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OWi III: Nochmals Dauerbrenner im Bußgeldverfahren, oder: Umfang der Einsicht in Messunterlagen

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Urheber Jepessen

Und als letzte Entscheidung dann noch etwas zum Dauerbrenner im Bußgeldverfahren: Umfang der Einsicht in Messunterlagen. Es handelt sich um den AG Lippstadt, Beschl. v. 03.07.2023 – 7 OWi-32 Js 876/23-125/23.

Das übliche Vorspiel: Der Verteidiger begeht Einsicht in (Mess)Unterlagen, und zwar        Messprotokoll/Einsatzprotokoll, Eichschein, Schulungsbescheinigung, Gebrauchsanweisung (und zwar auch für etwaige Sonderbauten), Lebensakte und Falldatensatz (ESO 3.0 und 8.0). Die Unterlagen erhält er.

Der dann beauftragte Sachverständige hätte dann noch gerne Konformitätsbescheinigung, Konformitätserklärung, Wartungs- und Reparaturhinweise nach § 31 Abs. 2 Nr. 4 MessEG,      Fotoliniendokumentation als Falldatei im eso-Format, alle Falldateien des Messeinsatzes im eso-Format, Statistikdatei mit der Bezeichnung ES30Stat_…txt, Rohmessdaten, d. h. die digitalisierten, unselektierten, nicht von einem Algorithmus verarbeiteten Messsignale.

Die gibt es nicht. Der daraufhin gestellte Antrag auf gerichtliche Entscheidung hat (teilweise) Erfolg:

„1. a) Dem Betroffenen – wie auch seinem Verteidiger – steht aufgrund des verfassungsrechtlich verbürgten Rechts auf ein faires Verfahren ein erschöpfendes Akteneinsichtsrecht zu, das aus Art. 20 Abs. 3 i. V. m. Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland abgeleitet und einfachgesetzlich durch Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention i. V. m. § 46 Abs. 1 OWiG i. V. m. § 147 Abs. 1, Abs. 4 StPO ausgestaltet wird.

Entgegen dem insoweit nicht abschließenden Wortlaut, der lediglich die dem Gericht vorliegenden oder vorzulegenden (§ 69 Abs. 4 S. 2 OWiG) Akten in Bezug nimmt, sind vom Akteneinsichtsrecht auch jene amtlichen Unterlagen erfasst, die zwar kein originärer Bestandteil der Verfahrensakte sind, jedoch aus Sicht der Verteidigung für die Prüfung des Tatvorwurfs benötigt werden (siehe BVerfG, Kammerbeschluss vom 12.11.2020, Az. 2 BvR 1616/18; OLG Koblenz, Beschluss vom 20.05.2020, Az. 2 OWi 6 SsRs 118/19 m. w. N.). Hierunter subsumieren in Bußgeldverfahren, denen eine Verkehrsordnungswidrigkeit zugrunde liegt, auch die den Eichzeitraum betreffenden Wartungs- und Instandsetzungsnachweise (sog. ‚Lebensakte‘, ,Geräteakte‘, etc.).

Bei einem standardisierten Messverfahren, wie es auch im Falle des Messgeräts ESO ES 3.0 vorliegt, sind an die Beweisführung des erkennenden Gerichts deutlich reduzierte Anforderungen gestellt. Eine nähere Überprüfung des Messergebnisses ist erst und nur dann veranlasst, sofern tatsachenfundierte Anhaltspunkte für Messfehler virulent geworden sind (siehe BVerfG a. a. 0.). Hieran anknüpfend ist es dem Betroffenen unbenommen, Zweifel an der Richtigkeit des Messergebnisses vorzubringen, alsdann Beweisanregungen zu unterbreiten oder durch explizite Formulierung eines Beweisantrags gestaltend auf das Ergebnis der Beweisaufnahme einzuwirken (siehe BVerfG, Beschluss vom 12.01.1983, Az. 2 BvR 864/81; OLG Bamberg, Beschluss vom 13.06.2018, Az. 3 Ss OWi 626/18). Diese prozessualen Optionen vermag der Betroffene aber nur dann einzulösen, wenn er auch von solchen Inhalten Kenntnis erlangt, die zwar nicht zur Verfahrensakte genommen, aber doch zum Zwecke der Ermittlungen angelegt worden sind (siehe BVerfG, Kammerbeschluss vom 12.11.2020, Az. 2 BvR 1616/18).

In diesem Sinne ist die Verwaltungsbehörde gemäß § 31 Abs. 2 Nr. 4 MessEG -ungeachtet der Bezeichnung einer solchen Dokumentation (,Lebensakte‘, ‚Geräteakte‘, etc.) – verpflichtet, Nachweise über Wartungen, Reparaturen und sonstige Eingriffe am Messgerät zu erstellen und für den dort genannten Zeitraum aufzubewahren. Gleiches gilt für die weiteren im Tenor bezeichneten Unterlagen.

b) Dies zugrunde gelegt ist der namens des Betroffenen gestellte Antrag des Verteidigers vom 13.12.2022/14.02.2023 dahin auszulegen, dass dieser die Zugänglichmachung derjenigen Aktenbestandteile begehrt, die sich nicht bei der Verfahrensakte befinden, um mit ihrer Hilfe einen Überblick über die für die Verteidigung ggf. relevanten Informationen zu gewinnen, und das Messergebnis eigenständig überprüfen zu können.

Diesem Antrag hat die Verwaltungsbehörde nach Maßgabe der vorstehenden Ausführungen zu entsprechen. Denn es ist – im Interesse einer effektiven Verteidigung – allein Sache des Betroffenen bzw. des Verteidigers, darüber zu befinden, welche Unterlagen zur Überprüfung des Messergebnisses herangezogen werden sollen und welche nicht. Hierzu ist er aber nur dann in der Lage, wenn ihm sämtliche von der Verwaltungsbehörde geführten Aktenbestandteile uneingeschränkt und ohne selektive Vorauswahl zur Verfügung gestellt werden. Wird ihm dagegen ein Teil der Unterlagen von Vornherein vorenthalten, so ist hierin eine unzulässige Beschränkung der Verteidigung zu erblicken.

So liegt es hier. Die bis anhin zur Einsicht überlassenen Aktenbestandteile sind nicht ausreichend, das eingangs skizzierte Akteneinsichtsrecht des Betroffenen bzw. des Verteidigers vollumfänglich zu erfüllen. Zwar hat die Verwaltungsbehörde die mit anwaltlichem Schriftsatz vom 13.12.2022 erbetenen Unterlagen weitüberwiegend zur Verfügung gestellt. Hinsichtlich der mit Schreiben vom 14.02.2023 angeforderten Unterlagen, insbesondere der Dokumentation gemäß § 31 Abs. 2 Nr. 4 MessEG (,Geräteakte‘) sowie der weiteren Falldateien des Messeinsatzes im eso-Format hat sie dem Ersuchen des Verteidigers hingegen nicht entsprochen. Zu etwaigen Reparaturen oder vergleichbaren Eingriffen, welche ggf. im Zeitraum vom 16.05.2022 bis zum 20.10.2022 vorgenommen worden sein könnten, hat sie sich nicht verhalten. Hieraus lassen sich indes – aus der Perspektive des Betroffenen bzw. des Verteidigers – keine zureichenden Anhaltspunkte dafür entnehmen, welche Unterlagen tatsächlich bei der Verwaltungsbehörde geführt werden, und welche Informationen diese ggf. enthalten (siehe OLG Zweibrücken, Beschluss vom 27.04.2021, Az. 1 OWi 2 SsRs 173/20 m. w. N.).

Aus diesem Grund sind die im Tenor bezeichneten Unterlagen zum Zwecke der Akteneinsicht zur Verfügung zu stellen, jedenfalls aber die Gründe zu benennen, aus denen dies ggf. nicht möglich ist.“

Immer wieder interessant: Akteneinsicht im Bußgeldverfahren

Ich hatte ja neulich bereits über die m.E. interessante Entscheidung des LG Ellwangen, Beschl. v. 14.12.2009, 1 Qs 166/09 berichtet. Dazu hatte es ja dann einige Kommentare gegeben. Einer der Kommentatoren hat angemerkt, dass es im Grunde nie Schwierigkeiten mit den Bedienungsanleitungen gebe und zudem der Verteidiger sie ja auch kaufen könne. Letzteres ist m.E. als Argument gegen die Herausgabe der Bedienungsanleitung falsch und nicht tragbar – der Betroffene muss sich den Inhalt der Akte und die Möglichkeit, die Messung zu überprüfen, nicht erkaufen.

Im Übrigen: So einfach scheint das dann mit den Bedienungsanleitungen und sonstigen Unterlagen dann doch nicht zu sein. Denn: Warum sonst gibt es so viele Entscheidungen zu der Problematik. Auf folgende will ich heute hinweisen:

  • AG Aachen, Beschl. v. 24.02.2011 – 449 OWi-505 Js 63/11-41/11, wonach der Verteidiger keinen Anspruch auf Übersendung einer Kopie der Bedienungsanleitung hat
  • AG Oberhausen, Beschl. v. 20.02.2011 – 26 OWi 845/10, wonach dem Verteidiger die Bedienungsanleitung für ein Messgerät zur Verfügung zu stellen ist, und
  • last but not least: AG Lippstadt, Beschl./Verf. v. 23.02.2011 – 7 OWi-38 Js 111/11-62/11, das die Akten an die Verwaltungsbehörde zurückgegeben hat (§ 69 Abs. 5 OWiG!!!). Die Begründung ist es m.E. wert, wörtlich zitiert zu werden:

    „…wird das Verfahren mangels hinreichenden Tatverdachtes gemäß § 69 OWiG an die Bußgeldstelle zurückverwiesen. Es fehlen sämtliche Beweismittel für ein standadisiertes Meßverfahren.

    Nur am Rande sei darauf hingewiesen, dass die Vorlage der Bedienungsanleitung für ein Messgerät nicht damit verweigert werden kann, dass jene urheberrechtlich geschützt sei. Alles, was als belastendes Beweismittel verwendet wird, ist sowohl dem Gericht als auch dem Rechtsanwalt des Betroffenen als Organ der Rechtspflege zur selbstständigen Prüfung und Verwertung zugänglich zu machen. Verweigert die Behörde dennoch den Nachweis des Beweismittels, ist nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ davon auszugehen, dass das Beweismittel, hier die Bedienungsanleitung, nicht vorhanden ist, also der Meßvorgang auch nicht nach den Vorschriften der spezifischen Bedienungsanleitung und damit nicht nach den Bedingungen eines erteilten Eichscheines durchgeführt worden ist.“