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StPO III: Absehen von der Zeugenvernehmung, oder: Beanstandung der Vorsitzendenentscheidung erfolgt?

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Und dann zum Tagesschluss noch der BGH, Beschl. v. 12.09.2023 – 4 StR 179/23.

Das LG hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung verurteilt. Die Revision des Angeklagten bleibt ohne Erfolg:

„2. Die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Näherer Erörterung bedarf lediglich die Rüge, die Strafkammer habe unter Verstoß gegen § 55 Abs. 1, § 244 Abs. 2 StPO von der Sachvernehmung der Zeugin E. abgesehen.

a) Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

Nachdem sich der Angeklagte zu Beginn der eintägigen Hauptverhandlung durch Verteidigererklärung zur Sache eingelassen hatte, wurde die Zeugin E. in den Zeugenstand gerufen. Dort berief sie sich über den ihr als Zeugenbeistand bestellten Rechtsanwalt auf ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 Abs. 1 StPO. Sodann wurde die Zeugin im allseitigen Einverständnis von der Vorsitzenden entlassen.

b) Die Rüge ist unzulässig, weil der verteidigte Angeklagte nicht vom Zwischenrechtsbehelf nach § 238 Abs. 2 StPO Gebrauch gemacht hat. Die Entscheidung, ob und in welchem Umfang ein Zeuge durch seine Aussage eine Verfolgungsgefahr im Sinne des § 55 Abs. 1 StPO begründen kann und daher die Auskunft verweigern darf, unterliegt als Maßnahme der Sachleitung weitgehend der wertenden Beurteilung des Vorsitzenden. Hält ein Verfahrensbeteiligter dessen Entscheidung für rechtsfehlerhaft und damit für unzulässig, hat er gemäß § 238 Abs. 2 StPO die Möglichkeit, hiergegen den gesamten Spruchkörper anzurufen. Unterlässt der verteidigte Angeklagte dies, kann er in der Revisionsinstanz mit einer entsprechenden Rüge, durch die er sich in Widerspruch zu seinem früheren Verhalten setzen würde, nicht mehr gehört werden. Auch liegt hierin keine unzulässige Einschränkung der Rüge, das Gericht habe durch das teilweise oder völlige Unterlassen der Sachvernehmung des Zeugen seine Aufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2 StPO verletzt. Denn da durch die Anordnung des Vorsitzenden die Beschränkung der gerichtlichen Sachaufklärung zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht wird, kann der Verstoß gegen die Pflicht zur Erforschung der Wahrheit über § 238 Abs. 2 StPO bereits dort beanstandet werden. Wird dies – wie vorliegend – unterlassen, muss daher nicht zusätzlich und unabhängig davon die Aufklärungsrüge im Revisionsverfahren eröffnet sein (vgl. BGH, Urteil vom 16. November 2006 ‒ 3 StR 139/06, BGHSt 51,144 Rn. 22, 26; Schmitt in Meyer-Goßner, 66. Aufl., § 55 Rn. 16; KK-StPO/Bader, 9. Aufl., § 55 Rn. 19 mwN).“

StPO I: Einiges zur Durchsuchungsanordnung, oder: Reichsbürger, anonyme Anzeige, BtM-Zusendung u.a.,

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Heute dann StPO-Entscheidungen.

Den Opener machen hier einige LG-Entscheidungen zur Durchsuchung, und zwar zu den Anordnungsvoraussetzungen. Da sind ja meist die LG die „letzte Instanz“. Eine Entscheidung stammt aber nicht „aus der StPO“.

Hier sind dann folgende Entscheidungen, allerdings nur mit den Leitsätzen:

Ein geltend gemachtes Auskunftsverweigerungsrecht hindert nicht, dass gegen die auskunftsverweigerende Person ein Ermittlungsverfahren eingeleitet werden kann. Treten weitere Anhaltspunkte hinzu, ist die Strafverfolgungsbehörde nicht gehindert, eine Durchsuchung mit dem Ziel, weitere Beweismittel aufzufinden, zu veranlassen, um einen bestehenden Tatverdacht zu überprüfen, sofern sich dieselbe nicht als unverhältnismäßig darstellt.

Eine anonyme Anzeige kann nur dann als Grundlage für eine Durchsuchung genügen, wenn sie von beträchtlicher sachlicher Qualität ist oder mit ihr zusammen schlüssiges Tatsachenmaterial vorgelegt wurde.

Zur Bejahung eines für die Anordnung einer Durchsuchung erforderlichen Anfangsverdachts bei BtM-Zusendungen.

Allein die Zugehörigkeit zu der Reichsbürgerbewegung stellt noch keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung dar.

 

StPO II: Zeugenaussage über intimste Lebensbereiche, oder: Bei Weigerung, kein Zeugniszwang

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Als zweite Entscheidung habe ich dann hier das AG Menden, Urt. v. 17.11.2022 – 8 Ls-362 Js 334/20-13/20. Hängt schon etwas länger in meinem Ordnet, jetzt passt es aber endlich.

Dem jugendlichen Angeklagten wird der Vorwurf der Vergewaltigung von zwei Frauen gemacht. Das AG hat ihn frei gesprochen:

„Nach Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens der Sachverständigen pp., an dem nur die Nebenklägerin pp. mitzuwirken bereit war, erwies sich deren Aussage aufgrund der plausiblen und überzeugenden Würdigung der Sachverständigen nicht als hinreichend belastbar; sogar eine bewusste Falschaussage war nicht ausschließbar. Vor diesem Hintergrund war es hinzunehmen, dass die Nebenklägerin von ihrem Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO Gebrauch machte. Andererseits standen auch keine hinreichenden weiteren Beweismittel zur Verfügung, um den Beweis der angeklagten Tat führen zu können.

Die weitere Geschädigte war weder bereit sich der aussagepsychologischen Begutachtung zu unterziehen noch vor Gericht auszusagen. Ihr fester Wille, die Vorfälle nicht erneut in ihre Erinnerung zu rufen und für sich aufzuarbeiten, bedingte im vorliegenden Fall, dass das Gericht sich nicht befugt sah, sie zu einer Aussage zu zwingen. Wie vom Bundesverfassungsgericht bereits ausgesprochen, folgt im Einzelfall ausnahmsweise und unter ganz besonders strengen Voraussetzungen eine Begrenzung des Zeugniszwangs unmittelbar aus der Verfassung, wenn die Vernehmung wegen der Eigenheit des Beweisthemas in den durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG grundsätzlich geschützten Bereich der privaten Lebensgestaltung des einzelnen, insbesondere seine Intimsphäre, eingreifen würde, siehe BVerfG, NJW 1972, S. 2214, 2215. Vorliegend greift die erzwungene Vernehmung gravierend sowohl in intimste Lebensbereiche der Zeugin – nämlich ihre persönliche Bewältigung sexueller Geschehnisse – als auch in ihre Gesundheit ein. Die Zeugin hat sich dazu entschieden, das Erfahrene selbst aufzuarbeiten und nicht zum Gegenstand gerichtlicher Untersuchung zu machen, da sie dies nachvollziehbar für sich persönlich als erhebliche psychische und damit auch gesundheitliche Belastung würdigt und einordnet. Da die Zeugin die entsprechenden Vorgänge selbst nie angezeigt hat und in vorliegendes Verfahren erst über ein halbes Jahr nach den eigenen Erlebnissen hineingezogen ist, war ihr Entschluss zur Nichtoffenbarung offensichtlich gereift und entsprechend das persönliche Belastungserleben sehr plausibel. Diesen gereiften Entschluss zu durchbrechen erachtet das Gericht als unvereinbar mit der Achtung von Würde und Gesundheit der Zeugin als elementaren Grundrechten derselben.

Angesichts der eher kurzen polizeilichen Vernehmung der Zeugin war in vorliegender Aussage-gegen-Aussage-Konstellation die Feststellung einer eine Verurteilung tragenden hinreichenden Aussagequalität nicht möglich, sodass der Angeklagte aufgrund nicht zu beseitigender Zweifel freizusprechen war.“

StPO II: Umfang eines Auskunftsverweigerungsrechts, oder: Verdacht für frühere falsche Verdächtigung

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Bei der zweiten StPO-Entscheidung des 6. Strafsenats, die ich vorstelle, handelt es sich um das BGH, Urt. v. 14.12.2022 – 6 StR 338/22. Ergangen ist das Urteil in einem Verfahren wegen Erwerbs von Betäubungsmitteln u.a.

Das LH hat den Angeklagten wegen Erwerbs von Betäubungsmitteln verurteilt. Im Übrigen
hat es den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Gegen den Teilfreispruch sowie die unterbliebene Verurteilung wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer auf Verfahrensrügen und die Sachrüge gestützten Revision. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel blieb ohne Erfolg, weil die StA nach Auffassung des BGH die Verfahrensrüge nicht ausreichend begründet hatte:

„Nach den Feststellungen erwarb der – insoweit geständige – Angeklagte einige Tage vor dem 23. September 2020 zum Eigenkonsum von einem unbekannt gebliebenen Lieferanten 20 g Marihuana und 2 g Methamphetamin (Fall 26 der Anklageschrift). Von den weiteren Anklagevorwürfen, von August 2019 bis April 2020 in 25 Fällen mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge Handel getrieben zu haben, indem er jeweils 10 g Methamphetamin an den Zeugen H. gewinnbringend verkauft habe, hat das Landgericht ihn aus tatsächlichen Gründen freigesprochen (Fälle 1 bis 25 der Anklageschrift). Zur Begründung hat es namentlich ausgeführt, dass H. und der Angeklagte zwar langjährige Bekannte gewesen seien, die gelegentlich unentgeltlich Betäubungsmittel für den Eigenkonsum ausgetauscht hätten. Feststellungen zu Verkaufsgeschäften des Angeklagten hätten sich mit Blick auf das Bestreiten des Angeklagten, die umfassende Auskunftsverweigerung (§ 55 StPO) des einzigen unmit-
telbaren Belastungszeugen H. sowie dessen teilweise widersprüchlichen und insgesamt nicht glaubhaften Angaben im Ermittlungsverfahren aber nicht treffen lassen.

II.

Den Verfahrensrügen, mit denen die Staatsanwaltschaft einerseits eine Verletzung der Aufklärungspflicht und andererseits die rechtsfehlerhafte Ablehnung eines Beweisantrags beanstandet, bleibt der Erfolg versagt.

1. Nach dem Vortrag der Beschwerdeführerin liegt ihnen folgendes Verfahrens-
geschehen zugrunde:

Das Landgericht ordnete die Vorführung des Zeugen H. an, der rechtskräftig wegen Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 25 Fällen, nach vorangegangenem Erwerb vom Angeklagten (entspricht den Fällen 1 bis 25 der Anklageschrift), verurteilt worden war. Zum zweiten Hauptverhandlungstermin erschien der Zeuge, berief sich auf sein Auskunftsverweigerungsrecht und wurde sodann „im allseitigen Einvernehmen“ entlassen. Am folgenden Sitzungstag beanstandete der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft die Anordnung des Vorsitzenden, wegen eines vermeintlich umfassenden Auskunftsverweigerungsrechts von „der Vernehmung des Zeugen … abzusehen“. Überdies beantragte er für den Fall, dass „das Gericht entgegen der bisherigen Anordnung von einem Nichtbestehen eines umfassenden Auskunftsverweigerungsrechts des Zeugen“ ausgehen sollte, dessen erneute Ladung und Vernehmung. Das Gericht bestätigte die sachleitende Anordnung und zugleich die Bewertung, dass dem Zeugen ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht zustehe.

2. Die Aufklärungsrüge (§ 244 Abs. 2 StPO), mit der die Beschwerdeführerin beanstandet, das Landgericht habe unter Verstoß gegen § 55 Abs. 1, § 244 Abs. 2 StPO von der Sachvernehmung des Zeugen H. abgesehen, bleibt ohne Erfolg.

a) Die Verfahrensbeanstandung ist bereits nicht ordnungsgemäß ausgeführt (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO).

aa) Denn eine zulässig erhobene Aufklärungsrüge setzt voraus, dass der Revisionsführer eine bestimmte Beweistatsache und die für die Beweiseignung und -bedeutung im Zeitpunkt der Hauptverhandlung wichtigen Umstände angibt, aufgrund derer sich das Tatgericht zu der vermissten Beweiserhebung hätte gedrängt sehen müssen (st. Rspr., vgl. BGH, Urteile vom 15. September 1998 – 5 StR 145/98, NStZ 1999, 45; vom 18. Juli 2019 – 5 StR 649/18, Beschlüsse vom 18. August 1993 – 3 StR 469/93, BGHR StPO § 344 Abs. 2 Satz 2 Aufklärungsrüge 7; vom 1. Juli 2010 – 1 StR 259/10, NStZ-RR 2010, 316).

bb) Daran fehlt es hier. Die zusammenfassende Würdigung der Zeugenaussagen von H. und R. im Beschluss der Strafkammer ersetzt die notwendige vollständige Mitteilung ebenso wenig wie die in Bezug genommenen Chatnachrichten.

Auch die Berücksichtigung der Urteilsgründe, die der Senat auf die erhobene Sachrüge hin zur Kenntnis nimmt, ändert an der Unvollständigkeit des Rügevorbringens nichts (vgl. BGH, Urteile vom 20. März 1990 – 1 StR 693/89, BGHSt 36, 384, 385; vom 26. Mai 1992 – 5 StR 122/92, NJW 1992, 2304, 2305; vom 23. September 1999 – 4 StR 189/99, BGHSt 45, 203, 205). Zwar werden dort Angaben des Zeugen H. wiedergegeben. Eine revisionsgerichtliche Überprüfung anhand dieser Zusammenfassung und eingedenk der nur unvollständig mitgeteilten Chatinhalte wird
hier aber nicht ermöglicht.

b) Die Verfahrensrüge wäre vor dem Hintergrund des mitgeteilten Verfahrensgeschehens und eingedenk des begrenzten revisionsgerichtlichen Prüfungsumfangs (vgl. BGH, Urteile vom 28. November 1997 – 3 StR 114/97, BGHSt 43, 321, 326; vom 16. November 2006 – 3 StR 139/06, BGHSt 51, 144, 148) auch unbegründet. Die Strafkammer hat den Umfang des Auskunftsverweigerungsrechts nicht verkannt. Zwar ist in § 55 StPO nur von der Auskunftsverweigerung auf einzelne Fragen die Rede. Jedoch kann ein Zeuge die Auskunft dann insgesamt verweigern, wenn seine Aussage mit seinem etwaigen strafbaren Verhalten in so engem Zusammenhang steht, dass eine Trennung nicht möglich ist (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Mai 1987 – I BGs 286/87, StV 1987, 328, 329; Urteil vom 9. Juli 1991 – 1 StR 312/91, BGHR StPO § 55 Abs. 1 Verfolgung 1). Von einem solchen Zusammenhang ging die Strafkammer in rechtlich nicht zu beanstandender Weise aus. Sie hat konkrete Anhaltspunkte dafür dargelegt, dass der Zeuge im Fall einer Aussage in der Hauptverhandlung Verdachtsmomente für eine frühere falsche Verdächtigung des Angeklagten (§ 164 StGB) liefern würde. Hierfür hat sie insbesondere auf aussageimmanente Widersprüche und auf Inhalte von Chatnachrichten abgehoben, die sich teilweise als unvereinbar mit seinen Angaben erwiesen hätten.

3. Ohne Erfolg beanstandet die Beschwerdeführerin auch, dass die Strafkammer ihren hilfsweise gestellten „Beweisantrag“ auf Vernehmung des Zeugen H. nicht beschieden habe.

a) Schon die prozessuale Bedingung, an welche die Beschwerdeführerin ihr
Beweiserhebungsbegehren selbst geknüpft hat, war nicht eingetreten. Nach Ansicht
der Strafkammer stand dem Zeugen nämlich ein umfassendes Aussageverweige-
rungsrecht nach § 55 StPO zu.

b) Überdies handelte es sich hier – mangels einer konkreten Beweisbehauptung – nicht um einen förmlichen Beweisantrag (§ 244 Abs. 3 Satz 1 StPO), sondern lediglich um eine, nach Sachaufklärungsgesichtspunkten (§ 244 Abs. 2 StPO) zu behandelnde, Beweisanregung. Dies gilt auch vor dem Hintergrund, dass in der Erklärung des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft zugleich ein „Widerruf“ des von diesem zuvor erklärten Einverständnisses nach § 245 Abs. 1 Satz 2 StPO gesehen werden könnte. Denn die Prozesserklärung, nicht mehr an dem zuvor erteilten, freilich aber unwiderruflichen Einverständnis mit dem Absehen von der Beweiserhebung festhalten zu wollen, genügt den gesetzlichen Anforderungen eines Beweisantrags nicht
(aA Krehl in: KK-StPO, 9. Aufl., § 245 Rn. 22; Sättele in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, StPO, 5. Aufl., § 245 Rn. 18), weil hiermit jedenfalls keine hinreichend konkrete Tatsache unter Beweis gestellt wird, auf welche die gesetzlichen Ablehnungsgründe sinnvoll angewendet werden könnten (Becker in: Löwe-Rosenberg, 27. Aufl., § 245 Rn. 38; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 245 Rn. 14; Arnoldi, NStZ 2018, 305, 308).“

StPO II: Vage Umstände und Auskunftsverweigerung, oder: „Man möchte heiraten“ = Verlöbnis?

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In der zweiten Entscheidung dem KG, Beschl. v. 11.07.2022 – 3 Ws 176/22 – 121 AR 134/22 – geht es um die Voraussetzungen eines Auskunftsverweigerungsrechts wegen einer früheren Aussage.

Ergangen ist die Entscheidung in einem Haftbeschwerdeverfahren. Dem Angeklagten wird vorgeworfen,  gemeinschaftlich mit einem gesondert verfolgten und bereits abgeurteilten D. ein Vergehen der gefährlichen Körperverletzung zum Nachteil des C. begangen zu haben. Wegen dieses Vorwurfs ist Haftbefehl ergangen. Gegen den hat der Angeklagte Haftbeschwerde eingelegt. Das KG äußert sich im Rahmen seiner Ausführungen zum dringenden Tatverdacht zum Auskunftsverweigerungsrecht (§ 55 StPO) und Zeugnisverweigerungsrecht (§ 52 StPO) einer Zeugin:

„1. Der Angeklagte ist der vorgeworfenen Tat dringend verdächtig.

Nach dem gegenwärtigen Verfahrensstand ist noch davon auszugehen, dass der Angeklagte durch seine frühere Lebensgefährtin X. belastet wird. Die Zeugin hatte zunächst von einem (angeblich bestehenden) Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht, den Angeklagten aber schwer belastet, nachdem sie von diesem mit dem Tode bedroht worden war. Die hierbei geäußerten Bekundungen waren detailreich und nach vorläufiger Würdigung überzeugend und glaubhaft. Wegen des Inhalts der Zeugenaussage und ihrer Bewertung wird auf den dem Beschwerdeführer bekannten Senatsbeschluss vom 2. Mai 2022 (3 Ws 101/22) verwiesen.

Die Erklärung, die Rechtsanwalt B. unter dem 31. Mai 2022 als Bevollmächtigter der Zeugin abgegeben hat, ändert an dieser Bewertung nichts.

a) Unbehelflich ist zunächst die Ankündigung, die Zeugin werde vom Auskunftsverweigerungsrecht des § 55 StPO Gebrauch machen, weil der Rechtsanwalt „nicht ausschließen“ könne, „dass Frau X. in ihrer polizeilichen Vernehmung am 15. März 2022 nicht die Wahrheit mitgeteilt hat“.

Diese vagen Ausführungen sind ungeeignet, dem Senat die Überzeugung zu verschaffen, die Zeugin dürfe die Auskunft nach § 55 Abs. 1 StPO verweigern. Denn bloße, nicht durch konkrete Umstände belegte Vermutungen oder die rein denktheoretische Möglichkeit, eine frühere Aussage könne falsch gewesen sein, begründen keinen prozessual ausreichenden Anfangsverdacht für eine strafbare Handlung und folglich auch kein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO (vgl. BGH NStZ 1999, 415; OLG Hamm NStZ-RR 2015, 49; OLG Köln, Beschluss vom 4. März 2013 – 3 Ws 120/13 -, Beschluss 2013, 8021; OLG Koblenz, StV 1986, 474). Anderenfalls hätte es jeder Zeuge, der einen anderen zunächst be- oder entlastet hat, in der Hand, allein mit dem bloßen Einwand, die ursprüngliche Aussage könnte falsch gewesen sein, jede weitere Auskunft zu verweigern (vgl. Bader in Karlsruher Kommentar, StPO 8. Aufl., § 55 Rn. 9 [unter Hinweis auf BGH NStZ 1999, 415]). Die Aussage vom 15. März 2022, auf welche sich der Rechtsanwalt ausdrücklich bezieht, hat auch nur eine Stoßrichtung, sie belastet den Beschwerdeführer. Keineswegs macht der Rechtsanwalt geltend, die Zeugin habe sich angesichts sich widersprechender Aussagen notwendigerweise strafbar gemacht, weshalb sie nun gar nicht anders agieren könne, als sich zu belasten.

Prägnant und anschaulich formuliert die Staatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme auch, dass sich „die Angaben der Zeugin X. derart in das Ergebnis der Ermittlungen“ einfügen, „dass derzeit keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Zeugin ein Auskunftsverweigerungsrecht gemäß § 55 StPO zusteht“. Dem folgt der Senat.

b) Auch die Ankündigung des (Interessen-) Vertreters der Zeugin, diese werde ein „Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 StPO“ geltend machen, ist nicht geeignet, die bisherige Bewertung der Beweislage nachhaltig zu erschüttern. Die Ankündigung wird mit folgenden beiden Sätzen begründet:

„Darüber hinaus hat sie sich mit Herrn A. ausgesprochen. Man möchte nach der Haftentlassung nun doch wieder heiraten.“

aa) Die Formulierung, „man möchte nach der Haftentlassung nun doch wieder heiraten“, ist gänzlich unverbindlich und erfüllt die Voraussetzungen eines nach § 52 Abs. 1 Nr. 1 StPO bestehenden (und nach § 56 StPO auf Verlangen glaubhaft zu machenden) Verlöbnisses nicht.

aaa) Die Wahl des unpersönlichen Indefinitpronomens „man“ lässt bereits offen, ob es sich um einen Wunsch der Zeugin oder des Angeklagten handelt oder ob es um einen übereinstimmenden Wunsch geht.

bbb) Aber selbst wenn letzteres feststünde, wäre kein Verlöbnis dargelegt. Denn bei einem Verlöbnis handelt es sich um ein (nicht notwendig öffentliches) gegenseitiges und von beiden Seiten ernst gemeintes Eheversprechen (vgl. BGH NJW 1972, 1334). Die vom Rechtsanwalt gewählte Formulierung legt unter keinem Gesichtspunkt nahe, dass es hier um mehr als ein unverbindliches Anliegen geht. Die Unverbindlichkeit wird sprachlich noch dadurch gesteigert, dass ausgeführt wird, die Protagonisten wollten „nun doch wieder heiraten“, als ob der Verwender selbst nicht an die Richtigkeit der Bekundung glaubte, nachdem sich die Beteiligten mehrfach umentschieden hätten. Dass sich zwei Menschen ein ernsthaftes gegenseitiges Eheversprechen gegeben haben, ist der Formulierung jedenfalls nicht zu entnehmen.

ccc) Nicht befassen muss sich der Senat somit zum gegenwärtigen Zeitpunkt damit, ob es sich bei dem – behaupteten – Eheversprechen um eine wirksame und damit strafprozessual zu beachtende Vereinbarung handelt. Zweifel daran könnten sich dadurch ergeben, dass die Zeugin bekundet hat, der Angeklagte habe sie für den Fall einer belastenden Aussage mit dem Tode bedroht. In diesem Zusammenhang könnte auch zu prüfen sein, ob ein polizeilicher Vermerk vom 10. Juni 2022 Bedeutung erlangt. In diesem heißt es, eine Person, der Geheimhaltung zugesichert worden sei, habe angegeben, der Beschwerdeführer beabsichtige, die Zeugin X. zu töten. Dies könnte Zweifel daran begründen, dass die Zeugin ihren Wunsch zu heiraten freiwillig geäußert hat. Gleichzeitig entstünden Zweifel an der Ernstlichkeit des (möglicherweise) vom Angeklagten geäußerten Heiratswunsches.“