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OWi I: Einsicht in Messunterlagen zur Messung, oder: Alles muss auf den Tisch

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Und heute dann mal – seit längerem – wieder OWi-Entscheidungen. Zwei der vorgestellten OLG-Entscheidungen befassen sich (noch einmal) mit dem Einsichtsrecht des Verteidigers/Betroffenen in Messdaten und Messunterlagen. Zu diesen beiden Entscheidungen stelle ich, da sie umfangreich begründet sind, nur die Leitsätze vor.

Und schon hier der Hinweis: Beide Entscheidungen sind nicht „Mainstream“.

Ich beginne mit dem OLG Karlsruhe, Beschl. v. 22.08.2023 – 1 ORbs 34 Ss 468/23 . Dem liegt das übliche „Procedere“ zugrunde“. Der Verteidiger hat beantragt, ihm (Mess)Unterlagen zur Verfügung zu stellen. Die erhält er nicht. Nach Verurteilung des Mandanten Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde, die Erfolg hat.

Hier der Leitsatz zur Entscheidung – Rest dann bitte im Volltext lesen:

  1. Die Verwaltungsbehörde hat dem Verteidiger der Betroffenen oder einem von diesem beauftragten Sachverständigen auf seinen Antrag sämtliche auch nicht bei den Akten befindliche amtliche Messunterlagen zur Verfügung stellen, die erforderlich sind, um der Betroffenen zu ermöglichen, die Berechtigung des auf das Ergebnis eines (standardisierten) Messverfahrens gestützten Tatvorwurfs mit Hilfe eines Sachverständigen selbständig zu überprüfen.

  2. Ein Beweisverwertungsverbot für Messdaten entsteht nicht daraus, dass das verwendete Messgerät sogenannte Rohmessdaten nicht speichert.

OWi III: Nochmals Dauerbrenner im Bußgeldverfahren, oder: Umfang der Einsicht in Messunterlagen

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Und als letzte Entscheidung dann noch etwas zum Dauerbrenner im Bußgeldverfahren: Umfang der Einsicht in Messunterlagen. Es handelt sich um den AG Lippstadt, Beschl. v. 03.07.2023 – 7 OWi-32 Js 876/23-125/23.

Das übliche Vorspiel: Der Verteidiger begeht Einsicht in (Mess)Unterlagen, und zwar        Messprotokoll/Einsatzprotokoll, Eichschein, Schulungsbescheinigung, Gebrauchsanweisung (und zwar auch für etwaige Sonderbauten), Lebensakte und Falldatensatz (ESO 3.0 und 8.0). Die Unterlagen erhält er.

Der dann beauftragte Sachverständige hätte dann noch gerne Konformitätsbescheinigung, Konformitätserklärung, Wartungs- und Reparaturhinweise nach § 31 Abs. 2 Nr. 4 MessEG,      Fotoliniendokumentation als Falldatei im eso-Format, alle Falldateien des Messeinsatzes im eso-Format, Statistikdatei mit der Bezeichnung ES30Stat_…txt, Rohmessdaten, d. h. die digitalisierten, unselektierten, nicht von einem Algorithmus verarbeiteten Messsignale.

Die gibt es nicht. Der daraufhin gestellte Antrag auf gerichtliche Entscheidung hat (teilweise) Erfolg:

„1. a) Dem Betroffenen – wie auch seinem Verteidiger – steht aufgrund des verfassungsrechtlich verbürgten Rechts auf ein faires Verfahren ein erschöpfendes Akteneinsichtsrecht zu, das aus Art. 20 Abs. 3 i. V. m. Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland abgeleitet und einfachgesetzlich durch Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention i. V. m. § 46 Abs. 1 OWiG i. V. m. § 147 Abs. 1, Abs. 4 StPO ausgestaltet wird.

Entgegen dem insoweit nicht abschließenden Wortlaut, der lediglich die dem Gericht vorliegenden oder vorzulegenden (§ 69 Abs. 4 S. 2 OWiG) Akten in Bezug nimmt, sind vom Akteneinsichtsrecht auch jene amtlichen Unterlagen erfasst, die zwar kein originärer Bestandteil der Verfahrensakte sind, jedoch aus Sicht der Verteidigung für die Prüfung des Tatvorwurfs benötigt werden (siehe BVerfG, Kammerbeschluss vom 12.11.2020, Az. 2 BvR 1616/18; OLG Koblenz, Beschluss vom 20.05.2020, Az. 2 OWi 6 SsRs 118/19 m. w. N.). Hierunter subsumieren in Bußgeldverfahren, denen eine Verkehrsordnungswidrigkeit zugrunde liegt, auch die den Eichzeitraum betreffenden Wartungs- und Instandsetzungsnachweise (sog. ‚Lebensakte‘, ,Geräteakte‘, etc.).

Bei einem standardisierten Messverfahren, wie es auch im Falle des Messgeräts ESO ES 3.0 vorliegt, sind an die Beweisführung des erkennenden Gerichts deutlich reduzierte Anforderungen gestellt. Eine nähere Überprüfung des Messergebnisses ist erst und nur dann veranlasst, sofern tatsachenfundierte Anhaltspunkte für Messfehler virulent geworden sind (siehe BVerfG a. a. 0.). Hieran anknüpfend ist es dem Betroffenen unbenommen, Zweifel an der Richtigkeit des Messergebnisses vorzubringen, alsdann Beweisanregungen zu unterbreiten oder durch explizite Formulierung eines Beweisantrags gestaltend auf das Ergebnis der Beweisaufnahme einzuwirken (siehe BVerfG, Beschluss vom 12.01.1983, Az. 2 BvR 864/81; OLG Bamberg, Beschluss vom 13.06.2018, Az. 3 Ss OWi 626/18). Diese prozessualen Optionen vermag der Betroffene aber nur dann einzulösen, wenn er auch von solchen Inhalten Kenntnis erlangt, die zwar nicht zur Verfahrensakte genommen, aber doch zum Zwecke der Ermittlungen angelegt worden sind (siehe BVerfG, Kammerbeschluss vom 12.11.2020, Az. 2 BvR 1616/18).

In diesem Sinne ist die Verwaltungsbehörde gemäß § 31 Abs. 2 Nr. 4 MessEG -ungeachtet der Bezeichnung einer solchen Dokumentation (,Lebensakte‘, ‚Geräteakte‘, etc.) – verpflichtet, Nachweise über Wartungen, Reparaturen und sonstige Eingriffe am Messgerät zu erstellen und für den dort genannten Zeitraum aufzubewahren. Gleiches gilt für die weiteren im Tenor bezeichneten Unterlagen.

b) Dies zugrunde gelegt ist der namens des Betroffenen gestellte Antrag des Verteidigers vom 13.12.2022/14.02.2023 dahin auszulegen, dass dieser die Zugänglichmachung derjenigen Aktenbestandteile begehrt, die sich nicht bei der Verfahrensakte befinden, um mit ihrer Hilfe einen Überblick über die für die Verteidigung ggf. relevanten Informationen zu gewinnen, und das Messergebnis eigenständig überprüfen zu können.

Diesem Antrag hat die Verwaltungsbehörde nach Maßgabe der vorstehenden Ausführungen zu entsprechen. Denn es ist – im Interesse einer effektiven Verteidigung – allein Sache des Betroffenen bzw. des Verteidigers, darüber zu befinden, welche Unterlagen zur Überprüfung des Messergebnisses herangezogen werden sollen und welche nicht. Hierzu ist er aber nur dann in der Lage, wenn ihm sämtliche von der Verwaltungsbehörde geführten Aktenbestandteile uneingeschränkt und ohne selektive Vorauswahl zur Verfügung gestellt werden. Wird ihm dagegen ein Teil der Unterlagen von Vornherein vorenthalten, so ist hierin eine unzulässige Beschränkung der Verteidigung zu erblicken.

So liegt es hier. Die bis anhin zur Einsicht überlassenen Aktenbestandteile sind nicht ausreichend, das eingangs skizzierte Akteneinsichtsrecht des Betroffenen bzw. des Verteidigers vollumfänglich zu erfüllen. Zwar hat die Verwaltungsbehörde die mit anwaltlichem Schriftsatz vom 13.12.2022 erbetenen Unterlagen weitüberwiegend zur Verfügung gestellt. Hinsichtlich der mit Schreiben vom 14.02.2023 angeforderten Unterlagen, insbesondere der Dokumentation gemäß § 31 Abs. 2 Nr. 4 MessEG (,Geräteakte‘) sowie der weiteren Falldateien des Messeinsatzes im eso-Format hat sie dem Ersuchen des Verteidigers hingegen nicht entsprochen. Zu etwaigen Reparaturen oder vergleichbaren Eingriffen, welche ggf. im Zeitraum vom 16.05.2022 bis zum 20.10.2022 vorgenommen worden sein könnten, hat sie sich nicht verhalten. Hieraus lassen sich indes – aus der Perspektive des Betroffenen bzw. des Verteidigers – keine zureichenden Anhaltspunkte dafür entnehmen, welche Unterlagen tatsächlich bei der Verwaltungsbehörde geführt werden, und welche Informationen diese ggf. enthalten (siehe OLG Zweibrücken, Beschluss vom 27.04.2021, Az. 1 OWi 2 SsRs 173/20 m. w. N.).

Aus diesem Grund sind die im Tenor bezeichneten Unterlagen zum Zwecke der Akteneinsicht zur Verfügung zu stellen, jedenfalls aber die Gründe zu benennen, aus denen dies ggf. nicht möglich ist.“

OWi III: Umfang der Einsicht in Messunterlagen, oder: Der Verteidiger bekommt alles

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Und zum Tagesschluss dann noch etwas zur (Akten)Einsicht (in Messunterlagen) im Bußgeldverfahren. Nichts Neues, aber ein kleiner Reminder an die Problematik.

Das AG Köln hat im AG Köln, Beschl. v. 21.06.2023 – 805 OWi 96/23 [b]  – beschlossen, dass dem Verteidiger auf Antrag die vollständige Messreihe zur Verfügung zu stellen ist:.

„Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist begründet.

Dem Verteidiger ist auf Antrag die vollständige Messreihe zur Verfügung zu stellen. Ein entsprechender Anspruch ergibt sich aus § 46 OWiG in Verbindung mit § 147 StPO. Ohne die Herausgabe der entsprechenden Daten würde der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt. Wird ein standardisiertes Messverfahren eingesetzt, muss der Betroffene zur Verteidigung konkrete Einwendungen gegen die Messung vorbringen. Das standardisierte Messverfahren bewirkt in diesem Sinne eine Beweislastumkehr, da der Betroffene konkret die Richtigkeit der Messung entkräften muss. Dies ist ihm nicht möglich, wenn er keine vollständige Überprüfung der Messung durchführen kann, was wiederum voraussetzt, dass ihm alle vorhandenen Daten, insbesondere die gesamte Messreihe, zugänglich gemacht werden. Auch ist eine Begrenzung der herauszugebenden Datensätze, bspw. lauf fünf oder acht weitere Messungen aus der Messreihe, nicht statthaft. Der Betroffene muss selbst die Messreihe sichten können, um entscheiden zu können, welche anderen Messungen er anführen möchte um die Fehler in seiner Messung belegen zu können. Eine Vorauswahl durch das Gericht, indem dem Betroffenen nur eine bestimmte Anzahl anderer Messungen oder nur Messungen an bestimmten Positionen der Messreihe zugänglich gemacht werden, würden eine weitere Einschränkung der Verteidigungsmöglichkeiten darstellen, da andere Messungen, ohne dass diese hätten geprüft werden können, von vorne herein aus der möglichen Beweisführung ausgenommen werden.

Die Stellungnahme der PTB vom 30.03.2020 ändert hieran nach Auffassung des Gerichts nichts. Soweit die PTB anführt, dass die gesamte Messreihe sehr lang sein könnte und daher praktisch nicht auswertbar sei, stellt dies keinen Grund gegen‘ die Herausgabe dar. Die Auswertung, auch wenn sie ggf. lange dauert oder umfangreich ist, ist die Entscheidung des Betroffenen. Hinsichtlich der weiteren dort aufgeführten Punkte haben gerichtliche Sachverständige in der Vergangenheit die gesamte Messreihe untersucht und vorgetragen, diese zur Auswertung zu benötigen. Diese sachverständige Auskunft kann das Gericht mangels technischer Kenntnisse nicht überprüfen. Sie erscheint aber auch nicht von vorneherein unplausibel.

Gründe des Datenschutzes sprechen nicht gegen die Herausgabe, da die Interessen des Betroffenen ohne die Messreihe nicht gewahrt werden können und zudem die Möglichkeit besteht, die Messreihe zu anonymisieren. Die Daten werden zudem nur einem zur Verschwiegenheit verpflichteten Personenkreis (Rechtsanwalt und Sachverständiger) zur Verfügung gestellt. Letztlich handelt es sich um Daten, die durch die freiwillige Teilnahme am Straßenverkehr entstanden sind.

Diese Rechtsauffassung wird auch vom OLG Köln geteilt, Beschluss vom 30.05.2023, Az.: III-1 RBs 288/22.“

StPO II: Umfang eines Auskunftsverweigerungsrechts, oder: Verdacht für frühere falsche Verdächtigung

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Bei der zweiten StPO-Entscheidung des 6. Strafsenats, die ich vorstelle, handelt es sich um das BGH, Urt. v. 14.12.2022 – 6 StR 338/22. Ergangen ist das Urteil in einem Verfahren wegen Erwerbs von Betäubungsmitteln u.a.

Das LH hat den Angeklagten wegen Erwerbs von Betäubungsmitteln verurteilt. Im Übrigen
hat es den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Gegen den Teilfreispruch sowie die unterbliebene Verurteilung wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer auf Verfahrensrügen und die Sachrüge gestützten Revision. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel blieb ohne Erfolg, weil die StA nach Auffassung des BGH die Verfahrensrüge nicht ausreichend begründet hatte:

„Nach den Feststellungen erwarb der – insoweit geständige – Angeklagte einige Tage vor dem 23. September 2020 zum Eigenkonsum von einem unbekannt gebliebenen Lieferanten 20 g Marihuana und 2 g Methamphetamin (Fall 26 der Anklageschrift). Von den weiteren Anklagevorwürfen, von August 2019 bis April 2020 in 25 Fällen mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge Handel getrieben zu haben, indem er jeweils 10 g Methamphetamin an den Zeugen H. gewinnbringend verkauft habe, hat das Landgericht ihn aus tatsächlichen Gründen freigesprochen (Fälle 1 bis 25 der Anklageschrift). Zur Begründung hat es namentlich ausgeführt, dass H. und der Angeklagte zwar langjährige Bekannte gewesen seien, die gelegentlich unentgeltlich Betäubungsmittel für den Eigenkonsum ausgetauscht hätten. Feststellungen zu Verkaufsgeschäften des Angeklagten hätten sich mit Blick auf das Bestreiten des Angeklagten, die umfassende Auskunftsverweigerung (§ 55 StPO) des einzigen unmit-
telbaren Belastungszeugen H. sowie dessen teilweise widersprüchlichen und insgesamt nicht glaubhaften Angaben im Ermittlungsverfahren aber nicht treffen lassen.

II.

Den Verfahrensrügen, mit denen die Staatsanwaltschaft einerseits eine Verletzung der Aufklärungspflicht und andererseits die rechtsfehlerhafte Ablehnung eines Beweisantrags beanstandet, bleibt der Erfolg versagt.

1. Nach dem Vortrag der Beschwerdeführerin liegt ihnen folgendes Verfahrens-
geschehen zugrunde:

Das Landgericht ordnete die Vorführung des Zeugen H. an, der rechtskräftig wegen Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 25 Fällen, nach vorangegangenem Erwerb vom Angeklagten (entspricht den Fällen 1 bis 25 der Anklageschrift), verurteilt worden war. Zum zweiten Hauptverhandlungstermin erschien der Zeuge, berief sich auf sein Auskunftsverweigerungsrecht und wurde sodann „im allseitigen Einvernehmen“ entlassen. Am folgenden Sitzungstag beanstandete der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft die Anordnung des Vorsitzenden, wegen eines vermeintlich umfassenden Auskunftsverweigerungsrechts von „der Vernehmung des Zeugen … abzusehen“. Überdies beantragte er für den Fall, dass „das Gericht entgegen der bisherigen Anordnung von einem Nichtbestehen eines umfassenden Auskunftsverweigerungsrechts des Zeugen“ ausgehen sollte, dessen erneute Ladung und Vernehmung. Das Gericht bestätigte die sachleitende Anordnung und zugleich die Bewertung, dass dem Zeugen ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht zustehe.

2. Die Aufklärungsrüge (§ 244 Abs. 2 StPO), mit der die Beschwerdeführerin beanstandet, das Landgericht habe unter Verstoß gegen § 55 Abs. 1, § 244 Abs. 2 StPO von der Sachvernehmung des Zeugen H. abgesehen, bleibt ohne Erfolg.

a) Die Verfahrensbeanstandung ist bereits nicht ordnungsgemäß ausgeführt (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO).

aa) Denn eine zulässig erhobene Aufklärungsrüge setzt voraus, dass der Revisionsführer eine bestimmte Beweistatsache und die für die Beweiseignung und -bedeutung im Zeitpunkt der Hauptverhandlung wichtigen Umstände angibt, aufgrund derer sich das Tatgericht zu der vermissten Beweiserhebung hätte gedrängt sehen müssen (st. Rspr., vgl. BGH, Urteile vom 15. September 1998 – 5 StR 145/98, NStZ 1999, 45; vom 18. Juli 2019 – 5 StR 649/18, Beschlüsse vom 18. August 1993 – 3 StR 469/93, BGHR StPO § 344 Abs. 2 Satz 2 Aufklärungsrüge 7; vom 1. Juli 2010 – 1 StR 259/10, NStZ-RR 2010, 316).

bb) Daran fehlt es hier. Die zusammenfassende Würdigung der Zeugenaussagen von H. und R. im Beschluss der Strafkammer ersetzt die notwendige vollständige Mitteilung ebenso wenig wie die in Bezug genommenen Chatnachrichten.

Auch die Berücksichtigung der Urteilsgründe, die der Senat auf die erhobene Sachrüge hin zur Kenntnis nimmt, ändert an der Unvollständigkeit des Rügevorbringens nichts (vgl. BGH, Urteile vom 20. März 1990 – 1 StR 693/89, BGHSt 36, 384, 385; vom 26. Mai 1992 – 5 StR 122/92, NJW 1992, 2304, 2305; vom 23. September 1999 – 4 StR 189/99, BGHSt 45, 203, 205). Zwar werden dort Angaben des Zeugen H. wiedergegeben. Eine revisionsgerichtliche Überprüfung anhand dieser Zusammenfassung und eingedenk der nur unvollständig mitgeteilten Chatinhalte wird
hier aber nicht ermöglicht.

b) Die Verfahrensrüge wäre vor dem Hintergrund des mitgeteilten Verfahrensgeschehens und eingedenk des begrenzten revisionsgerichtlichen Prüfungsumfangs (vgl. BGH, Urteile vom 28. November 1997 – 3 StR 114/97, BGHSt 43, 321, 326; vom 16. November 2006 – 3 StR 139/06, BGHSt 51, 144, 148) auch unbegründet. Die Strafkammer hat den Umfang des Auskunftsverweigerungsrechts nicht verkannt. Zwar ist in § 55 StPO nur von der Auskunftsverweigerung auf einzelne Fragen die Rede. Jedoch kann ein Zeuge die Auskunft dann insgesamt verweigern, wenn seine Aussage mit seinem etwaigen strafbaren Verhalten in so engem Zusammenhang steht, dass eine Trennung nicht möglich ist (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Mai 1987 – I BGs 286/87, StV 1987, 328, 329; Urteil vom 9. Juli 1991 – 1 StR 312/91, BGHR StPO § 55 Abs. 1 Verfolgung 1). Von einem solchen Zusammenhang ging die Strafkammer in rechtlich nicht zu beanstandender Weise aus. Sie hat konkrete Anhaltspunkte dafür dargelegt, dass der Zeuge im Fall einer Aussage in der Hauptverhandlung Verdachtsmomente für eine frühere falsche Verdächtigung des Angeklagten (§ 164 StGB) liefern würde. Hierfür hat sie insbesondere auf aussageimmanente Widersprüche und auf Inhalte von Chatnachrichten abgehoben, die sich teilweise als unvereinbar mit seinen Angaben erwiesen hätten.

3. Ohne Erfolg beanstandet die Beschwerdeführerin auch, dass die Strafkammer ihren hilfsweise gestellten „Beweisantrag“ auf Vernehmung des Zeugen H. nicht beschieden habe.

a) Schon die prozessuale Bedingung, an welche die Beschwerdeführerin ihr
Beweiserhebungsbegehren selbst geknüpft hat, war nicht eingetreten. Nach Ansicht
der Strafkammer stand dem Zeugen nämlich ein umfassendes Aussageverweige-
rungsrecht nach § 55 StPO zu.

b) Überdies handelte es sich hier – mangels einer konkreten Beweisbehauptung – nicht um einen förmlichen Beweisantrag (§ 244 Abs. 3 Satz 1 StPO), sondern lediglich um eine, nach Sachaufklärungsgesichtspunkten (§ 244 Abs. 2 StPO) zu behandelnde, Beweisanregung. Dies gilt auch vor dem Hintergrund, dass in der Erklärung des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft zugleich ein „Widerruf“ des von diesem zuvor erklärten Einverständnisses nach § 245 Abs. 1 Satz 2 StPO gesehen werden könnte. Denn die Prozesserklärung, nicht mehr an dem zuvor erteilten, freilich aber unwiderruflichen Einverständnis mit dem Absehen von der Beweiserhebung festhalten zu wollen, genügt den gesetzlichen Anforderungen eines Beweisantrags nicht
(aA Krehl in: KK-StPO, 9. Aufl., § 245 Rn. 22; Sättele in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, StPO, 5. Aufl., § 245 Rn. 18), weil hiermit jedenfalls keine hinreichend konkrete Tatsache unter Beweis gestellt wird, auf welche die gesetzlichen Ablehnungsgründe sinnvoll angewendet werden könnten (Becker in: Löwe-Rosenberg, 27. Aufl., § 245 Rn. 38; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 245 Rn. 14; Arnoldi, NStZ 2018, 305, 308).“

Was wird von den „Pflichtigebühren“ angerechnet?, oder: Alles wird angerechnet

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Und heute dann noch zum Wochenausklang RVG- bzw. Kostenentscheidungen.

Zunächst stelle ich den LG Koblenz, Beschl. v. 07.11.2022 – 9 Qs 74/22 – vor, der sich noch einmal mit der Frage der Anrechnung der Pflichtverteidigergebühren im Rahmen der Kostenerstattung befasst.

Die Staatsanwaltschaft hat die Angeklagte wegen gewerbsmäßigen Diebsstahls in sechs Fällen angeklagt. Der Kollege Herzog aus Koblenz, der mir den Beschluss geschickt hat, ist der Angeklagten als Pflichtverteidiger beigeordnet worden. Das AG hat die Angeklagte – nach Einstellung des Verfahrens gern. § 154 Abs. 2 StPO im Übrigen – wegen Urkundenfälschung in zwei Fällen und Diebstahls unter Einbeziehung einer anderen Strafe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von elf Monaten verurteilt. Wegen eines weiteren versuchten Diebstahls wurde sie darüber hinaus zu einer weiteren Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt.

Auf die Berufung der Angeklagten hat das LG diese wegen Diebstahls in drei Fällen, wobei es in einem Fall beim Versuch blieb, und der Urkundenfälschung in zwei weiteren Fällen schuldig gesprochen und zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die Kosten des Berufungsverfahrens wurde einem damals weiteren Mitangeklagten und der Angeklagten auferlegt – dieser jedoch mit Ausnahme ihrer notwendigen Auslagen, die der Staatskasse auferlegt wurden.

Mit seinem Kostenfestsetzungsantrag hat der Kollege die Festsetzung seiner Pflichtverteidigergebühren für die erste und zweite Instanz in Höhe von 4.817,54 EUR beantragt. Die Kostenfestsetzung erfolgte antragsgemäß, der festgesetzte Betrag wurde angewiesen. Mit einem weiteren Kostenfestsetzungsantrag hat der Kollege dann beantragt, zusätzlich für das Berufungsverfahren Wahlverteidigergebühren in Höhe von 233,24 EUR (insgesamt 919,87 EUR abzüglich der bereits festgesetzten und ausgezahlten Pflichtverteidigervergütung für die zweite Instanz in Höhe von 686,63 EUR) festzusetzen. Zugleich legte er eine Abtretungsvereinbarung vor.

Die Bezirksrevisorin beim LG hat beantragt, die Gebühren und Auslagen auf 0,00 EUR festzusetzen, da infolge einer Anrechnung der bereits vom Verteidiger bezogenen Pflichtverteidigervergütung für das Verfahren erster und zweiter Instanz nach § 52 Abs. 1 Satz 2 RVG kein festzusetzender Betrag mehr verbleibe. Der Kollege hat hierzu gemeint, die Bezirksrevisorin verstehe die von ihr selbst in Bezug genommene Rechtsprechung und Literatur völlig falsch, die Wahlverteidigervergütung sei höher, als die gezahlte Pflichtverteidigervergütung zuzüglich der beantragten Differenz zur Wahlverteidigervergütung. Das AG hat den Kostenfestsetzungsantrag zurückgewiesen. Die ausgezahlte Pflichtverteidigervergütung sei auf die Wahlanwaltsvergütung anzurechnen. Insoweit werde alleine auf den gesamten Erstattungsbetrag abgestellt, den der Verteidiger aus der Staatskasse erhalten habe – unabhängig davon, für welche Verfahrensabschnitte er diesen Betrag erhalten habe. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde des Kollegen hatte beim LG keinen Erfolg:

„Zu Recht hat das Amtsgericht Koblenz den Antrag des weiteren Beteiligten auf Festsetzung einer Wahiverteidigervergütung zurückgewiesen.

Die mit dem Kostenfestsetzungsantrag geltend gemachte Vergütung für den Berufungsrechtszug ist tatsächlich angefallen, jedoch ist von dem geltend gemachten Betrag in Höhe von noch 233,24 Euro die dem Verteidiger bereits ausgezahlte Pflichtverteidigervergütung in Abzug zu bringen. Da diese die geltend gemachte Wahlverteidigervergütung um ein Vielfaches übersteigt, war die aus-zuzahlende Vergütung im Ergebnis auf 0,00 Euro festzusetzen.

Zwar war der Verteidiger der Verurteilten zum Pflichtverteidiger bestellt und auch im Berufungsrechtszug als solcher tätig, doch ist wegen der Regelung des § 52 Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz, Abs. 2 Satz 1 RVG es möglich, anstatt der dem Verteidiger zustehenden Pflichtverteidigergebühren für das Verfahren zweiter Instanz für letzteres Wahlverteidigergebühren auf Grundlage der vom Landgericht Koblenz getroffenen Kostengrundentscheidung zu Lasten der Staatskasse abzurechnen.

Denn nach § 52 Abs. 1 1. Halbsatz RVG kann auch der gerichtlich bestellte Rechtsanwalt von dem Beschuldigten die Zahlung der Gebühren eines gewählten Verteidigers verlangen, wenn und soweit dem Beschuldigten ein Erstattungsanspruch gegen die Staatskasse zusteht (§ 52 Abs. 2 Satz 1 RVG).

Dies ist hier geschehen.

Der dem Verurteilten gerichtlich beigeordnete Verteidiger hat auf Grundlage der Kostengrundentscheidung des Landgerichts Koblenz mit seinem Kostenfestsetzungsantrag – nach Abtretung eines vermeintlich bestehenden Anspruchs des Verurteilten – eine Wahlverteidigervergütung beansprucht und hiermit das sich aus § 52 Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz RVG ergebende Wahlrecht ausgeübt.

In § 52 Abs. 1 Satz 2 RVG ist allerdings weiter geregelt, dass der Anspruch des Verteidigers gegen den Beschuldigten insoweit entfällt, als die Staatskasse Gebühren gezahlt hat.

Hier hat die Staatskasse bereits eine Pflichtverteidigervergütung in Höhe von 4.817,54 Euro an den Verteidiger ausgezahlt, die die nunmehr geltend gemachte Wahlverteidigervergütung übersteigen.

Die durch diese Regelung erfolgte Verrechnung der Vergütungsansprüche hat ihren sachlichen Grund in dem Umstand, dass es sich bei der an den Pflichtverteidiger gezahlte Vergütung um Kosten des Verfahrens handelt, die der Beschuldigte im Falle seiner Verurteilung zu tragen hat und hinsichtlich derer ein Zahlungsanspruch der Staatskasse gegen den Beschuldigten besteht (vgl. Gerold/Schmidt/Burhoff, RVG-Kommentar, 25. Auflage 2021, § 52 Rdnr. 15 m. w. N.). Durch die Regelung des § 52 Abs. 1 Satz 2 RVG wird mithin lediglich eine ansonsten erforderliche ausdrückliche Aufrechnungserklärung der Staatskasse obsolet.“

Die Entscheidung ist zutreffend und entspricht der inzwischen h.M. in der Rechtsprechun, von der ein Teil auch auf meiner Homepage steht. Wegen der genauen Fundstellen verweise ich auf die Entscheidungen zu § 52 RVG und auf die Kommentierung zu § 52 RVG im RVG-Kommentar.