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Einsicht III: Notwendige Beweise im OWi-Verfahren, oder: Beschilderungsplan

Und zum Tagesschluss dann noch einmal etwas aus dem Bußgeldverfahren. Es geht wieder um Einsicht in Unterlagen. Aber dieses Mal nicht um Messdatei usw., sondern um den sog. Beschilderungsplan. Auch der ist dem Betroffenen zur Verfügung zu stellen. So das AG Vechta im AG Vechta, Beschl. v. 21.10.2022 – 93 OWi 234/22:

„a) Der Landkreis Vechta war antragsgemäß zu verpflichten, den Beschilderungsplan beizuziehen. Der Beschilderungsplan ist ein notwendiges Beweismittel, welches unabdingbar für die Prüfung des Vorliegens der hier vorgeworfenen Ordnungswidrigkeit erforderlich ist Sowohl der Landkreis Vechta als auch der Verteidiger müssen anhand des Beschilderungsplans prüfen, ob zur Tatzeit am Tatort tatsächlich ein Überholverbot angeordnet war. Da der Landkreis Vechta nur bei Vorliegen und Einsehen des Beschilderungsplans die Verwirklichung des hier betr. Ordnungswidrigkeitentatbestandes bejahen kann, obliegt es ihm, den Beschilderungsplan zum Bestandteil der Akte zu machen. Diese Aufgabe kann nicht auf den Verteidiger übertragen werden, indem diesem aufgetragen wird, bei einer dritten Stelle vor Ort den Beschilderungsplan einzusehen. In diesem Zusammenhang ist dem nicht örtlich ansässigen Verteidiger aufgrund der deutlichen Entfernung nicht zuzumuten, für die Einsichtnahme an den Sitz der Autobahn GmbH in Osnabrück anzureisen.“

Einsicht II: Einsicht in Messung im OWi – Verfahren, oder: Messreihe, Falldatei, Token, Passwort

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Im zweiten Posting dann einige AG-Entscheidungen, die sich mit der Frage der (Akten)Einsicht im Bußgeldverfahren befassen, und zwar geht es – mal wieder oder – leider – immer noch – um die Einsicht in die Messreihe um Token, Passwörter usw. Die damit zusammenhängenden Fragen sind, wie man sieht, noch (immer) nicht erledigt.

Dazu dann folgende Entscheidungen mit den jeweiligen Leitsätzen:

Dem Verteidiger ist auf Antrag auch bei einem standardisierten Messverfahren die vollständige Messreihe zur Verfügung zu stellen. Ohne die Herausgabe der entsprechenden Daten wird der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt. Wird ein standardisiertes Messverfahren eingesetzt, muss der Betroffene zur Verteidigung konkrete Einwendungen gegen die Messung vorbringen.

Das Gericht muss auf der Grundlage einer Interessenabwägung eine Einzelfallentscheidung darüber treffen, ob der Betroffene einen Anspruch auf die Übermittlung von bestimmten Unterlagen über die Richtigkeit der Messung hat, oder nicht. Dabei sind unter Berücksichtigung aller Umstände die Interessen des Betroffenen an einer Übermittlung eher dann überwiegend, wenn dem Betroffenen entweder ein Fahrverbot oder die Entziehung der Fahrerlaubnis wegen zu vieler Punkte, also wenn er bereits sieben Punkte hat, ernsthaft droht.

Dem Verteidiger des Betroffenen ist auf seinen Antrag Einsicht in die Original-Messreihe nebst Passwort und Token zu gewähren, indem die entsprechenden Dateien auf einen vom Verteidiger zur Verfügung gestellten Datenträger übertragen werden. Wird kein Speichermedium zur Verfügung gestellt, ist dem Verteidiger die Möglichkeit der Einsichtnahme in den Räumlichkeiten einer Verwaltungsbehörde in unmittelbarer Nähe zum Kanzleisitz des Verteidigers einzuräumen.

Dem Verteidiger ist die vollständige Falldatei des Messgerätes samt Token und Passwort zur Verfügung zu stellen.

Insbesondere die „Messdatenreihe“ ist dem Betroffenen unter dem Gesichtspunkt „faires Verfahrens“ zur Verfügung zu stellen.

OWi I: Kein Zugang zu Unterlagen des Messgeräts, oder: VerfGH Baden-Württemberg: Das ist verfassungswidrig

Heute dann ein OWi-Tag.

Und ich beginne mal wieder mit einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung. Nein, (noch) nicht dem nun schon lange überfälligen Beschluss des BVerfG in 2 BvR 1167/20, sondern mit einem Urteil des VerfGH Baden-Württemberg, und zwar mit dem VerfGH Baden-Württemberg, Urt. v. 16.01.2023 – 1 VB 38/18. Es geht mal wieder um die Frage des Zugangs zu Wartungs- und Reparaturunterlagen eines Messgeräts.

Dem Betroffenen ist eine Geschwindigkeitsüberschreitung außerhalb geschlossener Ortschaften um 44 km/h vorgeworfen worden. Während des Bußgeldverfahrens begehrte der Betroffene die Übermittlung der Ermittlungsakte, der Rohmessdaten sowie der Lebensakte und der Wartungs-/Reparatur-/Eichnachweise des Messgeräts. Die Bußgeldbehörde stellte dem ihm die Ermittlungsakte sowie einige der gewünschten Rohmessdaten zur Verfügung. Eine Einsicht in die Lebensakte und in die Wartungs-/Reparatur-/Eichnachweise des Messgeräts erhielt er nicht.

Das AG Mannheim lehnte dann einen Einsichtsantrag (bzgl. Lebensakte und in die Wartungs-/Reparatur-/Eichnachweise des Messgeräts) sowie den Antrag auf Übermittlung der 126 Einzelmessdaten mit der Begründung ab, dass die Beweiserhebung als zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich anzusehen sei. Das OLG Karlsruhe hat das „gehalten“. Dagegen dann die Verfassungsbeschwerde, die nun Erfolg hatte.

Der VerfGH bezieht sich auf die Entscheidung des BVerfG v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18 – und führt auf deren Grundlage dann u.a. aus:

„Sowohl das Amtsgericht als auch das Oberlandesgericht haben vorliegend verkannt, dass aus dem Recht auf ein faires Verfahren für den Beschwerdeführer grundsätzlich ein Anspruch auf Zugang zu den nicht bei der Bußgeldakte befindlichen, aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen, vorliegend namentlich der Wartungs- und Reparaturunterlagen des verwendeten Messgeräts, folgt. Dieser Anspruch verpflichtet nicht etwa das Gericht, die geforderten Unterlagen aufgrund seiner Aufklärungspflicht beizuziehen und zu prüfen, sondern entspringt allein dem Recht des Betroffenen, die Grundlagen des gegen ihn erhobenen Vorwurfs einzusehen und selbst zu prüfen.

a) Das Amtsgericht Mannheim lehnte die beantragte Zurverfügungstellung der Lebensakte bzw. der Wartungsprotokolle und Eichnachweise des Messgeräts in seinem Beschluss vom 10. August 2017 mit der Begründung ab, dass die beantragten „Beweiserhebungen […] als zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich anzusehen“ seien und „keine Beiziehungspflicht für die Lebensakte eines Messgeräts“ oder ein „Anspruch auf Bildung eines größeren Aktenbestandes“ bestünde. Im Übrigen seien Reparatur- und Wartungsbescheinigungen „auch keine geeigneten Beweismittel, um tatsachenbegründete Zweifel an der Messrichtigkeit und Messbeständigkeit eines geeichten Messgeräts wecken zu können“. Auch den in der Hauptverhandlung vom 22. August 2017 gestellten Einsichts- und Aussetzungsantrag wies das Amtsgericht damit zurück, dass „die beantragte Beweiserhebung […] als zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich anzusehen“ sei. Diese Behandlung ging aber am eigentlichen Begehren des Beschwerdeführers, nämlich die geforderten Unterlagen nach Erhalt eigenständig von einem Sachverständigen überprüfen zu lassen (so ausdrücklich auch der Antrag des Beschwerdeführers vom 22. August 2017), vorbei. Hierdurch verkennt das Amtsgericht zum einen den vom Bundesverfassungsgericht aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens hergeleiteten Anspruch auf Zugang zu den im Zusammenhang mit dem festgestellten Geschwindigkeitsverstoß bestehenden Informationen, auch wenn sich diese außerhalb der Verfahrensakten befinden. Zum anderen nimmt es in verfassungswidriger Weise einen Gleichlauf zwischen der gerichtlichen Aufklärungspflicht und dem Einsichtsrecht des Betroffenen an den im Zusammenhang mit der Messung stehenden Informationen an.

b) Auch das Oberlandesgericht Karlsruhe ging in seinem Beschluss vom 17. April 2018 hinsichtlich des Informationsbegehrens verfassungswidrig von einem „Gleichlauf von Aufklärungspflicht und fairtrial-Grundsatz“ aus und lehnte den beantragten Zugang zu Unterlagen über Wartungen, Reparaturen und sonstige Eingriffe bereits deshalb ab, weil der Messbeamte keine eichrelevanten Störungen oder Defekte am Messgerät bekundet habe. Das Amtsgericht sei deshalb nicht verpflichtet gewesen, beim Verwender des Messgeräts Nachweise über erfolgte Wartungen, Reparaturen oder sonstige Eingriffe anzufordern. Dem Beschwerdeführer kam es jedoch gerade darauf an, durch die eigenständige Überprüfung der begehrten Informationen etwaige Anhaltspunkte für die Fehlerhaftigkeit des Messergebnisses erst zu ermitteln, um diese dann – gegebenenfalls – vor Gericht darlegen und dessen Amtsaufklärungspflicht auslösen zu können. Die fehlende Differenzierung des Oberlandesgerichts zwischen Beweis(ermittlungs)antrag und dem Begehren auf Informationszugang lässt unberücksichtigt, dass die Verteidigungsinteressen des Betroffenen nicht identisch mit der Aufklärungspflicht des Gerichtes in der Hauptverhandlung sind und deutlich weitergehen können (BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18 –, Juris Rn. 67).

Zwar wurde nach den gerichtlichen Feststellungen eine Lebensakte für das betroffene Messgerät nicht geführt, so dass ein insoweit versagter Informationszugang nicht zu einem Verfassungsverstoß führen kann. Dies gilt jedoch nicht für die Wartungs- und Reparaturdokumentationen, die von dem Einsichtsrecht des Beschwerdeführers umfasst (vgl. VerfGH RP, Beschluss vom 13.12.2022 – VGH B 46/21 –, Juris Rn. 54 ff.) und ersichtlich auch vorhanden sind. Der gerichtlich bestellte Sachverständige sowie der Messbeamte hatten in der mündlichen Verhandlung beim Amtsgericht von einem reparierten Defekt am Objektiv sowie einem reparierten Problem an einem LAN-Kabel berichtet, wenngleich sie diese jeweils als nicht eichrelevant einstuften. Zumindest die insoweit existierenden Unterlagen hätten dem Beschwerdeführer – neben etwaigen weiteren vorhandenen Reparatur- und Wartungsdokumentationen – zur Verfügung gestellt werden müssen, damit dieser sie einer eigenständigen Prüfung hätte unterziehen können.

Unerheblich ist hierbei, dass zwischen der letzten Eichung des Geräts am 25. August 2016 und dem Tattag am 3. September 2016 gerade einmal neun Tage lagen. Denn das Einsichtsrecht umfasst den Zeitraum, der mit der letzten Eichung vor dem Tattag beginnt und am Tage des Ablaufs der Eichfrist endet, sodass vom Einsichtsrecht auch Unterlagen solcher Wartungen erfasst sind, die nach der verfahrensgegenständlichen Messung, aber vor dem Ende der Eichfrist vorgenommen worden sind (VerfGH RP, Beschluss vom 27.10.2022 – VGH B 57/21 –, Juris Rn. 41). Bei erfolgten Wartungen und Reparaturen des Messgeräts in diesem Zeitraum kann eine – wenn auch bloß theoretische – Aufklärungschance zur eventuellen Aufdeckung von Funktionsbeeinträchtigungen des Messgeräts nicht schlechthin ausgeschlossen werden (VerfGH RP, Beschluss vom 13. Dezember 2021 – VGH B 46/21 –, Juris Rn. 55f.). „

Und wir warten weiter auf die nächte BVerfG-Entscheidung.

OWi II: Messunterlagen sind nicht bei den Akten, oder: Beschilderungsplan/verkehrsrechtliche Anordnung

In der zweiten OWi-Entscheidung des Tages geht es auch um Einsicht in bzw. Herausgabe von Unterlagen. Der Verteidiger hatte den B

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eschilderungsplan und die diesem zugrunde liegende verkehrsrechtliche Anordnung herausverlangt – und nicht bekommen. Der OLG Saarbrücken, Beschl. v. 14.07.2022 – SsRs 30/21 – sagt: Diese Unterlagen müssen herausgegeben werden:

„3. Jedenfalls darin, dass dem Verteidiger der Beschilderungsplan und die verkehrsrechtliche Anordnung nicht zur Verfügung gestellt worden sind, liegt eine unzulässige Versagung rechtlichen Gehörs.

a) Nach verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 -, juris; vgl. auch VerfGH des Saarlandes, Beschluss vom 27. April 2018 — Lv 1/18) gibt es auch im Bußgeldverfahren ein verfassungsrechtlich verbürgtes Recht des Einzelnen, prozessuale Rechte und Möglichkeiten mit der erforderlichen Sachkunde selbst wahrzunehmen und Übergriffe der rechtsstaatlich begrenzten Rechtsausübung staatlicher Stellen angemessen abzuwehren. Der Betroffene darf nicht bloßes Objekt des Verfahrens sein, vielmehr muss ihm die Möglichkeit gegeben werden, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen (BVerfG a.a.O.; BVerfGE 65, 171, 174; VerfGH des Saarlandes a.a.O.). Ein rechtsstaatliches und faires Verfahren fordert eine „Waffengleichheit“ zwischen den Verfolgungsbehörden einerseits und dem Betroffenen andererseits (BVerfG a.a.O.; VerfGH des Saarlandes a.a.O.). Der Betroffene hat deshalb ein Recht auf möglichst frühzeitigen und umfassenden Zugang zu Beweismitteln und Ermittlungsvorgängen und auf die Vermittlung der erforderlichen materiell- und prozessrechtlichen Informationen, ohne die er seine Rechte nicht wirkungsvoll wahrnehmen kann (BVerfG a.a.O.; vgl. auch BVerfGE 110, 226, 253). Ihm muss Zugang zu den Quellen der Sachverhaltsfeststellung gewährt werden (BVerfG NJW 2007, 204, 205; VerfGH des Saarlandes a.a.O.). Dabei sind ihm grundsätzlich auch solche Messunterlagen zur Verfügung zu stellen, die sich nicht bei der Akte befinden, jedoch für seine Verteidigung von Bedeutung sein können (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 juris; VerfGH des Saarlandes a.a.O.; Senatsbeschlüsse vom 06. Januar 2022 – 1 Ss (OWi) 2/22 -, 15. Mai 2019 – SsRS 37/2018 — und 24. Februar 2016 – Ss (BS) 6/2016 (4/16 OWi)), und zwar unabhängig davon, ob konkrete Anhaltspunkte für Messfehler vorliegen oder von dem Betroffenen vorgetragen worden sind (BVerfG a.a.O.; Senatsbeschlüsse vom 15. Mai 2019 — SsRS 37/2018 — und 24. Februar 2016 — Ss (BS) 6/2016 (4/16 OWi), vgl. auch Cierniak DAR 2018, 541 ff). Dies bedeutet allerdings nicht, dass das Recht auf Zugang zu den außerhalb der Akte befindlichen Informationen unbegrenzt gilt, da gerade im Bereich massenhaft vorkommender Ordnungswidrigkeiten eine sachgerechte Eingrenzung des Informationszugangs geboten ist (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 12. November 2020 — 2 BvR 1616/18 -, juris; vgl. auch Senatsbeschlüsse vom 06. Januar 2022 — 1 Ss (OWi) 2/22 — und vom 07. Januar 2022 — 1 Ss (OWi) 1/22). Andernfalls bestünde die Gefahr der uferlosen Ausforschung, erheblicher Verfahrensverzögerungen und des Rechtsmissbrauchs (BVerfG a.a.O.; vgl. auch Senatsbeschlüsse a.a.O.). Die begehrten, hinreichend konkret benannten Informationen müssen deshalb zum einem in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf stehen und zum anderen erkennbar eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen (BVerfG a.a.O.; vgl. auch Senatsbeschlüsse a.a.O.). Für die Frage einer solchen Relevanz ist dabei maßgeblich auf die Perspektive des Betroffenen bzw. seines Verteidigers abzustellen (BVerfG a.a.O.; vgl. auch Senatsbeschlüsse a.a.O.). Die Verteidigung kann grundsätzlich jeder auch bloß theoretischen Aufklärungschance nachgehen, ohne dass es darauf ankommt, ob die Bußgeld-behörde oder das Gericht die in Rede stehende Information zur Überzeugung von dem Geschwindigkeitsverstoß für erforderlich erachtet (BVerfG a.a.O.). Umgekehrt gilt jedoch auch kein rein subjektiver Maßstab, sondern entscheidend ist, ob der Betroffene bzw. sein Verteidiger eine Information verständiger Weise für die Beurteilung des Ordnungswidrigkeitenvorwurfs für bedeutsam halten darf (BVerfG a.a.O.).

b) Das genannte Recht hat das Amtsgericht in entscheidungserheblicher Weise verletzt, indem es dem Betroffenen in Hauptverhandlung keine Gelegenheit gegeben hat, seinen gegenüber der Verwaltungsbehörde geltend gemachten Herausgabeanspruch weiterzuverfolgen.

Der von dem Verteidiger herausverlangte Beschilderungsplan und die diesem zu Grunde liegende verkehrsrechtliche Anordnung stehen in einem ersichtlichen sachlichen und zeitlichen Zusammenhang zu dem dem Betroffenen zur Last gelegten Geschwindigkeitsverstoß. Dass durch die Überlassung dieser Unterlagen die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege gefährdet oder schutzwürdige Interessen Dritter in unzulässiger Weise berührt sein könnten, ist nicht ersichtlich. Eine Relevanz für die Verteidigung ist jedenfalls nicht von vornherein auszuschließen. Zwar handelt es sich bei einer verkehrsrechtlichen Anordnung nach ihrer Bekanntgabe durch das Aufstellen der entsprechenden Beschilderung um einen Verwaltungsakt in Form einer Allgemeinverfügung (BVerwG, Urteil vom 09. Juni 1967 – VII C 18/66 -, juris; BVerwG NJW 1997, 1021; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 25. April 2022 – 8 E 120/22 -, juris; Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl., § 41 StVO Rdnr. 247), der grundsätzlich auch im Falle seiner Rechtswidrigkeit zu beachten ist, solange er nicht nichtig ist oder wirksam angefochten oder zurückgenommen wurde (BVerwG NJW 1967, 1627; OLG Koblenz, Beschluss vom 17. November 2020 – 1 OWi 6 SsRs 271/20, juris; KG Berlin VRS 107, 217; OLG Hamm, Beschluss vom 03. März 2016 – 3 RBs 55/16 -, juris; Hentschel/König/Dauer a.a.O. m.w.N.). Dem Verteidiger muss jedoch nach den dargelegten Grundsätzen auf seinen Antrag hin die Möglichkeit eröffnet werden, eine mögliche Nichtigkeit des dem Geschwindigkeitsverstoß zu Grunde liegenden Verwaltungsaktes zu prüfen- Soweit das Amtsgericht in den Urteilsgründen darauf verweist, dass der Verteidiger keine konkreten Anhaltspunkte für eine solche Nichtigkeit der verkehrsrechtlichen Anordnung dargelegt habe, verkennt es, dass ein entsprechender Vortrag eine Einsichtnahme in die Anordnung und den Beschilderungsplan gerade voraussetzt.

Soweit das Gericht in seinem Schreiben vom 20. April 2021 eine Überlassung der verkehrsrechtlichen Anordnung (und konkludent auch des Beschilderungsplans) vor der zu treffenden Sachentscheidung mit der Begründung abgelehnt hat, die Messörtlichkeit einschließlich der Beschilderung sei durch das in der Akte befindliche Messprotokoll ausreichend dokumentiert, verkennt es, dass nicht entscheidend ist, ob es selbst die Beiziehung der Unterlagen unter Aufklärungsgesichtspunkten für erforderlich hält, sondern allein, ob dem Betroffenen Gelegenheit gegeben werden muss, die erbetenen Unterlagen darauf zu prüfen, ob sich aus ihnen Anhaltspunkte für eine Fehlerhaftigkeit der Messung ergeben. Das Recht des Betroffenen auf Einsicht in die Messunterlagen ist strikt von der Frage des Umfangs der Aufklärungspflicht des Gerichts nach § 244 Abs. 2 StPO zu trennen (Cierniak/Niehaus DAR 2018, 541 ff, vgl. auch KG Berlin, Beschluss vom 06. August 2018 – 3 Ws (B) 168/18 -, juris; Senatsbeschlüsse vom 06. Januar 2022 – 1 Ss (OWi) 2/22 -, juris – und vom 07. Januar 2022 – 1 Ss (OWi) 1/22 -, juris). Die Verteidigung kann grundsätzlich jeder auch bloß theoretischen Aufklärungschance nachgehen, wohingegen die Bußgeldbehörden und die Gerichte von einer weitergehenden Aufklärung in Fällen standardisierter Messverfahren grundsätzlich entbunden sind (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 12. November 2020 — 2 BvR 1616/18 -, juris). Es kommt deshalb gerade nicht darauf an, ob die Bußgeldbehörde oder das Gericht die in Rede stehende Information zur Überzeugung von dem Verstoß für erforderlich halten (BVerfG a.a.O.). Soweit das Amtsgericht seine Rechtsauffassung auf die Entscheidungen des OLG Zweibrücken vom 05. Mai 2020 (Az.: 1 OWi SsBs 94/19 -) und des OLG Koblenz vom 17. November 2020 (Az.: 1 OWi 6 SsRs 271/20) stützt, übersieht es, dass diese durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 — überholt sind.

c) Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes (VerfGH des Saarlandes, Beschluss vom 27. April 2018 — Lv 1/18 -) ist das Recht des Betroffenen auf Zugang auch zu nicht bei den Akten befindlichen potentielle verteidigungsrelevanten Unterlagen nicht nur Ausfluss des Rechts auf ein faires Verfahren, sondern auch Ausfluss des Anspruchs auf rechtliches Gehör nach Art. 60 Abs. 1 SVerf Art. 1 Abs. 1 SVerf), so dass seine Verletzung zur Zulassung der Rechtsbeschwerde nach § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG führt.

d) Da eine Verletzung rechtlichen Gehörs bereits durch die unterbliebene Überlassung der verkehrsrechtlichen Anordnung und des Beschilderungsplans erfolgt ist, ist es für die Zulassung der Rechtsbeschwerde ohne Bedeutung, ob der Betroffene auch ein Recht darauf hatte. dass ihm die Falldaten der gesamten Messreihe zur Verfügung gestellt werden. ….“

OWi II: OLG Celle zur Einsicht in Messunterlagen, oder: Abwarten mit neuer Verhandlung bis „nach dem BGH“

Im zweiten Posting des Tages weise ich hin auf den OLG Celle, Beschl. v. 22.02.2022 – 2 Ss (OWi) 264/21, über den ja auch der Kollege Gratz im VerkehrsrechtsBlog schon berichtet hat. Das OLG hat in der Entscheidung noch einmal umfassend zur Einsicht in Messunterlagen Stellung genommen.

In der Entscheidudng geht es (zunächst) um das Einsichtsrecht des Betroffenen in Messunterlagen, wie z.B. Lebensakte mit etwaigen Reparatur,- Störungs,- Reinigungs- und Wartungsnachweisen. Insoweit verweise ich auf den Voltext der verlinkten Entscheidung. Das OLG führt dazu umfassend aus.

Hier will ich auf einen anderen Aspekt der Entscheidung hinweisen, nämlich auf die Frage, wie das OLG mit der Einsicht in die Messreihe umgeht. Ich erinnere, dass es dazu ja eine (Divergenz)Vorlage des OLG Zweibrücken und eine des OLG Koblenz gibt, über die ich hier ja auch schon berichtet habe. Dazu „verkneift“ sich das OLG eine eigene Aussage, aber regt an, dass das AG mit der neuen Hauptverhandlung wartet, bis der BGH – wann endlich? – entschieden hat:

„3. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf folgendes hin:

a) Die Verteidigung des Betroffenen hat gegenüber der Bußgeldbehörde und nachfolgend im gerichtlichen Verfahren vor dem Amtsgericht erfolglos die Bereitstellung der sog. Rohmessdaten aus der gesamten Messreihe aus der am Vorfallstag durchgeführten Geschwindigkeitsmessung sowie der Statistikdatei verlangt. Das Amtsgericht hat in seiner Entscheidung vom 20.05.2021 (Az. 17 OWi 369/21) einen Rechtsanspruch auf die Bereitstellung dieser Daten verneint.

Die Frage, ob einem Betroffenen aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens folgend ein Anspruch auf Einsicht in nicht bei den Verfahrensakten befindliche Rohmessdaten einer gesamten Messreihe zusteht, wird in der nach der o.g. Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.11.2020 – 2 BvR 161/18 –, juris) ergangenen obergerichtlichen Rechtsprechung unterschiedlich beurteilt.

Einige Oberlandesgerichte haben auf der Grundlage der unter dem Titel „Der Erkenntniswert von Statistikdatei, gesamter Messreihe und Annullationsrate in der amtlichen Geschwindigkeitsüberwachung“ verfassten Stellungnahme der Physikalisch-Technische Bundesanstalt vom 30.03.2020 die vom Bundesverfassungsgericht vorausgesetzte „Relevanz“ für das Zugangsrecht des Betroffenen bzw. seiner Verteidigung zu begehrten nicht bei den Akten befindlichen Informationen hinsichtlich der Daten der gesamten Messreihe einer Geschwindigkeitsmessung abgesprochen. Hieran anknüpfend haben sie ein Einsichtsrecht der Verteidigung des Betroffenen verneint (vgl. BayObLG, Beschl. v. 04.01.2021 – 202 ObOWi 1532/20 –, juris; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 05.05.2021 – 1 OWi 2 SsBs 19/21 –, juris).

Andere Oberlandesgerichte hingegen gehen davon aus, dass die Bewertung, ob bestimmte Informationen für die Verteidigung „relevant“ sind, allein der Einschätzung der Verteidigung unterliegt und es daher genügt, wenn sie zur Begründung ihres Einsichtsbegehrens auf mögliche Auffälligkeiten, die sich aus der Betrachtung der Daten der gesamten Messreihe ergeben könnten, verweisen. Ihnen könne zudem auch unter Berücksichtigung der o.g. Stellungnahme der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt eine potentielle Beweiserheblichkeit nicht abgesprochen werden. Aufgrund dessen sei einem entsprechenden Einsichtsgesuch der Verteidigung stattzugeben (vgl. OLG Jena, Beschl. v. 17.03.2021 – 1 OLG 2 SsBs 23/20 –, juris; OLG Stuttgart, Beschl. v. 03.08.2021 – 4 Rb 12 Ss 1094/20 –, juris).

Das Oberlandesgericht Zweibrücken hat aufgrund der divergierenden Auffassungen in der oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung die Frage dem Bundesgerichtshof gemäß § 121 Abs. 2 GVG zur Entscheidung vorgelegt (vgl. OLG Zweibrücken, aaO). Eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs ist bislang noch nicht ergangen.

Der Senat hat im vorliegenden Verfahren von einer eigenen Beurteilung der Rechtsfrage abgesehen, da insoweit die Entscheidung des Bundesgerichtshofs abzuwarten ist, welche im weiteren Verfahren bindend sein wird.

Für das Amtsgericht bietet es sich daher an, entweder mit einer neuen Hauptverhandlung bis zur Entscheidung des Bundesgerichtshofs zuzuwarten oder die Daten der gesamten Messreihe vom Tag der Geschwindigkeitsmessung des Betroffenen anzufordern und sie seiner Verteidigung zugänglich zu machen.“

Damit kann man dann vielleicht als Verteidiger in anderen Verfahren, in denen die Frage eine Rolle spielt argumentieren.