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HV III: Auskunftsverweigerungsrecht des Zeugen, oder: Keine Beanstandung der unterlassenen Ladung

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Und dann habe ich heute noch einen Beschluss des LG Kiel, und zwar den LG Kiel, Beschl. v. 19.03.2025- 11 NBs 593 Js 31323/22  – in dem das LG sich zur Entscheidung des Vorsitzenden der Strafkammer, einen Zeugen nicht zur Hauptverhandlung zu laden, weil dem Zeugen ein Aussageverweigerungsrecht nach § 55 StPO zusteht, äußert.

Gegen die Entscheidung des Vorsitzenden hatte sich die Staatsanwaltschaft gem. § 238 Abs. 2 StPO gewendet, aber ohne Erfolg. Das LG hat den Antrag der Staatsanwaltschaft auf gerichtliche Entscheidung über die Entscheidung des Vorsitzenden den Zeugen nicht zu laden und diesem ein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO zuzugestehen, als unzulässig angesehen:

„1. Nach § 238 Abs. 2 StPO sind nicht sämtliche prozessualen Verhaltensweisen des Vorsitzenden, sondern allein dessen sachleitungsbezogenen Anordnungen der Beanstandung durch Verfahrensbeteiligte zugänglich. Der Begriff der „Anordnung“ erfasst im Kern Verfügungen, mit denen der Vorsitzende einem Verfahrensbeteiligten ein bestimmtes Verhalten ge- oder verbietet. Das schlichte Unterlassen einer Maßnahme wird nicht als Anordnung gemäß § 238 Abs. 2 StPO eingestuft (vgl. hierzu Schneider, in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung. 9. Auflage, 2023, § 238 StPO, Rn. 11 und 12, mit weiteren Nachweisen).

Vorliegend beanstandet die Staatsanwaltschaft, dass der Vorsitzende es unterlassen hat, den Zeugen pp. zu laden, da er davon ausgeht, dass diesem ein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO zusteht. Bei dem Unterlassen einer Maßnahme handelt es sich – wie dargestellt – nicht um eine Anordnung im Sinne des § 238 Abs. 2 StPO, so dass der Antrag unzulässig ist.

Sofern in der Beanstandung der Staatsanwaltschaft eine Beweisanregung zu erblicken sein sollte, den Zeugen pp. zu laden, ist dieser nicht nachzukommen, da dem Zeugen ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO zusteht. Der Zeuge pp. hat über seinen Verteidiger gegenüber dem Vorsitzenden telefonisch erklärt, dass er von diesem – wie bereits vor dem Amtsgericht Norderstedt – Gebrauch mache. Angesichts dieser Erklärung des Verteidigers des Zeugen ist sicher zu erwarten, dass dieser sich auch im Rahmen einer Hauptverhandlung auf sein Auskunftsverweigerungsrecht berufen und hiervon auch nicht abrücken wird.

Zwar ist der Zeuge  rechtskräftig verurteilt; ihm steht gleichwohl ein Auskunftsverweigerungsrecht zu.

Es wäre mit der Menschenwürde eines Zeugen unvereinbar, wenn er zu einer Aussage gezwungen würde, durch die er die Voraussetzungen für seine eigene strafrechtliche Verurteilung liefern müsste (zum Ganzen auch im Folgenden: BVerfG, NJW 2002, 1411, 1412). Als Folge dieses rechtsstaatlichen Grundsatzes gewährt § 55 Abs. 1 StPO dem Zeugen das Recht, die Auskunft auf solche Fragen zu verweigern, deren Beantwortung ihm die Gefahr zuziehen würde, wegen einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit verfolgt zu werden. In eine solche Gefahr geriete der Zeuge dann, wenn eine Ermittlungsbehörde aus seiner wahrheitsgemäßen Aussage Tatsachen entnehmen könnte – nicht müsste -, die sie gem. § 152 Abs. 2 StPO zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens veranlassen könnte. Da die Schwelle eines Anfangsverdachts im Sinne des § 152 Abs. 2 StPO niedrig liegt, ist auch das Bestehen einer entsprechenden Gefahr bereits weit im Vorfeld einer direkten Belastung zu bejahen.

Es steht aufgrund der polizeilichen Ermittlungen nicht nur denktheoretisch im Raum, dass der Zeuge pp. mit dem Angeklagten Taten begingen, die bisher nicht strafrechtlich verfolgt wurden und die nach dem BtMG strafbar wären. So geht die Polizei aufgrund der Auswertung von Encrochat-Daten davon aus, dass der Angeklagte und der Zeuge pp. mindestens seit 2020 gemeinsam Betäubungsmittelgeschäfte gemacht haben. Allein die Angaben des Zeugen pp. zu der hier gegenständlichen Tat würden den Verdacht weiterer gemeinsamer Straftaten erhärten und zur Einleitung weiterer Strafverfahren auch gegen den Zeugen pp. führen.

Der Zeuge pp. müsste zudem damit rechnen, dass der Angeklagte seinerseits Angaben über weitere Drogengeschäfte macht und damit den gegen den Zeugen pp. bestehenden Tatverdacht zusätzlich erhärten könnte. Auch diese Gefahr besteht nicht nur theoretisch, weil im Bereich der Betäubungsmitteldelikte § 31 Nr. 1 BtMG dem Täter für eine über seinen eigenen Tatbeitrag hinausgehende Aufklärung der Straftat Strafmilderung verspricht. Besteht die konkrete Gefahr, dass der Zeuge pp. durch die Preisgabe einer etwaigen Beteiligung des Angeklagten weitere, noch verfolgbare, eigene Delikte offenbaren, also Auskünfte über „Teilstücke in einem mosaikartig zusammengesetzten Beweisgebäude“ (vgl. BGH, NJW 1999, 1413) geben und damit zugleich potenzielle Beweismittel gegen sich selbst liefern müssten, so ist ihnen die Erteilung solcher Auskünfte nicht zumutbar.“

StPO I: (Umfassendes) Auskunftsverweigerungsrecht?, oder: Angeklagter und Zeuge Mitglied einer BtM-Bande

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Und dann geht es weiter mit StPO. Ich beginne mit einer Entscheidung des OLG Hamm zum Auskunftsverweigerungsrecht eines Zeugen nach § 55 StPO.

Hier hatte der betroffene Zeuge in der Hauptverhandlung gegen den Angeklagten nach erfolgter Belehrung erklärt hatte, er werde kein Zeugnis ablegen. Daraufhin hat die Strafkammer dem Zeugen die durch seine Verweigerung verursachten Kosten auferlegt, ein Ordnungsgeld in Höhe von 750 Euro (ersatzweise Ordnungshaft) verhängt sowie eine Beugehaft bis zum 29.05.2024 angeordnet. Dagegen die Beschwerde des Zeugen. Er meint, ihm stehe wegen der gemeinsamen Bandenzugehörigkeit von Angeklagtem und Zeugen ein umfassendes Recht zur Auskunftsverweigerung zu. Die Beschwerde hatte beim OLG mit dem OLG Hamm, Beschl. v. 04.06.2024 – 5 Ws 163/24 – Erfolg:

„Der angefochtene Beschluss war auf die Beschwerde aufzuheben, da dem Zeugen ein umfassendes Recht zur Aussageverweigerung zusteht; im Einzelnen:

1. Grundsätzlich ist ein Ordnungsgeldbeschluss bereits dann rechtsfehlerhaft, wenn dem Beschwerdeführer das rechtliche Gehör nicht in ausreichendem Maße gewährt worden ist. Das ist dann der Fall, wenn es an einer ausreichenden Belehrung fehlt (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 28.08.1995 – 3 Ws 486 – 487/95 = NStZ-RR 1996, 169, beck-online). Dieses ist hier der Fall, da die Strafkammer bei ihrer Belehrung den Umfang des Auskunftsverweigerungsrechts verkannt hat.

2. Zwar ist ein Zeuge grundsätzlich verpflichtet, vollständig zum Beweisthema auszusagen und kann nach § 55 Abs. 1 StPO nur die Auskunft auf solche Fragen verweigern, deren Beantwortung ihn selbst oder einen der in § 52 Abs. 1 StPO bezeichneten Angehörigen in die Gefahr bringen würde, wegen einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit verfolgt zu werden.

Allerdings sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung Fallkonstellationen anerkannt, in denen sich das Auskunftsverweigerungsrecht zum Aussageverweigerungsrecht verdichten kann (vgl. BGHSt 47, 220, 222). Dazu muss die Aussage aber mit etwaigem strafbaren Verhalten in so engem Zusammenhang stehen, dass eine Trennung nicht möglich ist (vgl. BGH NStZ 2002, 272, 273; StV 1987, 327, 328). Voraussetzung dafür ist insbesondere ein bereits nach Aktenlage nachvollziehbarer örtlicher und personeller Konnex zwischen der den Ermittlungsgegenstand bildenden Tat und der Person des die Auskunft verweigernden Zeugen (vgl. BVerfG NStZ 2002, 378; BGH NStZ 1999, 1413; BGHR StPO § 70, Weigerungsgrund 2). Gerade im Bereich der Rauschmitteldelikte kann der Kontakt zu einzelnen Beteiligten den Konnex bereits begründen (vgl. LG Hamburg, Beschluss vom 22. 6. 2007 – 618 Kls 2/07 = NStZ 2008, 588, beck-online). Besteht bei Rauschmitteldelikten die konkrete Gefahr, dass der Zeuge die Tatbeteiligten weiterer, noch verfolgbarer, eigener Delikte offenbaren, also Auskünfte über Teilstücke in einem mosaikartig zusammengesetzten Beweisgebäude geben und damit zugleich potenzielle Beweismittel gegen sich selbst liefern müsste, so ist ihm die Erteilung solcher Auskünfte nicht zumutbar (vgl. BVerfG, Beschluss vom 6.2.2002 – 2 BvR 1249/01 = NJW 2002, 1411, beck-online).

Ähnlich gelagert ist der Fall hier, da der Beschwerdeführer im Falle von Angaben zur Sache die Aufnahme von Ermittlungen betreffend etwaige, bislang nicht ermittelte Bandentaten befürchten muss.

3. Nach Aktenlage ergibt sich ein besonderer persönlicher Konnex zwischen dem Angeklagten und dem Beschwerdeführer. Ausweislich der (eröffneten) Anklageschrift vom 27.12.2023 waren sowohl der hiesige Angeklagte als auch der Beschwerdeführer Mitglieder derselben Bande, jedenfalls soweit es die Betäubungsmitteltransporte nach S. (B.) betrifft. Hinsichtlich der Gefahr einer Selbstbelastung des Zeugen ist insbesondere zu berücksichtigen, dass die beim Beschwerdeführer abgeurteilten bzw. eingestellten Taten und die hiesigen angeklagten Taten lediglich einen kurzen Zeitraum vom 23.01.2022 bis zum 17.03.2022 betreffen, wohingegen die Betäubungsmittelaktivitäten der Bande ausweislich des wesentlichen Ergebnisses der Ermittlungen bereits ab dem Februar 2021 zutage treten, beispielsweise bei einer – nicht angeklagten – Transportfahrt nach S. am 20.10.2021. Für den Beschwerdeführer ergibt sich außerdem die Gefahr, dass er durch die Preisgabe der Bandenzusammensetzung, der Struktur oder des Modus Operandi Tatsachen für das Vorliegen eines Anfangsverdachts von weiteren Straftaten liefert. Letztlich dürfte es dem Beschwerdeführer unzumutbar sein, Auskünfte betreffend die Bandenzugehörigkeit des Angeklagten bzw. dessen Bestellungen von Betäubungsmitteln zu offenbaren, da dadurch – über das eigene Strafverfahren hinaus – das Risiko bestünde, dass der Angeklagte als Vergeltung ihm bekannt gewordene – bislang nicht ermittelte – weitere Betäubungsmittelgeschäfte der Gruppierung unter Mitwirkung des Beschwerdeführers aufdeckt (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 6.2.2002 – 2 BvR 1249/01 = NJW 2002, 1411, beck-online).“

Und:

„4. Für die ausgesprochene Beugehaft bestand auch nach ihrem Vollzug ein fortwirkendes Rechtsschutzbedürfnis, da es sich bei dem angeordneten Freiheitsentzug um einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff handelt und die Beugehaft – im Falle ihrer Rechtmäßigkeit – nicht nach § 51 Abs. 1 StGB auf die Strafvollstreckung angerecht werden kann (vgl. BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), Beschluss vom 9.9.2005 – 2 BvR 431/02 = NJW 2006, 40, beck-online). Aufgrunddessen war die Rechtswidrigkeit der erledigten Maßnahme entsprechend § 115 Abs. 3 StVollzG auszusprechen.“

StPO III: Absehen von der Zeugenvernehmung, oder: Beanstandung der Vorsitzendenentscheidung erfolgt?

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Und dann zum Tagesschluss noch der BGH, Beschl. v. 12.09.2023 – 4 StR 179/23.

Das LG hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung verurteilt. Die Revision des Angeklagten bleibt ohne Erfolg:

„2. Die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Näherer Erörterung bedarf lediglich die Rüge, die Strafkammer habe unter Verstoß gegen § 55 Abs. 1, § 244 Abs. 2 StPO von der Sachvernehmung der Zeugin E. abgesehen.

a) Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

Nachdem sich der Angeklagte zu Beginn der eintägigen Hauptverhandlung durch Verteidigererklärung zur Sache eingelassen hatte, wurde die Zeugin E. in den Zeugenstand gerufen. Dort berief sie sich über den ihr als Zeugenbeistand bestellten Rechtsanwalt auf ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 Abs. 1 StPO. Sodann wurde die Zeugin im allseitigen Einverständnis von der Vorsitzenden entlassen.

b) Die Rüge ist unzulässig, weil der verteidigte Angeklagte nicht vom Zwischenrechtsbehelf nach § 238 Abs. 2 StPO Gebrauch gemacht hat. Die Entscheidung, ob und in welchem Umfang ein Zeuge durch seine Aussage eine Verfolgungsgefahr im Sinne des § 55 Abs. 1 StPO begründen kann und daher die Auskunft verweigern darf, unterliegt als Maßnahme der Sachleitung weitgehend der wertenden Beurteilung des Vorsitzenden. Hält ein Verfahrensbeteiligter dessen Entscheidung für rechtsfehlerhaft und damit für unzulässig, hat er gemäß § 238 Abs. 2 StPO die Möglichkeit, hiergegen den gesamten Spruchkörper anzurufen. Unterlässt der verteidigte Angeklagte dies, kann er in der Revisionsinstanz mit einer entsprechenden Rüge, durch die er sich in Widerspruch zu seinem früheren Verhalten setzen würde, nicht mehr gehört werden. Auch liegt hierin keine unzulässige Einschränkung der Rüge, das Gericht habe durch das teilweise oder völlige Unterlassen der Sachvernehmung des Zeugen seine Aufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2 StPO verletzt. Denn da durch die Anordnung des Vorsitzenden die Beschränkung der gerichtlichen Sachaufklärung zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht wird, kann der Verstoß gegen die Pflicht zur Erforschung der Wahrheit über § 238 Abs. 2 StPO bereits dort beanstandet werden. Wird dies – wie vorliegend – unterlassen, muss daher nicht zusätzlich und unabhängig davon die Aufklärungsrüge im Revisionsverfahren eröffnet sein (vgl. BGH, Urteil vom 16. November 2006 ‒ 3 StR 139/06, BGHSt 51,144 Rn. 22, 26; Schmitt in Meyer-Goßner, 66. Aufl., § 55 Rn. 16; KK-StPO/Bader, 9. Aufl., § 55 Rn. 19 mwN).“

StPO I: Einiges zur Durchsuchungsanordnung, oder: Reichsbürger, anonyme Anzeige, BtM-Zusendung u.a.,

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Heute dann StPO-Entscheidungen.

Den Opener machen hier einige LG-Entscheidungen zur Durchsuchung, und zwar zu den Anordnungsvoraussetzungen. Da sind ja meist die LG die „letzte Instanz“. Eine Entscheidung stammt aber nicht „aus der StPO“.

Hier sind dann folgende Entscheidungen, allerdings nur mit den Leitsätzen:

Ein geltend gemachtes Auskunftsverweigerungsrecht hindert nicht, dass gegen die auskunftsverweigerende Person ein Ermittlungsverfahren eingeleitet werden kann. Treten weitere Anhaltspunkte hinzu, ist die Strafverfolgungsbehörde nicht gehindert, eine Durchsuchung mit dem Ziel, weitere Beweismittel aufzufinden, zu veranlassen, um einen bestehenden Tatverdacht zu überprüfen, sofern sich dieselbe nicht als unverhältnismäßig darstellt.

Eine anonyme Anzeige kann nur dann als Grundlage für eine Durchsuchung genügen, wenn sie von beträchtlicher sachlicher Qualität ist oder mit ihr zusammen schlüssiges Tatsachenmaterial vorgelegt wurde.

Zur Bejahung eines für die Anordnung einer Durchsuchung erforderlichen Anfangsverdachts bei BtM-Zusendungen.

Allein die Zugehörigkeit zu der Reichsbürgerbewegung stellt noch keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung dar.

 

StPO II: Zeugenaussage über intimste Lebensbereiche, oder: Bei Weigerung, kein Zeugniszwang

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Als zweite Entscheidung habe ich dann hier das AG Menden, Urt. v. 17.11.2022 – 8 Ls-362 Js 334/20-13/20. Hängt schon etwas länger in meinem Ordnet, jetzt passt es aber endlich.

Dem jugendlichen Angeklagten wird der Vorwurf der Vergewaltigung von zwei Frauen gemacht. Das AG hat ihn frei gesprochen:

„Nach Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens der Sachverständigen pp., an dem nur die Nebenklägerin pp. mitzuwirken bereit war, erwies sich deren Aussage aufgrund der plausiblen und überzeugenden Würdigung der Sachverständigen nicht als hinreichend belastbar; sogar eine bewusste Falschaussage war nicht ausschließbar. Vor diesem Hintergrund war es hinzunehmen, dass die Nebenklägerin von ihrem Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO Gebrauch machte. Andererseits standen auch keine hinreichenden weiteren Beweismittel zur Verfügung, um den Beweis der angeklagten Tat führen zu können.

Die weitere Geschädigte war weder bereit sich der aussagepsychologischen Begutachtung zu unterziehen noch vor Gericht auszusagen. Ihr fester Wille, die Vorfälle nicht erneut in ihre Erinnerung zu rufen und für sich aufzuarbeiten, bedingte im vorliegenden Fall, dass das Gericht sich nicht befugt sah, sie zu einer Aussage zu zwingen. Wie vom Bundesverfassungsgericht bereits ausgesprochen, folgt im Einzelfall ausnahmsweise und unter ganz besonders strengen Voraussetzungen eine Begrenzung des Zeugniszwangs unmittelbar aus der Verfassung, wenn die Vernehmung wegen der Eigenheit des Beweisthemas in den durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG grundsätzlich geschützten Bereich der privaten Lebensgestaltung des einzelnen, insbesondere seine Intimsphäre, eingreifen würde, siehe BVerfG, NJW 1972, S. 2214, 2215. Vorliegend greift die erzwungene Vernehmung gravierend sowohl in intimste Lebensbereiche der Zeugin – nämlich ihre persönliche Bewältigung sexueller Geschehnisse – als auch in ihre Gesundheit ein. Die Zeugin hat sich dazu entschieden, das Erfahrene selbst aufzuarbeiten und nicht zum Gegenstand gerichtlicher Untersuchung zu machen, da sie dies nachvollziehbar für sich persönlich als erhebliche psychische und damit auch gesundheitliche Belastung würdigt und einordnet. Da die Zeugin die entsprechenden Vorgänge selbst nie angezeigt hat und in vorliegendes Verfahren erst über ein halbes Jahr nach den eigenen Erlebnissen hineingezogen ist, war ihr Entschluss zur Nichtoffenbarung offensichtlich gereift und entsprechend das persönliche Belastungserleben sehr plausibel. Diesen gereiften Entschluss zu durchbrechen erachtet das Gericht als unvereinbar mit der Achtung von Würde und Gesundheit der Zeugin als elementaren Grundrechten derselben.

Angesichts der eher kurzen polizeilichen Vernehmung der Zeugin war in vorliegender Aussage-gegen-Aussage-Konstellation die Feststellung einer eine Verurteilung tragenden hinreichenden Aussagequalität nicht möglich, sodass der Angeklagte aufgrund nicht zu beseitigender Zweifel freizusprechen war.“