondere die rechtliche Einordnung des Sachverhalts, der dem späteren Verurteilten zur Last gelegt wurde, eine Prüfung des im Haftbefehl angenommenen Haftgrundes sowie eine Beratung des damaligen Beschuldigten, ob Angaben zur Sache gemacht werden sollen. Die Tätigkeit eines in diesem Verfahrensstadium für die Vertretung des Beschuldigten lediglich für den Vorführungstermin bestellten Pflichtverteidigers unterscheidet sich damit faktisch nicht von derjenigen eines umfassend bevollmächtigten Wahlverteidigers bzw. zeitlich unbeschränkt bestellten Pflichtverteidigers.
Nichts anderes ergibt sich daraus, dass sich die Pflichtverteidigerbestellung im vorliegenden Fall auf einen Vorführungstermin im Sinne des § 115a StPO bezieht. Zwar ist die Entscheidungsbefugnis des Richters im Sinne des § 115a StPO beschränkt und er darf den Haftbefehl im Regelfall wieder aufheben noch außer Vollzug setzen. Allerdings sieht § 115a Abs. 2 Satz 4 StPO im Falle von nicht offensichtlich unbegründeten Einwendungen des Beschuldigten oder sonstigen Bedenken des Richters gegen die Aufrechterhaltung der Haft die Pflicht zur Rücksprache mit dem zuständigen Gericht oder der zuständigen Staatsanwaltschaft vor, die im Ergebnis zu einer Aufhebung oder Außervollzugsetzung des Haftbefehls führen kann. Das zeigt, dass die Tätigkeit des Verteidigers auch in einem solchen Termin eine wichtige grundrechtssichernde Funktion erfüllt.

Die von dem Amtsgericht und der Bezirksrevisorin zitierte Entscheidung des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 23.01.2023, Az. 4 Ws 13/23, in der eine Vertretung durch einen Pflichtverteidiger beschränkt auf einen Anhörungstermin gem. § 115 StPO als Einzeltätigkeit im Sinne von Teil 4 Abschnitt 3 VV RVG qualifiziert wird, beruht auf einem nicht gänzlich vergleichbaren Sachverhalt: im dortigen Fall war der Beschuldigte bereits durch einen von ihm bevollmächtigten Rechtsanwalt verteidigt, der lediglich zu dem anberaumten Vorführungstermin verhindert war. Dieser Umstand war für das OLG Stuttgart auch entscheidungserheblich: „Jedenfalls in einem solchen Fall handelt es sich bei der Vertretung des Beschuldigten im Rahmen der Haftvorführung nach § 115 StPO um eine Einzeltätigkeit.“ (vgl. OLG Stuttgart, Beschluss vom 23. Januar 2023 — 4 Ws 13/23

Unbeschadet der zeitlichen Begrenzung der Beiordnung kommt eine gebührenrechtliche Einstufung der von der Beschwerdeführerin entfalteten Tätigkeit als Einzeltätigkeit im Sinne des Teils 4 Abschnitt 3 des Vergütungsverzeichnisses in Anlage 1 zu § 2 Abs. 2 RVG mithin nicht in Betracht (vgl. auch OLG Nürnberg, Beschluss vom 13.11.2014 — 2 Ws 553/14 juris).
Dass die Staatskasse im Ergebnis nun doppelt mit einer Verfahrensgebühr belastet wird, beruht auf der unzulässigerweise auf den Termin vom 16.08.2024 beschränkten Beiordnung der Beschwerdeführerin. § 140 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. §§ 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 143 StPO sieht eine Pflichtverteidigerbestellung für das gesamte Verfahren vor, die mit rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens oder durch Aufhebung mit gesonderten Beschluss endet. Gerade für die hier gegenständliche Konstellation einer Vorführung bei dem nächsten Amtsgericht trifft § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 2 StPO eine Regelung zum Verteidigerwechsel, die eine zeitlich beschränkte Beiordnung entbehrlich macht. Da gegen den Beiordnungsbeschluss kein Rechtsmittel eingelegt wurde, ist er rechtskräftig und der Vergütung der Beschwerdeführerin zugrunde zu legen.“

Die Entscheidung ist zutreffend. Sie entspricht der inzwischen wohl h.M. in der Rechtsprechung.

Aber ein kleiner Wermutstropfen bleibt. Es ist m.E. nämlich zu bedauern, dass der entscheidende Einzelrichter die Entscheidung nicht auf die Kammer übertragen hat. Das wäre nach § 56 Abs. 2 S. 1 RVG i.V.m. § 33 Abs. 8 S. 2 RVG möglich gewesen, denn danach ist die Übertragung auf die Kammer eben auch wegen „grundsätzliche Bedeutung“ zulässig. Die dürften Verfahren mit der entschiedenen Problematik wegen der immer noch herrschenden teilweisen Uneinigkeit in der obergerichtlichen Rechtsprechung aber haben. Damit wäre dann der Weg frei gewesen für die Zulassung der weiteren Beschwerde und damit ggf. für eine Entscheidung des OLG Nürnberg, das sich zu der entschiedenen Frage schon länger nicht mehr geäußert hat.

Aber: Man kann nicht alles haben.

Verkehrsrecht III: Entziehung der FE nach 9 Monaten, oder: Verstoß gegen des Verhältnismäßigkeitsgebot

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Und dann noch der LG Hamburg, Beschl. v. 05.08.2024 – 612 Qs 67/24  – ebenfalls zur Entziehung der Fahrerlaubnis nach längerem Zeitablauf nach der Anlasstat.

Das AG hat dem Beschuldigten die Fahrerlaubnis in einem Verfahren mit dem Vorwurf des unerlaubten Entfernens vom Unfallort vorläufig entzogen. Dagegen dann die Beschwerde, die Erfolg hatte:

„2. Die Entscheidung über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis des Beschuldigten durch das Amtsgericht Hamburg stellt sich im vorliegenden Fall mit Blick auf die Verfahrensdauer als nicht mehr verhältnismäßig dar.

a) Es besteht indes der dringende Tatverdacht, dass der Beschuldigte eine Straftat nach § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB begangen hat.

…..

3. Der Beschuldigte ist nach vorläufiger Würdigung der Beweislage auch als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen anzusehen. Dies folgt aus der vorliegend einschlägigen und nicht widerlegten Regelvermutung des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB in Verbindung mit § 142 StGB.

…..

4. Die Entscheidung über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis durch das Amtsgericht Hamburg genügt jedoch mit Blick auf die Verfahrensdauer nicht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

Die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis ist aufzuheben, wenn durch schwerwiegende Verstöße gegen das Beschleunigungsgebot eine erhebliche Verzögerung des Verfahrens eintritt (OLG Nürnberg, Beschluss vom 14.02.2006 – Az. 1 Ws 119/06, Rn. 21, juris). Dies gilt insbesondere für eine von den Strafverfolgungsorganen zu verantwortende erhebliche Verzögerung des Strafverfahrens, die den Beschuldigten sodann in seinem Recht auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren verletzt (BVerfG, Beschluss vom 15.03.2005 – 2 BvR 364/05, NJW 2005, 1767 (1768)). Es sind mit zunehmender zeitlicher Distanz zwischen Tatgeschehen und dem Zeitpunkt der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis erhöhte Anforderungen an die Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Sicherheit des Straßenverkehrs und dem Schutz der Allgemeinheit einerseits und dem Interesse des Fahrerlaubnisinhabers an der uneingeschränkten Nutzung seiner Fahrerlaubnis andererseits zu stellen. Darüber hinaus ist grundsätzlich in den Blick zu nehmen, dass wenn der Beschuldigte nach der ihm angelasteten Tat weiter im Besitz seiner Fahrerlaubnis ist und beanstandungsfrei am Straßenverkehr teilnimmt, sein Vertrauen in den Bestand der Fahrerlaubnis wächst, während die Möglichkeit ihres vorläufigen Entzuges nach § 111a Abs. 1 Satz 1 StPO ihren Charakter als Eilmaßnahme zunehmend verliert (zum Ganzen: KG, Beschluss vom 08.02.2017 – Az. 3 Ws 39/17, BeckRS 2017, 113772).

Gemessen an diesen Maßstäben stellt sich die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis vorliegend als nicht mehr verhältnismäßig dar.

Dabei ist die erhebliche, gegen das Beschleunigungsgebot verstoßende Verfahrensdauer zwischen der hochwahrscheinlich begangenen Tat und den ersten Maßnahmen der Strafermittlungsbehörden in den Blick zu nehmen. Die Tat wurde seitens der Zeugin pp. durch eine E-Mail ihres Rechtsanwaltes pp. am 20.09.2023 dem Polizeikommissariat 43 zur Kenntnis gebracht (Bl. 5 ff. d.A.). Als nächstes Schriftstück befindet sich ein Schreiben des Rechtsanwalts pp. vom 13.11.2023 in der Akte, in dem dieser mitteilt, dass die Akte nicht mehr benötigt werde (Bl. 11 d.A.). In der Akte folgt sodann ein Vermerk der Polizeidienststelle VD 42 vom 09.04.2024, in dem mitgeteilt wird, dass die Sachbearbeitung übernommen wurde. Demzufolge sind fast sieben Monate vergangen, ohne dass ersichtliche Ermittlungsmaßnahmen eingeleitet wurden. Der Beschluss über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis erging sodann am 16.06.2024 (Bl. 31 d.A.) und damit mehr als neun Monate nach der hochwahrscheinlich begangenen Tat, was bereits für sich genommen in erheblicher Spannung zum Charakter des vorläufigen Entzuges der Fahrerlaubnis nach § 111a StPO als Eilmaßnahme steht.

Hinzu kommt, dass der Beschuldigte zumindest laut der in der Akte befindlichen Auskunft des Kraftfahrbundesamtes vom 07.05.2024 seit der hochwahrscheinlich begangenen Tat am 05.09.2023 beanstandungsfrei am Straßenverkehr teilgenommen hat, wodurch neben der langen Verfahrensdauer zusätzlich Vertrauen in den – zumindest vorläufigen – Bestand der Fahrerlaubnis beim Beschuldigten entstanden ist.“

Tja, vielleicht ein Phyrrussieg? Einerseits sicherlich sehr schön die Aufhebung, andererseits macht das LG aber – an sich nicht notwendige – Ausführungen zur Tat und zur Beweiswürdigung, die das AG – je nach Einlassung des Beschuldigten – wahrscheinlich mit Freuden lesen wird. Denn da kann es ggf. schän „abschreiben“.

StPO III: StA „verweigert“ ausreichende Ermittlungen, oder: Hauptverhandlung vor der Hauptverhandlung?

Und dann zum Tagesschluss noch der AG Eilenburg, Beschl. v. 13.11.2024 – 8 Ds 962 Js 41314/24 jug.

In dem Verfahren wirft die Staatsanwaltschaft dem 16-jährigen Angeschuldigten, der bei seiner Mutter lebt,vor, sich des Betruges gemäß § 263 Abs. 1 StGB strafbar gemacht zu haben. Dem Angeschuldigten wird im Einzelnen folgendes zur Last gelegt zu haben. Wegen der Einzelheiten des Vorwurfs und des Verfahrensgangs dann bitte im Volltext nachlesen. Hier geht es jetzt nur um die Ausführungen des AG zu seinen Verpflichtungen im Zwischenverfahren.

Das AG hat nämlich die Eröffnung des Hauptverfahrens iaus tatsächlichen Gründen abgelehnt, da es an einem hinreichenden Tatverdacht fehlt (§ 203 StPO). In dem Zusammenhang „schreibt es der Staatsanwaltschaft ins Stammbuch“:

„….

3. Für das Gericht besteht im vorliegenden Fall auch keine Rechtspflicht nach § 202 StPO, durch eigene umfangreiche Ermittlungen im Zwischenverfahren die Grundlagen für den hinreichenden Tatverdacht zu schaffen (vgl. bereits AG Eilenburg, Beschl. v. 26.09.2022 – 8 Ds 950 Js 50859/21 -, juris). Nach dem Wortlaut des Gesetzes („kann das Gericht zur besseren Aufklärung der Sache einzelne Beweiserhebungen anordnen”) stehen diese Ermittlungen im Zwischenverfahren im Ermessen des Gerichts; hingegen muss es im Hauptverfahren gemäß § 244 Abs. 2 StPO von Amts wegen eine erschöpfende Beweisaufnahme durchführen. Bei den in § 202 StPO benannten Beweiserhebungen kann es sich zudem nur um „einzelne Beweiserhebungen” handeln, also – in diesem Stadium – um eine bloße Ergänzung oder Überprüfung eines von der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren bereits weitgehend aufgeklärten Sachverhalts. Würde die Ermittlungsanordnung des Gerichts darauf hinauslaufen, dass erhebliche Teile des Ermittlungsverfahrens nachgeholt werden müssten bzw. dadurch erst die Voraussetzungen eines hinreichenden Tatverdachtes geschaffen werden, so ist für das Verfahren nach § 202 StPO kein Raum (so LG Berlin, Beschl. v. 12.03.2003 – 534 Qs 31/03 -, NStZ 2003, 504 mit zustimmender Anmerkung Lilie, NStZ 2003, 568; vgl. auch OLG Düsseldorf, Beschl. v. 03.02.2014 – 2 Ws 614/13 -, BeckRS 2016, 18956 m. w. N.).

So liegt der Fall hier. Relevante Umstände, aus denen auf die Täterschaft des Angeschuldigten M. für den Tatvorwurf vollendeter Betrug geschlossen werden kann, sind im Ermittlungsverfahren nicht festgestellt worden. Die Staatsanwaltschaft hat nicht nur nicht die Ermittlungen trotz anderslautender formularmäßiger Behauptung bei Anklageerhebung abgeschlossen; sie hat die Ermittlungen regelrecht verweigert.

Es ist aus den oben dargelegten Gründen nicht Aufgabe des Tatrichters, das sich offenkundig aufdrängende Beweisprogramm im Zwischenverfahren abzuarbeiten und damit quasi eine „Hauptverhandlung” vor der Hauptverhandlung durchzuführen. Zu denken ist in diesem Zusammenhang auch an die Gefahr der Befangenheit, der sich das Gericht aussetzt, das selbst vor Zulassung der Anklage umfangreiche Ermittlungen durchführt (so bereits LG Berlin, a. a. O.). Zutreffend weist Lilie (NStZ 2003, 568) darauf hin, dass § 202 StPO nicht dazu missbraucht werden dürfe, mangelnde staatsanwaltliche Kontrolle polizeilicher Ermittlungstätigkeit im Zwischenverfahren nachzuholen, da es sonst zu einer Schieflage im Verhältnis der Aufgaben zwischen Staatsanwaltschaft und Gericht käme. Der Nachweis begründeten Tatverdachts dürfe nicht auf die Eingangsgerichte abgewälzt werden. § 202 StPO müsse restriktiv angewendet werden und einen Ausnahmefall bilden.“

Für Befriedungsgebühr Kausalität erforderlich?, oder: Bemessung der Terminsgebühr/Kostenentscheidung

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Und im zweiten Posting dann etwas aus Berlin, und zwar den LG Berlin, Beschl. v. 09.12.2024 – 525 Qs 169/24 – zur zusätzlichen Verfahrensgebühr Nr. 4141 VV RVG und zur Bemessung der Terminsgebühr Nr. 4108 VV RVG.

Gegen den Angeklagten war ein Strafbefehl erlassen, gegen den der Verteidiger Einspruch eingelegt hat. Das Verfahren gegen den Angeklagten ist dann vom AG eingestellt worden. Gestritten worden ist dann um die Festsetzung der zusätzlichen Verfahrensgebühr Nr. 4141 VV RVG und die Höhe einer (Hauptverhandlungs)Terminsgebühr Nr. 4108 VV RVG. Das AG hat die Nr. 4141 VV RVG nicht festgesetzt und die Terminsgebühr nur in einer geringeren als vom Verteidiger geltend gemachten Höhe. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde des Verteidigers hatte hinsichtlich der Nr. 4141 VV RVG Erfolg, hinsichtlich der Höhe der Terminsgebühr hingegen nicht:

„I. Soweit sich der Beschwerdeführer gegen die unterlassene Festsetzung der Befriedungsgebühr nach Nr. 4141 VV RVG wendet, ist die sofortige Beschwerde begründet.

Für deren Entstehen genügt bereits jede anwaltliche Tätigkeit, die auf eine Verfahrensförderung gerichtet ist, ohne dass sie auch kausal für die Verfahrensbeendigung geworden oder besonders aufwändig gewesen sein muss. Dabei trifft die Beweislast für das Fehlen der anwaltlichen Mitwirkung die Staatskasse als Gebührenschuldner (vgl. Felix in: Toussaint, Kostenrecht, 54. Aufl. 2024, RVG VV 4141 Rn. 7 m.w.N.). Hier haben das Amtsgericht bzw. die Staatsanwaltschaft auf die Einspruchsschrift des Beschwerdeführers offensichtlich Nachermittlungen für erforderlich gehalten. Kurz nach Aktenrückkehr von der Polizei wurde das Verfahren sodann eingestellt. Es liegt nahe, dass Hintergrund dafür zumindest auch das Ergebnis dieser auf die Einspruchsschrift des Beschwerdeführers zurückzuführenden Nachermittlungen gewesen ist.

II. Im Hinblick auf die Terminsgebühr Nr. 4108 VV RVG ist die sofortige Beschwerde hingegen aus den insoweit weiterhin zutreffenden Gründen des angefochtenen Beschlusses unbegründet.

In dieser Hinsicht war die Gebührenbestimmung durch den Beschwerdeführer unbillig i.S.d. § 14 Abs. 1 RVG, da die angemessene Gebühr um mehr als 20 % (vgl. KG, Beschluss vom 6. Dezember 2010 – 1 Ws 45/10 –, Rn. 3, juris) überschritten wurde. Denn angemessen war hier nicht die angesetzte Mittelgebühr, sondern die mit dem angefochtenen Beschluss festgesetzte. In erster Linie maßgeblich ist insofern die Dauer des Termins, wenn auch unter Berücksichtigung der Wartezeit. Die Einspruchsbegründung vermag eine höhere Festsetzung nicht zu rechtfertigen. So wird die Einlegung und Begründung eines Rechtsmittels nicht durch die Termins-, sondern durch die Verfahrensgebühr abgegolten. Unabhängig davon rechtfertigt der dortige knappe Vortrag zur Ortsabwesenheit ebenso wenig eine Gebührenerhöhung wegen des Umfangs bzw. der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit wie die – wenn auch etwas ausführlicheren – Ausführungen zur Frage des Wiedererkennens im Rahmen einer Wahllichtbildvorlage. Inwiefern die dortigen Ausführungen bereits auf Tätigkeiten im Rahmen der Vorbereitung des Termins zurückgehen, ist im Übrigen auch nicht ersichtlich.“

Und dann noch eine interessante Kostenentscheidung des LG:

„Die Kosten- und Auslagenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 4 StPO. Der Beschwerdeführer hat einen Teilerfolg erzielt, der unter Billigkeitsgesichtspunkten die aus dem Tenor ersichtliche Quotelung rechtfertigt. Da eine bloß hälftige Ermäßigung der nach Vorbemerkung 3.6 KV GKG einschlägigen Gerichtsgebühr Nr. 1812 KV GKG dem Ausmaß des Teilerfolgs nicht ausreichend Rechnung tragen würde und eine Ermäßigung auf einen anderen Prozentsatz nicht vorgesehen ist, hat die Kammer bestimmt, dass eine Gebühr nicht zu erheben ist.“

Anzumerken ist:

1. Die Ausführungen des LG zur Nr. 4141 VV RVG sind zutreffend. Für das Entstehen dieser zusätzlichen Verfahrensgebühr ist es unerheblich, in welchem Verfahrensabschnitt die Mitwirkung erbracht wird. Es genügt, dass ein früherer Beitrag des Verteidigers zur Erledigung in einem späteren Verfahrensabschnitt, in dem es dann zur Erledigung des Verfahrens kommt, noch fortwirkt (Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl. 2021, Nr. 4141 VV Rn 18). Zutreffend ist ebenfalls die Ansicht des LG zur Beweislast und zur Frage der Ursächlichkeit (dazu u.a.  BGH AGS 2008, 491 = RVGreport 2008, 431; OLG Stuttgart AGS 2010, 202 = RVGreport 2010, 263; LG Aachen, Beschl. v. 28.02.2024 – 2 Qs 8/23, AGS 2024, 228 mit zutreffendem Hinweis auf die Entstehungsgeschichte).

2. Ob die Höhe der Terminsgebühr Nr. 4108 VV RVG zutreffend festgesetzt worden ist, lässt sich nicht beurteilen, da der Beschluss die Höhe der Terminsgebühr nicht mitteilt und auch zu den übrigen konkreten Umstände der Gebührenbemessung schweigt. Die allgemeinen Ausführungen sind allerdings zutreffend.
3. Und schließlich ist die vom LG getroffene Kostenentscheidung ebenfalls nicht zu beanstanden. Der Angeklagte kann auf deren Grundlage unter Anwendung der Differenztheorie nun seine im Kostenbeschwerdeverfahren entstandenen Gebühren geltend machen. Grundlage ist Vorbem. 4 Abs. 5 Nr. 1 VV RVG, der auf Teil 3 VV RVG verweist. Dort ist dann die Nr. 3500 VV RVG einschlägig. Diese berechnet sich nach dem Gegenstandswert. Der ist in Höhe der streitigen Gebühren anzusetzen (zu allem Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG, Vorbem. 4 VV Rn 118 ff.).