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Anwalt I: Rückwirkende Bestellung des Pflichti, oder: Die Waage neigt sich zur „Zulässigkeit“

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Und heute gibt es dann einen Tag mit „Pflichti-Entscheidungen“, aber nicht nur. Das letzte Posting betrifft eine Entscheidung vom BFH, die aber auch den Rechtsanwalt betrifft, daher der Oberbegriff „Anwalt“.

Ich beginne mit den Entscheidungen, die mir in der letzten Zeit zur rückwirkenden Bestellung zugegangen sind. Das sind alles „positive“ Entscheidungen, also solche, die die rückwirkende Bestellung als zulässig angesehen haben. M.E. dreht sich das Blatt und wir haben zunehmend Gerichte, die dieser Auffassung sind. Hier kommen dann:

    1. Liegt es allein an von dem Beschuldigten nicht zu beeinflussenden Abläufen, ob die Entscheidung über seinen Antrag – hier: Bestellung eines Pflichtverteidigers – vor dem Abschluss des Verfahrens ergeht, ist ihm faktisch die Möglichkeit der Herbeiführung einer Entscheidung im gerichtlichen Beschwerdeverfahren verwehrt, mit der Folge, dass er auch noch nach Abschluss des Verfahrens Beschwerde gegen die Ablehnung seines Antrags, ihm einen Pflichtverteidiger zu bestellen, einlegen kann.
    2. Mit der Reform der §§ 141, 142 StPO durch das Gesetz zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 (BT-Drucks. 19/13829, S. 36 ff.) und aufgrund der dieser Gesetzesänderung zugrundeliegenden RL 2016/1919/EU ist die Annahme eines Verbotes der rückwirkenden Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht mehr begründbar.
    3. An der bisher vertretenen anderen Auffassung hält die Kammer nicht mehr fest.
    1. Liegt es allein an von dem Beschuldigten nicht zu beeinflussenden Abläufen, ob die Entscheidung über seinen Antrag – hier: Bestellung eines Pflichtverteidigers – vor dem Abschluss des Verfahrens ergeht, ist ihm faktisch die Möglichkeit der Herbeiführung einer Entscheidung im gerichtlichen Beschwerdeverfahren verwehrt, mit der Folge, dass er auch noch nach Abschluss des Verfahrens Beschwerde gegen die Ablehnung seines Antrags, ihm einen Pflichtverteidiger zu bestellen, einlegen kann.
    2. Mit der Reform der §§ 141, 142 StPO durch das Gesetz zur Neuregelung der notwendigen Vertei­digung vom 10.12.2019 (BT-Drucks. 19/13829, S. 36 ff.) und aufgrund der dieser Gesetzesände­rung zugrundeliegenden RL 2016/1919/EU ist die Annahme eines Verbotes der rückwirkenden Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht mehr begründbar.
    3. Hat der der Betroffene (s)einen Antrag rechtzeitig gestellt und alle formalen Voraussetzungen für dessen Bewilligung erfüllt sind, soll es ihm und indirekt dem von ihm beauftragten Anwalt finanziell nicht zum Nachteil gereichen, dass aus von ihnen nicht zu vertretenden und einzig im Verantwortungsbereich der Justiz liegenden Umständen mit einer Entscheidung hierüber bis zum Abschluss der Instanz zugewartet worden ist.
    4. Entgegenstehende Rechtsprechung wird aufgegeben.
    1. § 68a Abs. 1 Satz 1 JGG bestimmt in den Fällen der notwendigen Verteidigung lediglich den Zeitpunkt, zu welchem dem Jugendlichen oder Heranwachsenden „spätestens“ ein Pflichtverteidiger zu bestellen ist, nämlich bevor eine Vernehmung des Jugendlichen oder Heranwachsenden oder eine Gegenüberstellung mit ihm durchgeführt wird. Aus der Formulierung „spätestens“ folgt, dass bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 68 JGG dem Beschuldigten auch bereits vor dem in § 68a Abs. 1 Satz 1 JGG genannten Zeitpunkt ein Pflichtverteidiger bestellt werden kann.
    2. Unter besonderen Umständen ist die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers möglich, etwa wenn der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig vor Abschluss bzw. Einstellung des Verfahrens gestellt wurde, die Voraussetzungen für eine Beiordnung vorlagen und die Entscheidung allein aufgrund justizinterner Vorgänge unterblieben ist, auf die der (ehemalige) Beschuldigte keinen Einfluss hatte, insbesondere die Entscheidung über den Beiordnungsantrag seitens der Justiz wesentlich verzögert bzw. das in § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO statuierte Erfordernis der Unverzüglichkeit der Bestellung nicht beachtet wurde.
    1. Die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers nach Abschluss des Verfahrens ist zulässig, wenn trotz des Vorliegens der Voraussetzungen der §§ 140, 141 StPO über den rechtzeitig gestellten Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung aus justizinternen Gründen nicht entschieden worden ist oder die Entscheidung eine wesentliche Verzögerung erfahren hat. Hiergegen lässt sich insbesondere nicht einwenden, dass eine solche Beiordnung allein noch dem Kosteninteresse des Beschuldigten und seines Verteidigers dient.
    2. Der Anwendungsbereich des § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO Vorschrift beschränkt sich auf Fälle der Bestellung eines Pflichtverteidigers von Amts wegen nach § 141 Abs. 2 StPO.
    1. Eine rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung ist vorzunehmen, wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, ein Antrag auf Beiordnung rechtzeitig gestellt und das Erfordernis der Unverzüglichkeit der Bestellung nicht beachtet wurde.
    2. Eine entsprechende Anwendung des § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO auch auf Fälle einer ausdrücklichen Antragsstellung nach § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO kommt nicht in Betracht.

StPO II: Prüfung einer Durchsuchungsmaßnahme, oder: Erkenntnisse aus anderen Verfahren reichen nicht

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Bei der zweiten Entscheidung handelt es sich um den LG Stuttgart, Beschl. v. 27.05.2024 – 7 Qs 20/24, ergangen in einem Verfahren wegen Verstoßes gegen das BtmG. Es geht um die nachträgliche Überprüfung einer Duchsuchungsmaßnahme.

Das LG hat die Rechtsmäßigkeit der Durchsuchung, da es nicht prüfen kann, ob ein Anfangsverdacht gegeben war, verneint:

„b) Jedoch ist dem Beschwerdegericht die Überprüfung eines für die Anordnung einer Durchsuchung erforderlichen Anfangsverdachts gegen den Beschuldigten nicht möglich.

(1) Für die Zulässigkeit einer, regelmäßig in einem frühen Stadium der Ermittlungen in Betracht kommenden, Durchsuchung genügt ein über bloße Vermutungen hinausreichender, auf bestimmte tatsächliche Anhaltspunkte gestützter konkreter Verdacht, dass eine Straftat begangen worden ist und der Beschuldigte als Täter oder Teilnehmer dieser Tat in Betracht kommt (sog. Anfangs-verdacht; vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Auflage, § 152 Rn. 4). Eines hinreichenden oder gar dringenden Tatverdachts bedarf es – unbeschadet der Frage der Verhältnismäßigkeit – nicht.

(2) Prüfungsmaßstab bleibt im Beschwerdeverfahren die Sach- und Rechtslage zur Zeit des Erlasses des Durchsuchungsbeschlusses (vgl. Hauschild in MüKo zur StPO, 2. Auflage, § 105 Rn. 41c; BVerfG, Beschluss vom 10. September 2010 – 2 BvR 2561/08, juris). Bei der Überprüfung der angefochtenen Entscheidung war daher ausschließlich der Inhalt der dem Ermittlungsrichter bei Antragstellung vorgelegten Papierakte zu berücksichtigen, wohingegen die von der Staatsanwaltschaft erst im Rahmen des Beschwerdeverfahrens nachgereichten Stehordner II und III aus dem Verfahren 226 Js 70083/23 bei der Überprüfung keine Berücksichtigung finden konnten.

Voraussetzung für eine eigenverantwortliche Prüfung durch den Ermittlungsrichter und später durch das Beschwerdegericht ist die Vorlage eines Aktenwerks, aus dem der Gang des Verfahrens ohne Abstriche nachvollziehbar ist (vgl. Henrichs/Weingast in KK-StPO, 9. Auflage, § 105 Rn. 2 mwN). Die Ermittlungsbehörde muss die Einhaltung des Grundsatzes der Aktenwahrheit und -vollständigkeit gewährleisten (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Auflage, § 105 Rn. 1d). Schließt die Staatsanwaltschaft ihrem Antrag auf Anordnung einer gerichtlichen Untersuchungshandlung nur ausgewählte Teile der Ermittlungsakte an, so erklärt sie hierdurch stets zugleich, dass diese Auswahl nach ihrer eigenverantwortlichen Prüfung sämtliche bis zum Zeitpunkt der Antragstellung angefallenen maßgeblichen be- und entlastenden Ermittlungsergebnisse enthält (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Dezember 2020 – 2 BGs 408/20, juris).

Gemessen hieran erweisen sich die von der Staatsanwaltschaft zum Zeitpunkt des Erlasses des Durchsuchungsbeschlusses vorgelegten Aktenteile als unzureichend, um die gebotene eigenverantwortliche gerichtliche Überprüfung der gesetzlichen Anordnungsvoraussetzungen für die Durchsuchungsmaßnahme durch die Beschwerdekammer zu gewährleisten.

Die dem Amtsgericht Stuttgart vorgelegte Akte bestand lediglich aus der Durchsuchungsanregung der Kriminalpolizeidirektion Böblingen vom 16. Februar 2024, zehn Inhaltsprotokollen aus der Telekommunikationsüberwachung des Anschlusses pp. im Zeitraum 17. November 2023 bis 12. Januar 2024, den Beschlüssen des Amtsgerichts Stuttgart – Ermittlungsrichter – vom 12. Oktober 2023, 17. November 2023, 27. November 2023, 11. Januar 2024 und 7. Februar 2024, die auf Ermittlungserkenntnisse im Verfahren 226 Js 70083/23 zwar Bezug nehmen, eine eigenverantwortliche Prüfung der Ermittlungserkenntnisse jedoch nicht gewährleisten sowie dem Antrag der Staatsanwaltschaft auf Anordnung der Durchsuchung vom 22. Februar 2024. Sachlich zureichende Gründe für die Anordnung der Durchsuchung lassen sich der vorgelegten Akte nicht entnehmen. Zwar hat der zuständige Ermittlungsrichter in seiner Nichtabhilfeentschei-dung ausgeführt, dass ihm zum Entscheidungszeitpunkt auch die vollständige Akte aus dem ursprünglichen Verfahren 226 Js 70083/23 bekannt gewesen sei, da er die in diesem Verfahren ergangenen Beschlüsse vom 10. Oktober 2023, 27. November 2023, 11. Januar 2024 und 7. Februar 2024 erlassen habe, sodass eine eigenverantwortliche gerichtliche Überprüfung aufgrund der Aktenkenntnis gewährleistet gewesen sei. Auf die in einem separaten Ermittlungsverfahren geführten Akten, die ihm zum Zeitpunkt des Erlasses des Durchsuchungsbeschlusses nicht vor-gelegen haben, hätte das Amtsgericht seine Entscheidung jedoch nicht stützen dürfen, da weder die Verteidigung im Rahmen der Akteneinsicht noch das Beschwerdegericht im Beschwerdeverfahren Kenntnis von diesen Aktenteilen nehmen kann, was der Kontrollfunktion des Richtervorbehalts und dem Grundsatz der effektiven Verteidigung entgegensteht. Darüber hinaus richtet sich das Verfahren nach seiner Abtrennung nunmehr gegen den Beschuldigten alleine, dem zudem ein anderer Sachverhalt zur Last gelegt wird. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass bereits der Ermittlungsrichter bei seiner eigenverantwortlichen Prüfung andere – ihm nicht mehr im Gedächtnis befindliche – Erwägungen hätte einbeziehen müssen.“

StPO I: Encrochat-/ANOM-/SkyECC-Daten und KCanG, oder: OLG Stuttgart/LG Saarbrücken ggf. unverwertbar

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Heute gibt es hier dann ein StPO-Tag, und zwar mit einem zu EncroChat bzw. zur Frage der Verwertbarkeit von Encrochat-/ANOM-/SkyECC-Chats-Daten nach Inkrafttreten des KCanG, sowie einem zur Durchsuchung und dann als letztes etwas zum letzten Wort..

Ich beginne mit den Encrochat-/ANOM-/SkyECC-Chats-Daten Dazu stelle ich zwei Entscheidungen vor, allerdings nur jeweils kurz mit den entscheidenden Passagen der Entscheidungen, denn die allgemeinen Fragen der Vewertung dieser Daten waren ja schon oft genug Gegenstand der Berichterstattung.

Bei der ersten Entscheidung handelt es sich um den OLG Stuttgart, Beschl. v. 22.04.2024 – H 4 Ws 123/24. Ergangen ist die Entscheidung in einem Haftprüfungsverfahren. Gegenstand des Verfahrens sind Vorwürfe des Verstoßes gegen das BtMG. Das OLG hat wegen eines Teils der Vorwürfe den dringen Tatverdacht auf der Grundlage von ANOM-Daten bejaht, wegen eines anderen Teils führt es aus:

„Es kann deshalb dahinstehen und bleibt dem Ergebnis der Hauptverhandlung vorbehalten, ob ein dringender Tatverdacht auch bezüglich der im Haftbefehl unter Ziff. I.1, 3 und 5 bezeichneten Tatvorwürfe gegeben ist. Für die Prüfung der Verwertbarkeit der aufgrund des ANOM-Chatverkehrs gewonnenen Daten ist auf den Erkenntnisstand im Zeitpunkt der Verwertung der Beweisergebnisse abzustellen; es kommt mithin insoweit nicht auf die Rekonstruktion der Verdachtslage im (hypothetischen) Anordnungszeitpunkt, sondern auf die Informationslage im Verwendungszeitpunkt an (BGH a.a.O., Rn. 70). Nach vorläufiger Wertung liegt eine Katalogtat im Sinne des § 100b Abs. 2 Nr. 5a StPO in der seit dem 1. April 2024 gültigen Fassung, der nur Straftaten gemäß § 34 Abs. 4 Nr. 1, Nr. 3 oder Nr. 4 Konsumcannabisgesetz (KCanG) erfasst, nicht vor. Eine Verwendung der zulässig erlangten Beweise als Zufallserkenntnisse zum Nachweis von mit Katalogtaten in Zusammenhang stehenden Nichtkatalogtaten ist nur zulässig, wenn zwischen diesen Tateinheit im Sinne des § 52 Abs. 1 StGB bzw. Tatidentität im Sinne des § 264 StPO gegeben ist (BGH, Urteil vom 14. August 2009 – 3 StR 552/08, juris Rn. 27 unter Verweis auf BGH, Urteil vom 30. August 1978 – 3 StR 255/78, NJW 1979, 990; BGH, Urteil vom 22. Dezember 1981 – 5 StR 540/81, NStZ 1982, 125; BGH, Beschluss vom 18. März 1998 – 5 StR 693/97, juris Rn. 7 f.).“

Und dann der LG Saarbrücken, Beschl. v. 03.06.2024 – 4 KLs 28 Js 140/23 (16/24). Ergangen ist der Beschluss in einen Verfahren wegen BtM-Handels. Die Strafkammer hat mit dem Beschluss einen Antrag der Staatsanwaltschaft, auf Verlesung von in einem Beweisantrag näher bezeichneten SkyECC-Chats abgelehnt (und den Angeklagten anschließend frei gesprochen:

„So liegt der Fall hier: Die Anklageschrift bezieht sich lediglich auf Taten des Handeltreibens mit Cannabis. Das Handeltreiben mit Cannabis ist nach der am 1. April 2024 in Kraft getretenen gesetzlichen Neuregelung durch das Gesetz zum kontrollierten Umgang mit Cannabis und zur Änderung weiterer Vorschriften (Cannabisgesetz — CanG) nicht mehr als Katalogtat des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge nach § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG einzuordnen, sondern als Handeltreiben mit Cannabis in den besonders schweren Fällen der Gewerbsmäßigkeit und der nicht geringen Menge nach § 34 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 3 Nr. 1 und 4 KCanG. Dies stellt jedoch keine Katalogtat des § 100b Abs 2 StPO dar, da lediglich die in § 34 Abs. 4 Nr. 1, 3 und 4 KCanG aufgeführten Taten in die Aufzählung der Katalogtaten aufgenommen wurden (vgl. § 100b Abs. 2 Nr. 5a StPO; so auch KG Berlin, Beschluss v. 30.04.2024, 5 Ws 67/24).“

VR III: Trunkenheitsfahrt mit E-Scooter (in Berlin), oder: Keine Entziehung der Fahrerlaubnis bei 2,02 o/oo?

entnommen wikimedia.org – gemeinfrei

Und dann zum Tagesschluss noch etwas vom AG Tiergarten, und zwar eine Trunkenheitsfahrt mit einem E-Scotter. Ist ja an sich nichts Besonderes, hier haben wir es aber mit einer recht großzügigen Entscheidung des AG zur Entziehung der Fahrerlaubnis zu tun.

In dem AG Tiergarten, Urt. v. 25.04.2024 – 318 Cs 31/24 – stellt das AG eine Trunkenheitsfahrt des nicht vorbelasteten Angeklagten abends um 22.27 Uhr mit einem Blutalkoholwert zur Tatzeit von 2,02 Promille. Der Angeklagte fuhr infolge der alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit nicht in gerader Fahrlinie, sondern in Schlangenlinien. Das AG führt zur Strafzumessung und zur Entziehung der Fahreralubnis aus:

„Bei der Strafzumessung ist das Gericht vom gesetzlichen Rahmen des § 316 Abs. 1 und 2 StGB ausgegangen, welcher Geldstrafe oder Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr vorsieht. Innerhalb des so ermittelten Strafrahmens war bei der konkreten Strafzumessung gemäß § 46 StGB zugunsten des Angeklagten zu werten, dass er sich hinsichtlich seines Fehlverhaltens einsichtig und reuig zeigte und seit dem Tattag – nachgewiesen durch Laboruntersuchungen – keinen Alkohol mehr konsumiert. Das zum Tatzeitpunkt geführte Kraftfahrzeug war ein Elektrokleinstfahrzeug, von dem für andere Verkehrsteilnehmer im Vergleich z.B. mit einem Pkw deutlich geringere Gefahren ausgehen. Zudem ist der Angeklagte bisher strafrechtlich unvorbelastet gewesen.

Zu seinen Lasten war indes der mit 2,02 Promille Alkohol im Vollblut nicht nur unerheblich über dem Grenzwert der Rechtsprechung zur absoluten Fahruntauglichkeit von 1,1 Promille Alkohol im Vollblut liegende Grad der Alkoholisierung zu werten, der deutlich über das für den Tatbestand erforderliche Mindestmaß hinausgeht. Nach Abwägung aller für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände und Strafzumessungserwägungen hat das Gericht unter nochmaliger zusammenfassender Würdigung auf eine Geldstrafe von 30 (dreißig) Tagessätzen zu je 30,00 (dreißig) Euro erkannt, die ausreichend, jedoch auch zwingend notwendig erscheint, um das begangene Unrecht tat- und schuldangemessen zu bestrafen und allen Strafzwecken zu genügen.

Zwar liegt durch die Tat ein Regelfall für die Annahme der Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen vor (§ 69 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 StGB). Gleichwohl konnte aufgrund der Gesamtumstände, der zuvor genannten Strafzumessungsgesichtspunkte und des vom Gericht von dem Angeklagten im Termin gewonnenen Eindrucks von der Entziehung der Fahrerlaubnis gemäß § 69 StGB abgesehen werden und es genügte die Anordnung eines Fahrverbotes gemäß § 44 Abs. 1 StGB. Der Angeklagte hat die Straftat im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeuges begangen. Das Gericht hat es unter Berücksichtigung der Persönlichkeit des Angeklagten, der Tatumstände sowie unter Berücksichtigung der Strafzumessungsgesichtspunkte“— insbesondere dessen, dass der Angeklagte sich während des gesamten Verfahrens sehr kooperativ zeigte und erstmalig vor Gericht stand — auch unter Berücksichtigung des Nachtatverhaltens des Angeklagten (dokumentierter Verzicht auf den Konsum von Alkohol) als erforderlich aber auch ausreichend erachtet, ein Fahrverbot gemäß § 44 Abs. 1 StGB von vier Monaten anzuordnen.“

Nun ja. M.E. Glück gehabt. Das Urteil ist rechtskräftig. Wäre die StA in die Revision gegangen, hätte das m.E. beim KG nicht „gehalten“. Allein schon wegen der der 2,02 Promille.

VR II: Vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis, oder: Prüfungsmaßstab zwischen I. und II. Instanz

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Die zweite Entscheidung, der LG Hechingen, Beschl. v. 08.03.2024 – 3 Qs 13/24 – befasst sich noch einmal mit der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 111a StPO). Zugrunde liegt folgender Sachverhalt:

Das AG hat den Angeklagten wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort zu einer Geldstrafe verurteilkt und ein Fahrverbot von 6 Monaten verhängt. Zugleich wurde mit Beschluss vom selben Tag die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis aufgehoben.

Der Angeklagte war mit seinem PKW Sportsvan beim Ausparken mit dem PKW VW Golf des Geschädigten kollidiet. Er hatte dies bemerkt, stieg dann aus und begutachtete das Fahrzeug des Geschädigten und wischte mit einem Tuch über die Lackstelle. Dabei erkannte und bemerkte er den Unfall, insbesondere verschiedene Kratzer im Bereich von mehreren Zentimetern im Heckbereich des Fahrzeugs des Geschädigten. Über die genaue Schadenshöhe machte er sich keinerlei Gedanken. Er nahm billigend in Kauf, dass ein nicht völlig unbedeutender Fremdschaden entstanden war und verließ gleichwohl die Unfallstelle, ohne die erforderlichen Feststellungen zu ermöglichen. Am Fahrzeug des Geschädigten entstand ein Sachschaden i.H.v. 1.972,61 EUR netto.

Die Fahrerlaubnis wurde dem Angeklagten zunächst vorläufig entzogen. Das AG-Urteil ist nicht rechtskräftig.

Die StA hat gegen den die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis aufhebenden Beschluss w Beschwerde eingelegt. Zur Begründung hat sie darauf verwiesen, dass die Voraussetzungen des § 111a StPO i.V.m. §§ 69, 69a StGB vorliegen. Zusätzlich zu dem Netto-Reparaturschaden i.H.v. 1.972,61 EUR sei die Wertminderung als weiterer Schaden mit mindestens 300,00 EUR sowie Sachverständigenkosten in bislang unbekannter Höhe hinzuzurechnen, sodass die von der Rechtsprechung festgelegte Grenze für einen bedeutenden Schaden i.S.d. § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB in Höhe von 2.000 EUR erheblich überschritten sei.

Die Beschwerde hatte keinen Erfolg:

„….. Gemäß § 111a Abs. 2 StPO ist die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis aufzuheben, wenn ihr Grund weggefallen ist oder das Gericht im Urteil die Fahrerlaubnis nicht entzieht. Letzteres war hier der Fall und ist insbesondere – wie hier – bei noch nicht rechtskräftigen Entscheidungen zwingend, auch wenn die Entscheidung zu Ungunsten des Betroffenen angefochten ist (BeckOK StPO/Huber, 50. Ed. 1. Januar 2024, StPO § 111a Rn. 10; BVerfG, Beschluss vom 24. Mai 1994 – 2 BvR 862/94 in NJW 1995, 124).

Im Stadium zwischen erster und zweiter Instanz sind dabei die Tatsachenfeststellungen und Wertungen im erstinstanzlichen Urteil für die vorliegend zu treffende Beschwerdeentscheidung maßgebend und vom Beschwerdegericht grundsätzlich hinzunehmen. Liegt zum Beschwerdezeitpunkt bereits ein erstinstanzliches Urteil vor, ist das Beschwerdegericht bei seiner Entscheidung wegen der größeren Sachnähe und der besseren Erkenntnismöglichkeit des Erstgerichts regelmäßig an dessen Feststellungen zur charakterlichen Eignung gebunden (vgl. LG Zweibrücken NZV 2012, 499; Hauck in Löwe-Rosenberg, 27. Auflage 2019, § 111a StPO Rn. 19). Insoweit räumt das Gesetz in § 111a Abs. 2 StPO der im Urteilsverfahren gewonnenen Erkenntnis die Vermutung der größeren Richtigkeit ein (Hauck in Löwe-Rosenberg, 27. Auflage 2019, § 111a StPO Rn. 19). Bis zum Erlass des Berufungsurteils darf die Frage der Geeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen nur bei neu bekannt gewordenen Tatsachen oder Beweismitteln anders als im erstinstanzlichen Urteil gewertet werden (Köhler in Meyer-Goßner/Schmitt, 66. Auflage 2023, § 111a Rn. 19; OLG Stuttgart 10. April 2001 – 4 Ws 80/2001, 4 Ws 80/01 – juris).

Unter Berücksichtigung dieses Prüfungsmaßstabs handelt es sich bei der aus Sicht der Staats-anwaltschaft fehlerhaften Schadensberechnung nicht um eine in diesem Sinne neue Tatsache. Ob die dem Netto-Reparaturschaden hinzu zu addierende Wertminderung in Höhe von 300,00 € sowie Sachverständigenkosten in bislang nicht bekannter Höhe geeignet sind, eine potentiell andere Entscheidung zu rechtfertigen, ist Aufgabe der Berufungsinstanz und nicht durch das Beschwerdegericht zu klären.

Allem nach ist zumindest nach den erstinstanzlichen Feststellungen nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 Abs. 1 Nr. 3 StGB zu rechnen.“