Archiv für den Monat: Juli 2011

Zu schnell gefahren? – Pflichtverteidiger erforderlich

Jedenfalls kann man so ggf. im JGG-Verfahren argumentieren und sich dazu auf LG Dortmund, Beschl. v. 28.06.2011 –  31 Qs-139 Js 2099110-37/11, der sich zu Bestellung eines Pflichtverteidigers im JGG-Verfahren verhält, berufen.

Ziemlich knapp, aber immerhin führt das LG aus:

„Nach §§ 68 JGG, 140 Abs. 2 StPO bestellt der Vorsitzende einen Verteidiger, wenn wegen der Schwere der Tat oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann.

Es kann dahin stehen, ob vorliegend wegen der Schwere der Tat die Bestellung eines Verteidigers erforderlich ist. Jedenfalls erscheint die Mitwirkung eines Verteidigers wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage erforderlich. Unabhängig davon, dass bereits fünf Zeugen zum Hauptverhandlungstermin geladen wurden, ist es möglich, dass zur Frage der Geschwindigkeit des vorn Angeklagten gefahrenen Fahrzeugs die Einholung eines Gutachtens erforderlich sein wird. Die in diesem Zusammenhang aufkommenden Fragen des materiellen und prozessualen Strafrechts lassen eine angemessene Verteidigung des heranwachsenden Angeklagten unter Würdigung sämtlicher Umstände nur mit Hilfe eines Verteidigers möglich erscheinen.“

Akteneinsicht im Bußgeldverfahren: Lange Reise ist zumutbar

Einmal mehr eine Entscheidung zum Umfang und zur Art und Weise der Akteneinsicht im Bußgeldverfahren. Allerdings dieses Mal mit einer neuen Variante. Das AG Lüneburg, Beschl. v. 29.06.2011 – 34 OWi 1204 Js 13143/11 (547111) nimmt nämlich eine Güterabwägung vor zwischen den Interessen des Verteidigers und den Belangen der Öffentlichkeit.Im Beschluss heißt es:

Das Gericht hat bei der Güterabwägung berücksichtigt, dass es für nicht ortsansässige Verteidiger ein erheblicher Aufwand ist, Einsicht in die Bedienungsanleitung möglicherweise in einer weit entfernten Stadt zu nehmen. Zu berücksichtigen ist aber auch das Interesse der Allgemeinheit an einer effektiven Arbeit der Bußgeldbehörde. Diese würde durch ein Recht des Betroffenen auf Übersendung von Kopien gerade in Hinblick auf die Vielzahl der Bußgeldverfahren erheblich beeinträchtigt.“

Der Beschluss kommt also zu dem Ergebnis: Lange Reise ist zumutbar, Übersendung von Kopien (!) nicht. M.E kann und muss man das angesichts der Interessen des Betroffenen (Art. 103 Abs. 1 GG) anders sehen.

Wiedereinsetzung: Aufgepasst bei der Adressierung von Rechtsmitteln

Aufgepasst bei der Adressierung von Rechtsmitteln. Denn: Nun sagt (auch) das KG, Beschl. v. 07.03.2011 – 4 Ws 25/11, dass ein bei einem unzuständigen Gericht eingelegtes fristgebundenes Rechtsmittel nur im normalen Geschäftsgang weitergeleitet werden muss. Das angegangene unzuständige Gericht sei nicht verpflichtet, das Rechtsmittelschreiben unter Anwendung von Eilmaßnahmen, wie die Weiterleitung per Telefax, an das zuständige Gericht zu übersenden.

Das ist in der Vergangenheit in der Rechtsprechung schon anders gesehen worden. U.A. der 2. Strafsenat hatte das unzuständige Gericht als zu eiliger Behandlung verpflichtet angesehen. Aber auch der hat inzwischen seine Rechtsprechung geändert. Also. Man muss dann schon sorgfältig bei der Versendung sein, will man nicht eine irreparable Fristversäumung riskieren. Warum das angegangene Gericht nicht verpflichtet sein soll, schnell zu handeln, erschließt sich mir zwar nicht, aber: Man muss sich eben auf solche Änderungen einstellen.

Im Übrigen: Im Beschwerdeverfahren nach den §§ 8 Abs. 3, 9 Abs. 2 StrEG doppelt aufgepasst. Denn dem  Freigesprochenen wird ein Verschulden seines Verteidigers zugerechnet. So ebenfalls der KG-Beschluss.

Wer die Musik bestellt…

muss sie nicht immer bezahlen… Das folgt aus OLG Jena, Beschl. v. 16.11.2011 – 1 Ws 74/11, auf den ich nach den Wirrungen und Irrungen zwischen BGH und BVerfG (vgl. hier) hinweisen will.

Also wieder herab in die Niederungen des Alltagsgeschäftes und ein Hinweis auf  ein in der Praxis häufigeres Problem/eine häufigere Frage, die in dem Beschluss behandelt wird. Nämlich: Wer trägt eigentlich die Kosten für Alkohol- oder Drogenkontrollen, die in Erfüllung einer Weisung im Rahmen der Führungsaufsicht dem Verurteilten aufgegeben worden sind? Dazu das OLG:

  1. Die Kosten für Alkohol- oder Drogenkontrollen, die in Erfüllung einer Weisung im Rahmen der Führungsaufsicht durchgeführt werden, hat grundsätzlich der Verurteilte zu tragen.
  2. Diese Kostentragungspflicht des Verurteilten wird jedoch durch die Zumutbarkeitsklausel des § 68b Abs. 3 StGB begrenzt.
  3. Unzumutbare Anforderungen an die Lebensführung des Verurteilten werden dann gestellt, wenn dessen finanzielle Leistungsfähigkeit durch die von ihm zu tragenden Kosten für Alkohol- und Drogenkontrollen nach § 68b Abs. 1 Nr. 10 oder Abs. 2 Satz 4 StGB überfordert wird.

Nennt man es nun Ping-Pong, Jo-Jo oder Fahrstuhlrechtsprechung? Jedenfalls: Ein fürchterliches Hin und Her…

Der Kollege Hoenig hat gestern im Hinblick auf das Urt. des KG v. 07.03.2011 -1 Ss 423/10, über das ich aus anderen Gründen berichtet hatte (vgl. hier) über „Das Ping-Pong-Spiel der Justiz“ berichtet. Im KG-Urt. ging es nur um das Hin und Her zwischen AG, LG und KG.

Da kann man bequem noch einen drauf setzen, wenn man sich BGH, Beschl. v. 07.06.2011 – 4 StR 643/10 ansieht. Die behandelte Problematik ist u.a. ein Verstoß gegen die Belehrungspflicht des Art. 36 Abs. 1 lit. b Satz 3 WÜK (heute geregelt in § 114b Abs. 2 Satz 3 StPO). In der Sache ging es auch um ein Beweisverwertungsverbot bei einem solchen Verstoß, dass der BGH übrigens abgelehtn hat. In dem Zusammenhnag wird dann sicherlich noch einmal über die Enstscheidung zu bereichten sein.

Interessant aber das Verfahren, das sich wie folgt darstellt:

  • Am 05.04.2002 Verurteilung des Angeklagten durch das LG wegen räuberischer Erpressung mit Todesfolge in Tateinheit mit versuchtem Raub mit Todesfolge zu einer Freiheitsstrafe von elf Jahren.
  • Am 29.03.2003 Verwerfung der Revision des Angeklagten gem. § 349 Abs. 2 StPO durch Beschluss des 5. Strafsenats des BGH – 5 StR 475/02 – (veröffentlicht in NStZ-RR 2004, 5) – Grund: Verstoß gegen § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO.
  • Aufhebung dieses Beschlusses sowie Zurückverweisung der Sache durch das BVerfG mit Kammerbeschluss vom 19.09.2006 (2 BvR 21115/01) u.a., NJW 2007, 499) wegen Verletzung des Beschwerdeführers in seinem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip)
  • Am 25.09.2007 erneute Verwerfung der Revision durch Beschluss des 5. Strafsenats des BGH (veröffentlicht in BGHSt 52, 48, 5 StR 116/01), allerdings mit der Maßgabe, dass von der verhängten Freiheitsstrafe sechs Monate als vollstreckt gelten.
  • Am 08.07.2010 erneut Aufhebung des Beschl. v. 25.09.2007 auf die erhobene Verfassungsbeschwerde (2 BvR 2485/07, NJW 2011, 207) durch das BVerfG wegen eines Verstoßes gegen das Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren. Zurückverweisung der Sache zur erneuten Entscheidung an einen anderen Strafsenat des BGH.
  • Am 07.06.2011 nun die 3. Revisionsentscheidung des BGH in BGH, Beschl. v. 07.06.2011 – 4 StR 643/10.

Nennt man das nun Ping-Pong, Jo-Jo oder Fahrstuhlrechtsprechung? Jedenfalls ein fürchterliches Hin und Her, über das jetzt – weil das BVerfG vom 5. Strafsenat offenbar die Nase voll hatte, der 4. Strafsenat entscheiden durfte. Das ist – wie oben skizziert – geschehen. Sicherlich wird es noch eine 3. Auflage beim BVerfG geben, oder?

Einen Hinweis konnte sich der 4. Strafsenat übrigens nicht verkneifen – schönen Gruß an das BVerfG:

a) Der Senat sieht mit Blick auf die Bindungswirkung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (§ 31 Abs. 1, § 93c Abs. 1 Satz 2 BVerfGG) davon ab, die Rüge gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO als unzulässig zu verwerfen, obwohl die Revision verschweigt, dass der Angeklagte sich am 20. November 2001 – nach Konsultation seines Verteidigers – erneut zur Sache eingelassen und die Richtigkeit seiner früheren Angaben bestätigt hat (Gerichtsakten Bl. 619-621). Diesem Umstand kommt, wie sich aus den nachstehenden Ausführungen ergibt, entscheidungserhebliche Bedeutung für die Frage nach einem Verwertungsverbot zu.“

Deutlicher Hinweis darauf, dass auch der 4. Strafsenat die Revision wohl als nicht ausreichend begründet ansieht (so schon der 5. Strafsenat am 29.03.2003). Man hält eben zusammen :-).

Fazit: Was hat es dem Angeklagten bisher gebracht: 6 Monate weniger Freiheitsstrafe. Mehr nicht. Die „Ersparnis“ hatte er aber schon im Beschl. v. 25.09.2007. An den hält sich der 4. Strafsenat nicht gebunden und kommt jetzt – fast vier Jahre später – erneut nur zu einer Kompensation von sechs Monaten.