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StPO II: Zeugenaussage über intimste Lebensbereiche, oder: Bei Weigerung, kein Zeugniszwang

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Als zweite Entscheidung habe ich dann hier das AG Menden, Urt. v. 17.11.2022 – 8 Ls-362 Js 334/20-13/20. Hängt schon etwas länger in meinem Ordnet, jetzt passt es aber endlich.

Dem jugendlichen Angeklagten wird der Vorwurf der Vergewaltigung von zwei Frauen gemacht. Das AG hat ihn frei gesprochen:

„Nach Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens der Sachverständigen pp., an dem nur die Nebenklägerin pp. mitzuwirken bereit war, erwies sich deren Aussage aufgrund der plausiblen und überzeugenden Würdigung der Sachverständigen nicht als hinreichend belastbar; sogar eine bewusste Falschaussage war nicht ausschließbar. Vor diesem Hintergrund war es hinzunehmen, dass die Nebenklägerin von ihrem Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO Gebrauch machte. Andererseits standen auch keine hinreichenden weiteren Beweismittel zur Verfügung, um den Beweis der angeklagten Tat führen zu können.

Die weitere Geschädigte war weder bereit sich der aussagepsychologischen Begutachtung zu unterziehen noch vor Gericht auszusagen. Ihr fester Wille, die Vorfälle nicht erneut in ihre Erinnerung zu rufen und für sich aufzuarbeiten, bedingte im vorliegenden Fall, dass das Gericht sich nicht befugt sah, sie zu einer Aussage zu zwingen. Wie vom Bundesverfassungsgericht bereits ausgesprochen, folgt im Einzelfall ausnahmsweise und unter ganz besonders strengen Voraussetzungen eine Begrenzung des Zeugniszwangs unmittelbar aus der Verfassung, wenn die Vernehmung wegen der Eigenheit des Beweisthemas in den durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG grundsätzlich geschützten Bereich der privaten Lebensgestaltung des einzelnen, insbesondere seine Intimsphäre, eingreifen würde, siehe BVerfG, NJW 1972, S. 2214, 2215. Vorliegend greift die erzwungene Vernehmung gravierend sowohl in intimste Lebensbereiche der Zeugin – nämlich ihre persönliche Bewältigung sexueller Geschehnisse – als auch in ihre Gesundheit ein. Die Zeugin hat sich dazu entschieden, das Erfahrene selbst aufzuarbeiten und nicht zum Gegenstand gerichtlicher Untersuchung zu machen, da sie dies nachvollziehbar für sich persönlich als erhebliche psychische und damit auch gesundheitliche Belastung würdigt und einordnet. Da die Zeugin die entsprechenden Vorgänge selbst nie angezeigt hat und in vorliegendes Verfahren erst über ein halbes Jahr nach den eigenen Erlebnissen hineingezogen ist, war ihr Entschluss zur Nichtoffenbarung offensichtlich gereift und entsprechend das persönliche Belastungserleben sehr plausibel. Diesen gereiften Entschluss zu durchbrechen erachtet das Gericht als unvereinbar mit der Achtung von Würde und Gesundheit der Zeugin als elementaren Grundrechten derselben.

Angesichts der eher kurzen polizeilichen Vernehmung der Zeugin war in vorliegender Aussage-gegen-Aussage-Konstellation die Feststellung einer eine Verurteilung tragenden hinreichenden Aussagequalität nicht möglich, sodass der Angeklagte aufgrund nicht zu beseitigender Zweifel freizusprechen war.“

Akteneinsicht a la AG Menden: Wenn keine Lebensakte, dann aber Auskünfte

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Bei mir trudeln reichlich Entscheidungen von Kollegen ein, die diese bei AG zur Frage der Akteneinsicht in Bedienungsanleitung und oder Lebensakte erstritten haben. Dafür zunächst allen Einsendern noch einmal herzlichen Dank.

Ganz interessant der mir gerade erst übersandte AG Menden, Beschl. v. 17.04.2013 – 8 OWi 44/13 (b). Der Verteidiger dort hatte die Lebensakte des bei der Messung verwendeten  TRAFFIPAX TraffiPhot S einsehen wollen. Das hatte die Verwaltungsbehörde abgelehnt unter Hinweis darauf, dass eine „Lebensakte“ des Geräts nicht geführt werde und im Übrigen solche Unterlagen auch nicht zum — einsichtsfähigen — Inhalt einer Bußgeldakte gehörten.

„Das hat das AG anders gesehen:

Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 21.3.2013 ist zulässig und auch begründet.

Die von Göhler in Randziffer 49 zu § 60 OWiG vertretene Auffassung wird in der Rechtsprechung keineswegs durchgängig geteilt.

Auch das angerufene Gericht ist der Auffassung, dass angesichts einer immer komplexer werdenden Überwachungstechnik im Straßenverkehr, die nach der gerichtlichen Erfahrung entgegen vielfach geäußerter Auffassung keineswegs fehlerfrei ist, es ein Gebot der Rechtsstaatlichkeit ist, dem Betroffenen die behördeninternen Unterlagen über das zum Einsatz gekommene Messgerät zur Verfügung zu stellen, die ihm überhaupt erst eine konkrete Rüge der ihn betreffenden Messung ermöglichen.

Daher war dem Antrag des Betroffenen vom 21.3.2013 stattzugeben. Für den Fall, dass tatsächlich beim Märkischen Kreis gesonderte „Lebensakten“ für die eingesetzten Messgeräte nicht geführt werden, sind hilfsweise dem Betroffenen über seinen Verteidiger die oben im Einzelnen ausgeführten Auskünfte zu erteilen.

Das haben in der Vergangenheit schon mehrere AG so gemacht. Sehr schön, dass es sich das AG nicht „einfach gemacht“ und gesagt hat: Steht so bei Göhler und damit ist es Gesetz 🙂