Archiv für den Monat: August 2021

Ich habe da mal eine Frage: Vorverfahrensgebühr mit oder ohne Haftzuschlag?

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Und dann noch die Gebührenfrage, die mal wieder auf der FB-Gruppe „Strafverteidiger“ stammt:

„Liebe Freunde des Gebührenrechts,

die Rechnung zahlt der Mandant und konkret habe ich nicht vor, ihn zu überfordern.

Dennoch interessante Frage:

Mandat begann damit, dass beim Mandanten die Wohnung aufgrund Durchsuchungsbeschlusses durchsucht wurde. Als ich ankam, saß der Mandant in Handschellen auf seinem Sofa. Ich sagte „muss das sein?“ POL sagte: „der läuft sonst weg“, ich sagte „der läuft nicht weg und selbst wenn ist das nach derzeitigem Stand der Dinge egal“, daraufhin wurden ihm die Handfesseln abgenommen.

Kann ich die Gebühren für das Vorverfahren mit Haftzuschlag abrechnen?

Pflichtverteidiger (nur) für den Haftprüfungstermin, oder: Gebühren wie ein Verteidiger

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Bei der zweiten Entscheidung handelt es sich um den LG Magdeburg, Beschl. v. 16.07.2021 – 21 Qs 53/21 und 54/21. Ergangen ist der Beschluss, den mir der Kollege Reuleke aus Wernigerode geschickt hat, in einem Verfahren wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge mit Waffen u.a. In dem Verfahren spielt auch die EncroChat-Problamtik eine Rolle. Die interessiert mich aber weniger, da die Problematik für mich derzeit eh ein „alter Hut“ ist bzw. eine Problematik, in der sich bis wir eine BGH-Entscheidung und ggf. mehr vorliegen, nichts bewegt.

Mir geht es hier heute um die gebührenrechtliche Fragestellung, die in dem Beschluss (auch) angesprochen worden ist, und zwar hinsichtlich von Pflichtverteidigergebühren. Insoweit ist aus dem (umfangreichen) Sachverhalt Folgendes von Bedeutung:

Der Verteidiger G. des Beschuldigten konnte in dem auf seinen Antrag anberaumten Termin zur mündlichen Verhandlung über den Erlass eines von der Staatsanwaltschaft beantragten Haftbefehls wegen „Corona-Quarantäne“ nicht erscheinen. Das AG Wernigerode fasste daher im Rahmen des Termins, an dem ein Rechtsanwalt W. teilnahm, einen Beschluss des folgenden Inhalts: „Rechtsanwalt W. wird dem Beschuldigten für den heutigen Termin als Pflichtverteidiger beigeordnet.“ Das AG hat gegen den Beschuldigten dann den Haftbefehl erlassen.

Rechtsanwalt W. hat die Festsetzung der Pflichtverteidigergebühren beantragt. Er hat u.a. Grundgebühr, Verfahrensgebühr und Terminsgebühr geltend gemacht. Das AG hat nur die Terminsgebühr festgesetzt. Die dagegen gerichtete Erinnerung hatte beim AG Erfolg. Das AG hat die Pflichtverteidigergebühren antragsgemäß festgesetzt. Die dagegen gerichtete Beschwerde der Landeskasse hatte keinen Erfolg:

„Das Amtsgericht hat dem Kostenfestsetzungsantrag von Rechtsanwalt W. zu Recht statt-gegeben.

Mit Beschluss vom 23.03.2021 ist Rechtsanwalt W. dem Beschuldigten für den Termin zur mündlichen Verhandlung und Haftbefehlsverkündung an diesem Tage als Pflichtverteidiger bei-geordnet worden.

Die auf diesen Termin beschränkte Beiordnung war zwar — nach dem seit 13.12.2019 geltenden Recht — rechtswidrig, weil §§ 140 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 143 StPO eine Pflichtverteidigerbestellung für das gesamte Verfahren vorsehen, die mit rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens oder durch Aufhebung mit gesonderten Beschluss endet. Dabei sieht § 143 Abs. 2 Satz 4 StPO ausdrücklich für die Fälle des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO vor, dass eine Aufhebung erfolgen soll, falls der Beschuldigte auf freien Fuß gesetzt wird — was hier nicht der Fall war. Auch war Rechtsanwalt W. nicht lediglich Terminsvertreter des verhinderten Rechtsanwalts G., was eine zeitlich befristete Bestellung gerechtfertigt hätte. Denn Rechtsanwalt G. war in der Sache noch nicht tätig und auch nicht beigeordnet worden, so dass der Beschuldigte bei dem Verhandlungstermin am 23.03.2021 noch keinen Verteidiger hatte.

Jedoch ist der in Bezug auf die zeitliche Begrenzung der Beiordnung rechtswidrige Beschluss vom 23.03.2021 nicht mit der sofortigen Beschwerde gemäß § 142 Abs. 7 StPO angefochten worden, so dass er mit seinem rechtswidrigen Inhalt Bestand hatte.

Dies ändert jedoch nichts daran, dass Rechtsanwalt W. die Gebühren eines Pflichtverteidigers vollumfänglich geltend machen kann. Denn auch der Pflichtverteidiger, der nur für einen Tag bzw. Termin bestellt ist, ist für diesen begrenzten Zeitraum umfassend mit der Wahrnehmung der Verteidigerrechte und -pflichten betraut. Daher kommt auch angesichts der zeitlichen Begrenzung der Beiordnung eine gebührenrechtliche Einstufung der Tätigkeit als Einzeltätigkeit nach Nr. 4102 VV RVG nicht in Betracht (vgl. LG Aachen, Beschluss vom 20.10.2020, Az. 60 Qs 47/20 rn.w.N. für den Terminsvertreter <juris>).“

Die Entscheidung ist m.E. zutreffend. Das LG setzt mit der Entscheidung seine Rechtsprechung zum alten Recht der Pflichtverteidigung fort- Danach hat das LG hat schon zum Rechtszustand vor Inkrafttreten des „Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung“ v. 10.12.2019 (BGBl I, S. 2128) die zutreffende Auffassung vertreten, dass der für einen Haftprüfungstermin gemäß § 141 Abs. 3 Satz 4 StPO a.F. anstelle des Pflichtverteidigers beigeordnete Rechtsanwalt nicht nur Terminsvertreter i.e.S. ist, sondern Vollverteidiger und daher nicht nur die Terminsgebühr sondern auch Grundgebühr und Verfahrensgebühr zustehen (unzutreffend a.A. OLG Celle RVGreport 2019, 17 = StraFo 2018, 534 = JurBüro 2018, 580; LG Leipzig, RVGreport 2019, 338 = StraFo 2019, 439). Das gilt für das neue Recht nach wie vor bzw. erst recht. Denn nach § 141 Abs. 1 StPO wird dem Beschuldigten ein „Pflichtverteidiger bestellt“. Daher ist schon nach dem Wortlaut der Regelung keine Anwendung für Teil 4 Abschnitt 3 VV RVG – Einzeltätigkeit. Das hat so auch das LG Aachen entschieden. Denn dort ist der Rechtsanwalt ebenfalls als Pflichtverteidiger bestellt worden und war – anders als das LG Magdeburg meint – nicht nur „Terminsvertreter“.

Der Beistand im selbständigen Einziehungsverfahren, oder: Grund-, Verfahrens- und Terminsgebühren?

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Heute stelle ich am RVG-Tag eine AG-und eine LG-Entscheidung vor, beide mit recht interessanten Aussagen. Zunächst der AG Bremen, Beschl. v. 04.03.2021 – 87 Ds 310 Js 53638/14 (29/18).

Der Beschluss hat leider – als KFB – keinen Sachverhalt. Den kann man nur erahnen. Ich habe mir den Sachverhalt aber anhand eines in der Sacher ergangenen Beschlusses, der bei juris eingestellt ist, besorgt. Sachverhalt ist danach etwa wie folgt:

Mit Beschluss vom 19.6.2014 ordnete das AG Bremen im Ermittlungsverfahren 310 Js 24210/14 wegen des Verdachts des schweren Bandendiebstahls die Durchsuchung der Wohnung des dortigen Beschuldigten T.T. D., des Sohnes der Betroffenen zu 1. und 2., in der M. 42 in Bremen an. Im Haus M. 42 wohnten zu diesem Zeitpunkt neben T.T. D. und weiteren Familienangehörigen auch dessen Eltern, die Betroffenen zu 1. und 2. Bei der am 9.9.2014 durchgeführten Durchsuchung wurden neben einer Schusswaffe und weiteren Geldbeträgen, die nicht weiter verfahrensrelevant sind, auch 35.000,– EUR in einem früheren Kinderzimmer unter einer Matratze gefunden und sichergestellt; außerdem wurden in der Wohnung diverse originalverpackte Waren, u.a. größere Mengen an Zigarren, Nassrasierern, Brillen, Kaffee, Kleidungsstücken und Whisky, sichergestellt.

Die Staatsanwaltschaft leitete daraufhin unmittelbar nach der Durchsuchung gegen den Betroffenen zu 1., teilweise auch gegen die Betroffene zu 2., Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Verstoßes gegen das Waffengesetz (310 Js 53638/14), wegen Betruges gegenüber Sozialleistungsträgern (310 Js 53648/14) und wegen gewerbsmäßiger Hehlerei (310 Js 53668/14) ein, wobei die beiden letzteren Verfahren später als Sonderakten zu 310 Js 53638/14 verbunden wurden. Mit Schreiben des Verteidigers des Betroffenen zu 1. vom 24.10.2016 wurde erstmals vorgetragen, der Geldbetrag von 35.000,– EUR gehöre dem Betroffenen zu 3., dem Neffen der Betroffenen zu 1. und 2. Dieser habe das Geld aus seinen Einkünften angespart und zum Schutz vor Diebstahl im Haus seiner Verwandten verwahrt.

Nach weiterem Schriftverkehr leitete die Staatsanwaltschaft erst am 12.07.2017 ein weiteres Ermittlungsverfahren gegen die Betroffenen zu 1. bis 3. wegen Verdachts der Geldwäsche ein (310 Js 44968/17), das sofort als Sonderakte 3 zu 310 Js 53638/14 verbunden wurde; zugleich wurde insoweit die Gewährung rechtlichen Gehörs angeordnet. Mit weiterer Verfügung vom 24.08.2017 veranlasste die Staatsanwaltschaft die Umbuchung des sichergestellten Betrages von 35.000,– EUR aus 310 Js 53638/14 zu 310 Js 310 Js 44968/17. Bereits mit Verfügung vom 31.8.2017 (Bl. 168 Bd. I d.A.) stellte die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren insgesamt und gegen alle Beschuldigten gemäß § 170 Abs. 2 StPO ein, darunter auch wegen des Verdachts der Geldwäsche, wobei sie ausführte, eine Vortat könne insoweit nicht konkretisiert werden.

Mit Antrag vom 8.2.2018 beantragte die Staatsanwaltschaft gemäß § 76 a Abs. 4 StGB gegenüber den drei Betroffenen die selbständige Einziehung des sichergestellten Betrages von 35.000,– EUR, da die Betroffenen der Geldwäsche verdächtig seien. Mit weiterem Antrag vom 16.1.2019 beantragte die Staatsanwaltschaft zudem gegen die Betroffenen zu 1. und 2. die Einziehung diverser weiterer im Haus M. 42 beschlagnahmter Gegenstände. Nachdem zwischenzeitlich das LG Bremen mit Beschluss vom 12.3.2019 die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen T.T. D. wegen schweren Bandendiebstahls mangels hinreichenden Tatverdachts rechtskräftig abgelehnt hatte, ließ das AG Bremen mit Beschluss vom 2.5.2019 die Anträge der Staatsanwaltschaft auf selbständige Einziehung gemäß § 435 Abs. 3 i.V.m. § 203 StPO zu. Die mündliche Verhandlung vom 25.11.2019 wurde nach eingehender Erörterung der Sach- und Rechtslage im Hinblick auf sich aus der Entscheidung des BGH vom 18.9.2019 (1 StR 320/18) ergebende Rechtsfragen ausgesetzt.

Mit Schreiben ihrer Verteidiger verzichteten die Betroffenen auf die Herausgabe sämtlicher im Antrag der Staatsanwaltschaft vom 16.1.2019 bezeichneten Gegenstände. Die Staatsanwaltschaft stimmte daraufhin einem Absehen von der Einziehung gemäß § 421 Abs. 1 Nr. 3 StPO bzgl. der im Antrag vom 16.1.2019 bezeichneten Gegenstände zu. Das AG hat im Beschluss vom 25.3.2020 von der Einziehung insoweit abgesehen und den Antrag der Staatsanwaltschaft vom 8.2.2018 auf Einziehung des sichergestellten Geldbetrages von 35.000,– EUR zurückgewiesen. Die Kosten des Verfahrens sowie die notwendigen Auslagen der Betroffenen sind der Staatskasse auferlegt worden.

Der Verteidiger des Betroffenen zu 3) hat gegenüber der Staatskasse für seine Tätigkeit im Verfahren der selbständigen Einziehung seine Wahlanwaltgebühren geltend gemacht. Er hat eine Grundgebühr Nr. 4100 VV, eine Verfahrensgebühr Nr. 4104 VV RVG, eine Verfahrensgebühr Nr. 4106 VV RVG und eine Terminsgebühr Nr. 4108 VV RVG geltend gemacht. Festgesetzt worden sind die eine Verfahrensgebühr Nr. 4106 VV RVG und die Terminsgebühr Nr. 4108 VV RVG.

Das AG hat festgesetzt:

„Die Rahmengebühren sind gemäß § 14 RVG nicht unbillig erhöht und damit für die Kostenfestsetzung verbindlich. Die Grundgebühr, die Vorverfahrensgebühr sowie eine Postpauschale sind hingegen nicht erstattungsfähig, weil im Rahmen des hier gegenständlichen selbständigen Einziehungsverfahrens rechtsanwaltliche Tätigkeiten, die das Entstehen der Gebühren rechtfertigen könnten, nicht gegeben sind. So darf sich die Tätigkeit, die im Rahmen des seinerzeit eingestellten Ermittlungsverfahrens ausgeübt worden ist, hier gebührenrechtlich nicht auswirken. Weitere darüber hinaus erfolgten Tätigkeiten, die zum Entstehen der Gebühren führen, insbesondere eine erstmalige Einarbeitung, liegen nicht (mehr) vor.

Die Verfahrensgebühr und die Terminsgebühr sind jedoch neben der Gebühr für das selbständige Einziehungsverfahren erstattungsfähig, weil diese nebeneinander entstehen können und hier auch entstanden sind. Es wird sich insoweit des Vortrags des Verteidigers angeschlossen.

Auch die Kopierkosten werden als erstattungsfähig angesehen, weil der Inhalt des bisherigen Verfahrens auch bei nicht vorheriger Beteiligung für das Einziehungsverfahren relevant und damit die Anfertigung von Kopien insoweit erforderlich gewesen sein dürfte.“

OWi III: Voraussetzungen für eine „Gehörsrügenfalle“, oder: Es kommt auf den Einzelfall an

Und mit der letzten Entscheidung des Tages machen wir den „Tag der KG-Entscheidungen“ komplett – ja, ok enmal OLG Hamm. Im KG, Beschl. v. 27.07.2021 – 3 Ws (B) 194/21 – hat das KG noch einmal zur sog. Gehörsrügenfalle Stellung genommen, also vereinfacht: Zum unzulässig versteckten Entbindungsantrag.

Das KG meint dazu unter gurndsätzlichem Anschluss an die Rechtsprechung anderer OLG in seinen Leitsätzen:

  1. Unter den Bedingungen eines üblicherweise dynamisch und komplex verlaufenden Sitzungstags kann nicht damit gerechnet werden, dass der Abteilungsrichter einen kurz zuvor eingereichten umfangreichen Schriftsatz (hier: 13 Seiten) in der unter normalen Voraussetzungen gebotenen und üblichen Gründlichkeit und Sorgfalt liest.
  2. Die Einschätzung, ob in einem solchen Schriftsatz mit der Absicht, eine „Gehörsrügefalle“ (vgl. OLG Düsseldorf VRR 2017, 16; OLG Oldenburg NJW 2018, 641) zu stellen, ein Entbindungsantrag rechtsmissbräuchlich „versteckt“ wurde, erfordert eine Würdigung aller Umstände des Einzelfalls.

Zu den Einzelheiten – das ist das, was den Verteidiger interessiert, führt das KG dann aus:

„3. Die Rüge ist auch begründet, weil das Amtsgericht den Entpflichtungsantrag übergangen hat.

Allerdings sind bei der Beurteilung des Sachverhalts alle – hier durchaus vielschichtigen – Umstände in den Blick zu nehmen. So war zu würdigen, dass der Entbindungsantrag erst am 27. April 2021, also dem Tag vor der Hauptverhandlung, angebracht wurde und erst um 17 Uhr beim Amtsgericht Tiergarten einging; die Hauptverhandlung fand am Folgetag um 12.50 Uhr statt. Der Schriftsatz des Verteidigers umfasste 13 Seiten. Vorangestellt waren, jeweils in Fettdruck, sechs Prozessanträge; der prozessual zentrale Entbindungsantrag war nicht darunter. Er tauchte erst auf Seite 6 des Schriftsatzes auf. Allerdings war auch er fett gedruckt, und dem Schriftsatz war auch der deutlich abgesetzte und unübersehbare Vermerk vorangestellt: „Eilt sehr! Bitte sofort vorlegen!“ Schließlich war zu bewerten, dass der Verteidiger den Schriftsatz direkt an das Telefaxgerät der Geschäftsstelle sandte und nicht an eine andere Nummer des Amtsgerichts, bei der gegebenenfalls nicht mit einer sofortigen Weiterleitung an die Geschäftsstelle und die Abteilungsrichterin zu rechnen gewesen wäre.

Der Fall zeigt Parallelen mit jener Fallgestaltung, aufgrund derer das OLG Düsseldorf seine „Gehörsrügefalle“-Rechtsprechung entwarf (vgl. OLG Düsseldorf VRR 2017, 16 [Volltext bei juris]; dem folgend OLG Oldenburg NJW 2018, 641). Nach dieser Rechtsprechung handelt der Verteidiger rechtsmissbräuchlich, der einen Entbindungsantrag in einem nur kurz vor der Hauptverhandlung übersandten unübersichtlichen Schriftsatz „versteckt“, weil er die Erhebung einer nachträglichen Gehörsrüge anstrebt und eigentlich gar nicht möchte, dass sein Antrag erkannt und beschieden wird.

Dass der Verteidiger hier etwas Ähnliches wollte, ist denkbar. Tatsächlich war unter den Bedingungen eines üblicherweise dynamisch und komplex verlaufenden Sitzungstags (vgl. Senat NZV 2015, 253) nicht damit zu rechnen, dass die Abteilungsrichterin den Schriftsatz in der unter normalen Voraussetzungen gebotenen und üblichen Gründlichkeit und Sorgfalt liest. Auch befremdet der Aufbau des Schriftsatzes, dem zwar, einen prioritären Aufbau nahelegend, Prozessanträge vorausgestellt sind, der den an sich vorrangigen Entbindungsantrag aber erst unter ferner liefen enthält (S. 6). In die Bewertung, ob das Verteidigungsverhalten als rechtsmissbräuchlich erscheint, muss aber auch einfließen, dass der Verteidiger auf die Dringlichkeit seiner Eingabe unübersehbar hinwies und der Entbindungsantrag, wenn auch nicht wie andere Passagen unterstrichen, so doch immerhin fett gedruckt war. Entscheidend gegen die Bewertung als rechtsmissbräuchliches Verteidigungsverhalten spricht der Umstand, dass der Schriftsatz direkt an das Faxgerät der maßgeblichen Geschäftsstelle gerichtet war, so dass – jedenfalls bei geordnetem Geschäftsgang – eine Vorlage an die Richterin als sicher gelten konnte. ….“

OWi II: Überleitung des OWi- ins Strafverfahren, oder: Danach ändert sich dann auch der Instanzenzug

Treppe

Im zweiten Posting dann ein weiterer Beschluss des KG, und zwar zu den Folgen der Überleitung des Bußgeldverfahrens in das Strafverfahren (§§ 81 ff. OWiG). Es geht im KG, Beschl. v. 11.08.2021 – (3) 162 Ss 97/21 (43/21) – um den Instanzenzug nach Überleitung.

Das AG hat in dern Hauptverhandlung im Bußgeldverfahren auf eine mögliche Verurteilung wegen einer „Straftat“ von Amts wegen hingeweisen und unterbrochen. Dann hat es Hauptverhandlung als Strafverfahren fortgesetzt und wegen eines Verstoßes gegen das Berliner Straßengesetz auf eine Geldbuße  erkannt. An einer Verurteilung wegen eines (vermeintlichen) versuchten Betruges hat sich das AG mangels ausreichender Feststellungen zum Vorsatz gehindert gesehen. Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte Berufung eingelegt. Das Landgericht hat festgestellt, dass die Strafkammer nicht zuständig sei, weil es sich vorliegend um „eine OWi-Sache“ handele, und dass das allein zulässige Rechtsmittel nicht die Berufung, sondern die Rechtsbeschwerde sei. Daraufhin hat die Vorsitzende die Akten an die Staatsanwaltschaft übersandt, die sie der Generalstaatsanwaltschaft vorgelegt hat. Das KG hat die Sache an das LG zurückgegeben:

„Das Rechtsmittel des Angeklagten ist – entgegen der Auffassung des Landgerichts – nicht in eine Rechtsbeschwerde umzudeuten.

Der Senat ist nicht zur Entscheidung über die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 7. August 2020 berufen.

Zuständig für die Entscheidung über dieses Rechtsmittel ist weiterhin die xx. Strafkammer des Landgerichts – xx -.

Denn das Amtsgericht hat laut Protokoll in der als Bußgeldverfahren begonnenen Hauptverhandlung am 29. Juli 2020 den Hinweis erteilt, dass auch eine Verurteilung wegen einer Straftat in Betracht kommt.

Dieser gerichtliche Hinweis bewirkt, dass der Betroffene die Rechtsstellung des Angeklagten erhält (vgl. § 81 Abs. 2 Satz 2 OWiG). Rechtsfehlerfrei hat der Tatrichter den ehemaligen Betroffenen auf sein Recht, einen Antrag auf Unterbrechung zu stellen, belehrt (vgl. § 81 Abs. 2 Satz 4 OWiG). Ab dem Zeitpunkt des gerichtlichen Hinweises ist das Bußgeldverfahren in ein Strafverfahren übergeleitet worden. Daher sind nur noch die Vorschriften des Strafverfahrensrechts und nicht mehr die des Ordnungswidrigkeitengesetzes maßgeblich. Die materiell-rechtlichen Bußgeldvorschriften bleiben aber weiterhin anwendbar, so dass in einem Strafverfahren auf eine Ordnungswidrigkeit erkannt werden darf, wenn eine Verurteilung wegen einer Straftat aufgrund desselben Sachverhaltes nach Durchführung der Hauptverhandlung nicht möglich ist.

Für die Wahl des Rechtsmittels gelten ebenfalls die Vorschriften der Strafprozessordnung. Eine Rückumwandlung des Strafverfahrens in ein Bußgeldverfahren, weil im Strafverfahren nur auf eine Ordnungswidrigkeit erkannt wurde, kennt das Gesetz nicht (vgl. Lutz in KK-OWiG 8. Aufl., § 81 Rn. 27). Folglich ist eine solche Verurteilung nur mit den Rechtsmitteln der Berufung oder der Sprungrevision anfechtbar (vgl. BGHSt 35, 290).

Nach diesem Maßstab hat das Amtsgericht – verfahrensrechtlich zutreffend – das Ordnungwidrigkeitenverfahren in ein Strafverfahren übergeleitet und den Angeklagten, weil die Straftat nach Auffassung des Gerichts nicht nachweisbar war (UA S. 6), aufgrund desselben Sachverhaltes wegen Verstoßes gegen das Berliner Straßengesetz zu einer Geldbuße verurteilt. Der Angeklagte hat rechtzeitig das statthafte Rechtsmittel der Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts vom 7. August 2020 eingelegt, zu deren Entscheidung weiterhin das Landgericht berufen ist.

Dem steht auch nicht § 83 Abs. 1 OWiG entgegen, weil dessen Voraussetzungen nicht vorliegen. Zutreffend weist die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer o.g. Zuschrift darauf hin, dass „die Rechtsbeschwerde beim Zusammentreffen von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten in einem Verfahren nur dann in Betracht kommt, wenn einzelne Taten als Ordnungswidrigkeiten verfolgt werden. Das ist nur dann der Fall, wenn ein Verfahren Ordnungswidrigkeiten zum Gegenstand hat, die gegenüber den im demselben Verfahren abgeurteilten Straftaten selbständige prozessuale Taten darstellen, also in einem getrennten Verfahren hätten abgeurteilt werden können (BGHSt 23, 270). So verhält es sich hier nicht.“

Sollte man als Vorsitzende einer kleinen Strafkammer des LG wissen.