Schlagwort-Archive: Pflichtverteidiger

StPO II: Nochmals rückwirkende „Pflichtibestellung“, oder: Niederlegung des Wahlmandats nicht vergessen

© MASP – Fotolia.com

Das zweite Posting enthält auch noch einmal eine Pflichtverteidigungsentscheidung. Ich hätte den LG Würzburg, Beschl. v. 10.11.2020 – 6 Qs 197/20 -, den mir der Kollege Lößel aus Altdorf geschickt hat, auch in die Rechtsprechungsübersicht aufnehmen können. Da wäre er aber vielleicht untergegangen.

Das LG macht zwar Ausführungen zur rückwirkenden Bestellung, die es als unzulässig ansieht. Insofern bringt der Beschluss aber nichts Neues. Er macht aber auch Ausführungen zur Bestellung eines Pflichtverteidigers, wenn der Beschuldigte einen Verteidiger hat , nämlich den Wahlanwalt, der seine Bestellung beantragt. Insoweit verlangt das LG ausdrücklich die Niederlegung des Mandats:

„2. Die sofortige Beschwerde ist in der Sache jedoch nicht begründet.

Zur Überzeugung der Kammer ist vorliegend ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO gegeben. Der Beschuldigte befand sich seit 30.07.2020 im Verfahren 105 Js 44481/20 der Staatsanwaltschaft Leipzig in Untersuchungshaft in der dortigen JVA. Der § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO findet auch Anwendung, wenn Untersuchungshaft in anderer Sache vollstreckt wird (so auch OLG Frankfurt a M. NStZ-RR 2011, 19; LG Nürnberg-Fürth StV 2012, 658). Dafür spricht nach neuer Rechtslage, dass weder § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO n.F. noch Art. 4 Abs. 4 RL (EU) 2016/1919 danach differenzieren, in welchem Verfahren die Freiheitsentziehung angeordnet worden ist, sondern eine notwendige Verteidigung bei jeder Inhaftierung bejahen. Weiterhin spricht hierfür auch der Grundgedanke des § 140 Abs.1 Nr. 5 StPO, der Nachteile kompensieren soll, die durch die eingeschränkten Verteidigungsmöglichkeiten infolge von Inhaftierung entstehen. Zweck der Pflichtverteidigung ist es, im öffentlichen Interesse dafür zu sorgen, dass ein Beschuldigter in den vom Gesetz bestimmten Fällen rechtskundigen Beistand erhält und dass ein ordnungsgemäßer Verfahrensablauf gewährleistet ist.

Grundsätzlich folgt aus der Notwendigkeit der Verteidigung im Sinne von § 140 StPO noch nicht unmittelbar die Notwendigkeit der Pflichtverteidigerbestellung; den Zeitpunkt der Bestellung regeln vielmehr die §§ 141, 141a StPO. Das eigene Antragsrecht des Beschuldigten nach § 141 Abs. 1 StPO dient dazu, in zeitlicher Hinsicht die Phase des Strafverfahrens abzudecken, in der § 140 StPO die Verteidigung bereits für notwendig erachtet, aber noch keine Pflicht zur Beiordnung eines Verteidigers von Amts wegen besteht (vgl. Böß, NStZ 2020, 185/188). Wenn die (engen) Vor-aussetzungen des § 141 Abs. 2 StPO vorliegen, bedarf es dagegen keiner Mitwirkungshandlung des Beschuldigten.

Die Bestellung des Pflichtverteidigers hängt gemäß § 141 Abs. 1 S. 1 StPO nach dem ausdrücklichen Wortlaut der Vorschrift vom Antrag des Beschuldigten ab. Ein solcher Antrag wurde Seitens des Beschuldigten gestellt. Mit Schriftsatz vom 11.08.2020 erklärte Rechtsanwalt pp., mit der Verteidigung des Beschuldigten beauftragt worden zu sein, und beantragte vor dem Hintergrund der erfolgten Inhaftierung des Beschuldigten seine Beiordnung als Pflichtverteidiger. In diesem Fall liegt im Verhältnis zum Beschuldigten ein Geschäftsbesorgungsvertrag gemäß § 675 BGB vor. Damit handelte der Verteidiger ausweislich seines Schriftsatzes vom 11.08.2020 erkennbar für den Beschwerdeführer. Als beauftragter Verteidiger hat er die Stellung eines Vertreters; seine Anträge und Willenserklärungen sind dem Betroffenen somit zuzurechnen, § 164 Abs. 1 BGB. Der Vorlage einer schriftlichen Vollmacht bedarf es dabei nicht (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, 63. Auflage 2020, Schmitt, vor § 137 Rn. 9 m.w.N.). Insoweit sind die Voraussetzungen eines Antrags des Beschuldigten im Sinne von § 141 Abs. 1 S. 1 StPO zunächst erfüllt.

Jedoch ist nach dem klaren Wortlaut des § 141 Abs.1 S. 1 StPO trotz eines Antrags des Beschuldigten eine Pflichtverteidigerbestellung nur dann unverzüglich erforderlich, wenn der Beschuldigte noch keinen Verteidiger hat. Einzige Ausnahme ist insoweit die Bestellung eines zusätzlichen Verteidigers, sofern die Voraussetzungen des § 144 Abs. 1 vorliegen. Auch der bisherige Wahlverteidiger kann zum Pflichtverteidiger bestellt werden. Voraussetzung ist hierbei jedoch, dass der Wahlverteidiger die Niederlegung seines Mandats für den Fall der beantragten Bestellung ankündigt (vgl. OLG Oldenburg NJW 2009, 3044; BT-Drs. 19/13829, 36). Fehlerhaft ist es dagegen, den Wahlverteidiger ohne Antrag und ohne Ankündigung der Mandatsniederlegung zu bestellen (h .M., vgl. hierzu Meyer-Goßner, Schmitt, StPO, 63. Auflage 2020, § 141 Rn. 2, BeckOK StPO/Krawczyk, StPO § 141 Rn. 2; Dölling/Duttge/König/Rössner, Gesamtes Strafrecht, 4. Auflage 2017, Rn. 2-4), da dies dem klaren Wortlaut von § 141 Abs. 1 S. 1 StPO und dem darin zum Ausdruck kommenden Vorrang der Wahlverteidigung vor der Pflichtverteidigung widersprechen würde.

Vorliegend beantragte der Verteidiger zwar seine unverzügliche Beiordnung als Pflichtverteidiger, kündigte jedoch gerade nicht an, im Fall der Bestellung das Wahlmandat niederlegen zu wollen. Da der Beschuldigte somit im Zeitpunkt der Antragstellung am 11.08.2020 bereits einen Verteidiger hatte, war eine unverzügliche Verteidigerbestellung auf Antrag nach § 141 Abs.1 S.1 StPO nicht erforderlich, da gerade nicht alle Voraussetzungen der Vorschrift vorlagen.

Vielmehr ist vorliegend ein Fall des § 141 Abs. 2 S. Nr. 2 StPO gegeben. Unabhängig von einem Antrag des Beschuldigten, der vorliegend daran scheitert, dass dieser bereits einen Verteidiger hatte, ist ihm von Amts wegen ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn er sich aufgrund richterlicher Anordnung in Haft befindet. Diese Voraussetzungen waren vor dem Hintergrund der Inhaftierung des Beschuldigten im Verfahren der Staatsanwaltschaft Leipzig erfüllt.

Zur Überzeugung der Kammer konnte die Bestellung jedoch aufgrund der Ausnahmevorschrift des § 141 Abs. 2 S. 3 StPO in der vorliegenden Konstellation unterbleiben. Die Ausnahmevorschrift bezieht sich auf den hier vorliegenden Fall der Pflichtverteidigerbestellung gemäß § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 StPO. Auch inhaltlich sind die Voraussetzungen der Ausnahmevorschrift erfüllt. Dies ist der Fall, wenn beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen und keine weiteren Un-tersuchungshandlungen als die Einholung von Registerauszügen oder die Beiziehung von Akten oder Dokumenten vorgenommen werden soll. Vorliegend wurde der Beschuldigte am 30.07.2020 inhaftiert, was der Verteidiger am 11.08,2020 mitteilte. Zum Zeitpunkt der Inhaftierung waren die Ermittlungen bereits abgeschlossen, der polizeiliche Ermittlungsbericht (BI. 48 ff. d.A.) datiert vom 14.07.2020. Weitere Untersuchungen waren damit weder erforderlich noch wurden diese nach Inhaftierung des Beschuldigten noch vorgenommen. Die Akte ging sodann am 21.09.2020 bei der Staatsanwaltschaft Würzburg ein, wo am 22.09.2020 der zuständige Staatsanwalt eine Abschrift des Haftbefehls bei der Staatsanwaltschaft Leipzig anforderte, welche am 28.09.2020 einging. Weitere Untersuchungshandlungen außer der Beiziehung des Haftbefehls wurden hier nicht mehr getätigt. Am 29.09.2020 stellte die Staatsanwaltschaft Würzburg sodann das Ermitt¬lungsverfahren gegen den Beschuldigten gemäß § 154 Abs.1 StPO im Hinblick auf das Verfahren 105 Js 44481/20 der Staatsanwaltschaft Leipzig ein. Die Voraussetzungen der Ausnahmevor¬schrift des § 141 Abs. 2 S. 3 StPO sind damit zur Überzeugung der Kammer erfüllt.

Die Kammer vertritt auch weiterhin die Auffassung, dass die nachträgliche Beiordnung eines Verteidigers nach dem endgültigen Abschluss eines Verfahrens grundsätzlich nicht mehr in Betracht kommt und ein entsprechender Antrag unzulässig ist, da die Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht dem Kosteninteresse des Beschuldigten oder seines Verteidigers dient, sondern allein dem Zweck, im öffentlichen Interesse dafür zu sorgen, dass ein Beschuldigter in schwerwiegenden Fällen rechtskundigen Beistand erhält und der ordnungsgemäße Verfahrensablauf gewährleistet wird (so auch OLG Brandenburg, Beschluss vom 09.03.2020, Az. 1 Ws 19/20, 1 Ws 20/20).

Die Frage, ob im Hinblick auf die Intention des Gesetzgebers zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung (vgl. Bundestag-Drucksache 19/13829 und Bundestag-Drucksache 19/15151) eine rückwirkende Bestellung ausnahmsweise zulässig ist, wenn der Antrag auf Bei-ordnung rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt wurde, die Voraussetzungen für eine Beiordnung gemäß § 140 Abs. 1, Abs. 2 StPO vorlagen und die Entscheidung durch interne Vor-gänge unterblieben ist, auf die ein Außenstehender keinen Einfluss hatte, kann im vorliegenden Fall dahinstehen, da bereits die Voraussetzungen der Ausnahmevorschrift des § 141 Abs. 2 S. 3 StPO vorliegen, so dass es auf diese Frage nicht mehr ankommt.“

Das mit „einen Verteidiger hat“ hätte man m.E. auch anders entscheiden können und wird ja auch teilweise anders gesehen. Aber man will offenbar nicht. Das bedeutet für den Verteidiger: Niederlegung nicht vergessen.

StPO I: Rückwirkende Bestellung des Pflichtverteidigers, oder: Eine kleine Rechtsprechungsübersicht

© fotomek – Fotolia.com

Ich stelle heute dann StPO-Entscheidungen vor, und zwar vornehmlich Pflichtverteidigungsentscheidungen vor. Da hat sich in den letzten Wochen einiges angesammelt, was mir die Kollegen geschickt haben. Allen besten Dank.

Zunächst kommen Entscheidungen zur Frage der rückwirkenden Beiordnung. Da es so viel ist, mache ich hier mal nur eine kleine Rechtsprechungsübersicht. Unterteilt in: „Pro“ und „Contra“.

Ja, inzwischen gibt es einige Entscheidungen, die entgegen der wohl h.M. die rückwirkende Bestellung ablehnen. Teilweise hat man zumindest den Versuch einer Begründung unternommn, die sich aber letztlich immer nur auf das Argument: „Pflichtverteidigung dient nicht dem Kosteninteresse des Verteidigers“ zurückzieht. Und dann wird häufig auch nur alte Rechtsprechung bzw. Rechtsprechung zum neuen Recht zitiert, die sich selbst dann nur auf alte Rechtsprechung bezieht. Nicht so toll. Wenn man schon ablehnt, sollte man es vielleicht mal mit neuen Argumenten versuchen und nicht nur das Mantra der OLG zum alten Recht wiederholen.

Hier dann also:

Pro rückwirkende Bestellung

Contra rückwirkende Bestellung

BVerfG II: Rechtliches Gehör/effektiver Rechtsschutz, oder: Wirksamkeit der Zustellung und Pflichtverteidiger

© momius – Fotolia.com

In der zweiten Entscheidung des Tages behandelt das BVerfG noch einmal den Anspruch auf rechtliches Gehör und effektiver Rechtsschutz. Zugrunde liegt dem BVerfG, Beschl. v. 05.10.2020 – 2 BvR 554/20 – ein Strafbefehlsverfahren. Das AG hat den Einspruch des Beschuldigten als unzulässig, weil verspätet verworfen. Das beanstandet das BVerFG ebenso wie die nicht erfolgte Bestellung eines Pflichtverteidigers. Hintergrund/Grundlage der Entscheidung: Es bestanden erhebliche Zweifel an der Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten zum Zeitpunkt der Zustellung:

„….dd) Hieran gemessen kann den angegriffenen Entscheidungen nicht entnommen werden, dass sich die Fachgerichte eine ausreichende Überzeugung von der Wirksamkeit der Zustellung verschafft haben. Die Zustellung des Strafbefehls an den Beschwerdeführer erfolgte am 21. September 2019 durch Einlegen in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten, weshalb zwar keine Zweifel am Zugang des Schriftstücks als solchem bestanden. Allerdings hätten sich für die Fachgerichte hier infolge des Vortrags des Betreuers und des Verteidigers des Beschwerdeführers sowie aufgrund der Sachverständigengutachten Bedenken an der Wirksamkeit der Zustellung aufdrängen und zu einer Auseinandersetzung hiermit führen müssen.

(1) Das Amtsgericht hat im angegriffenen Beschluss zur Frage der Zustellung lediglich darauf hingewiesen, der Beschwerdeführer habe erst ab dem 16. Oktober 2019 unter Betreuung gestanden. Es hat damit erkennbar ausschließlich darauf abgestellt, dass die Zustellung an den Beschwerdeführer persönlich gerichtet werden konnte, da die Betreuung erst zu einem späteren Zeitpunkt eingerichtet wurde. Mit dem Vorbringen des Verteidigers im Schriftsatz vom 19. November 2019, der Beschwerdeführer sei infolge seiner Erkrankung „nicht prozessfähig“, hat sich das Amtsgericht indes nicht befasst. Der Umstand, dass die Betreuung zwar angeregt, aber durch das Betreuungsgericht noch nicht umgesetzt worden war, war jedenfalls ungeeignet, eine Verhandlungsfähigkeit des Beschwerdeführers im Zeitpunkt der Zustellung zu belegen.

Eine Prüfung, ob der Beschwerdeführer am 21. September 2019 in der Lage war, eine selbstverantwortliche Entscheidung über grundlegende Fragen seiner Verteidigung zu treffen und die von ihm persönlich auszuübenden Verfahrensrechte sachgerecht wahrzunehmen, hat das Amtsgericht Augsburg in seinem Beschluss vom 22. Januar 2020 nicht vorgenommen. Die Schilderung des Verteidigers im Einspruchsschriftsatz und im Sachverständigengutachten vom 4. September 2019, wonach der Beschwerdeführer bei der Exploration für ein Betreuungsverfahren Ende August 2019 in hochgradig psychotischem Zustand infolge einer unbehandelten Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis angetroffen worden sei und sich in einem die Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung befunden habe, hätte das Amtsgericht veranlassen müssen, die Verhandlungsfähigkeit im Zeitpunkt der nur drei Wochen später erfolgten Zustellung zu überprüfen. Hierfür bestand umso mehr Anlass, als der Zustand des Beschwerdeführers Mitte Oktober 2019 nicht nur zur Einrichtung einer Betreuung, sondern auch zu seiner geschlossenen Unterbringung führte. Auch das Sachverständigengutachten stellt plastisch dar, in welchem Zustand sich der Beschwerdeführer in engem zeitlichen Zusammenhang mit dem Zustellungstermin befand. Er war hiernach nicht in der Lage, seine Lebensgrundlagen zu sichern oder auch nur Tätigkeiten wie die Entgegennahme und das Öffnen der Post selbst zu erledigen. Dass der unbehandelte und krankheitsuneinsichtige Beschwerdeführer im September 2019 in der Lage gewesen sein soll, die Bedeutung der Zustellung und des Strafbefehlsverfahrens zu erfassen, Konsequenzen hieraus zu ziehen und – gegebenenfalls unter Rückgriff auf Hilfspersonen – zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen, erscheint hiernach unwahrscheinlich. Die geistigen und psychischen Einschränkungen des Beschwerdeführers waren in diesem Zeitpunkt auch nicht durch die Inanspruchnahme verfahrensrechtlicher Hilfen ausgeglichen. Der Beschwerdeführer lebte Ende September 2019 unbetreut in seiner Wohnung. Anwaltlich beraten war er nicht. Daher lagen im vorliegenden Verfahren wesentliche Anhaltspunkte dafür vor, dass dem Beschwerdeführer die zur Verteidigung erforderlichen Fähigkeiten fehlten, er verhandlungsunfähig und die Zustellung des Strafbefehls damit unwirksam war, sodass die Einspruchsfrist nicht in Gang gesetzt werden konnte.

Für eine Verwerfung des Einspruchs als unzulässig, weil verspätet, war hiernach kein Raum. Die vom Amtsgericht getroffene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer insofern in seinen grundrechtsgleichen Rechten aus Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs.1 sowie Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Der angegriffene Beschluss beruht auf diesen Verfassungsverstößen.

(2) Das Landgericht Augsburg hat die Verfassungsverstöße des Amtsgerichts durch seine Beschwerdeentscheidung fortgesetzt. Es hat die Bedeutung der Verhandlungsfähigkeit für die Wirksamkeit der Zustellung verkannt. Das Landgericht hat sich zur Begründung seiner Entscheidung die Ausführungen des Amtsgerichts Augsburg zur Verwerfung des Strafbefehls in seinem Beschluss vom 25. Februar 2020 – ohne weitere Erwägungen – zu eigen gemacht. Auch im Beschluss über die Anhörungsrüge und Gegenvorstellung wird die Wirksamkeit der Zustellung vom Gericht nicht aufgegriffen. Soweit sich das Gericht mit dem Begriff der Verhandlungsfähigkeit befasst, geschieht dies ausschließlich mit Blick auf die für den Wiedereinsetzungsantrag erforderliche unverschuldete Fristversäumung. Eine konkrete Erörterung der individuellen Situation des Beschwerdeführers, die durch das zur Strafakte gelangte psychiatrische Betreuungsgutachten vom 4. September 2019 belegt und im fachgerichtlichen Verfahren vom Verteidiger vorgetragen wurde, hat auch das Landgericht nicht vorgenommen. Die pauschale Einschätzung des Gerichts, wonach der Beschwerdeführer nicht verhandlungsunfähig gewesen sei, erweist sich deshalb als nicht tragfähig und wird den Grundrechten des Beschwerdeführers nicht gerecht.

2. Die Verfassungsbeschwerde erweist sich auch im Hinblick auf die Ablehnung der Bestellung eines Pflichtverteidigers als begründet. Die Entscheidungen der Fachgerichte, mit denen eine Bestellung des Bevollmächtigten zum Pflichtverteidiger abgelehnt wurde, verletzen den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes). Die Gerichte waren hier von Verfassung wegen verpflichtet, dem Beschwerdeführer für das fachgerichtliche Verfahren einen Pflichtverteidiger zu bestellen.

Die Vorschriften der Strafprozessordnung über die notwendige Mitwirkung und die Bestellung eines Verteidigers (§§ 140 ff. StPO) stellen sich als Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips in seiner Ausgestaltung als Gebot fairer Verfahrensführung dar. Die Verfassung selbst will sicherstellen, dass der Beschuldigte auf den Gang und das Ergebnis des gegen ihn geführten Strafverfahrens Einfluss nehmen kann. Ihm ist von Verfassung wegen jedenfalls dann ein Pflichtverteidiger beizuordnen, wenn es nach der konkreten Fallgestaltung, insbesondere bei Besonderheiten und Schwierigkeiten im persönlichen Bereich, als evident erscheint, dass er sich angesichts seiner Erkrankung nicht selbst verteidigen kann (vgl. hierzu BVerfGE 63, 380 <391>; 70, 297 <323>). Dass diese Voraussetzungen im Fall des Beschwerdeführers vorlagen, bedarf nach dem Vorstehenden keiner näheren Erläuterung. Der Beschwerdeführer war infolge seiner Erkrankung im fachgerichtlichen Verfahren ersichtlich nicht in der Lage, die Besonderheiten des Sachverhalts und des Verfahrensgangs zu erfassen und durch geeignetes Vorbringen zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen.“

Pflichti III: Anhörung im Strafvollstreckungsverfahren, oder: Da muss ein Verteidiger anwesend sein

© Coloures-pic – Fotolia.com

Und die dritte und letzte Entscheidung kommt aus dem Bereich des Vollstreckungsrechts. Der Kollege Brüntrup aus Minden hat mir dem LG Bielefeld, Beschl. v. 06.10.2020 – 3 Qs 326/20 – vor einigen Tagen geschickt.

Ergangen ist die Entscheidung im Vollstreckungsverfahren. Der Mandant des Kollegen ist in einem Verfahren nach einer Verurteilung wegen besonders schweren Raubes zur Frage der Strafaussetzung zur Bewährung angehört worden. Der Kollege Brüntrup, der Wahlverteidiger war, war nicht anwesend. Das LG hat die amtsgerichtliche Entscheidung aufgehoben:

„Die angefochtene Entscheidung verletzt das Recht des Verurteilten auf ein faires Verfahren. Aufgrund der psychischen Erkrankung des Verurteilten und des  eingeholten Gutachtens lag ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO analog vor.

Mit dieser notwendigen Verteidigung ist es nicht zu vereinbaren, dass die mündliche Anhörung ohne den Verteidiger durchgeführt worden ist. Zwar handelt es sich bei der Anhörung im Vollstreckungsverfahren nicht um eine förmliche Vernehmung im Sinne der §§ 163a, 168c StPO. Jedoch gebietet es der im Rechtsstaatsprinzjp wurzelnde Grundsatz des fairen Verfahrens, dem Verteidiger in entsprechender Anwendung der vorgenannten Vorschriften auch bei der mündlichen Anhörung im Vollstreckungsverfahren die Teilnahme zu gestatten. Dieses Recht hat das Amtsgericht verletzt (vgl. OLG Hamm BeckRS 2015, 19671 ; OLG Köln BeckRS 2006, 1622). Soweit das Amtsgericht ausgeführt hat, der Verteidiger sei nur Wahl- und nicht Pflichtverteidiger, ändert dies an der Tatsache, dass es sich – aus Sicht der Kammer – um eine notwendige Verteidigung handelt, nichts.

Soweit der Verurteilte sich im Anhörungstermin damit einverstanden erklärt hat, angehört zu werden und der Vermerk über die Anhörung seinem Verteidiger zugeleitet wird, führt dies zu keiner anderen Einschätzung. Das Anwesenheitsrecht des Pflichtverteidigers wird durch Erklärungen des Verurteilten nicht berührt. Seine Aufgabe verlangt von ihm, das Verfahren in eigener Verantwortung und unabhängig von dem Verurteilten zu dessen Schutz mitzugestalten (vgl. OLG Hamm a. a. O.; OLG  Köln a. a. O.) Gleiches muss daher für den Wahlverteidiger gelten, wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, da der Verurteilte auch dann – wie im Falle der erfolgten Beiordnung — nicht in der Lage ist, sich selber zu verteidigen.

Der angefochtene Beschluss war daher aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht zurückzuverweisen. Eine eigene Entscheidung der Kammer kommt wegen der erneut — unter Beteiligung des Verteidigers durchzuführenden Anhörung nicht in Betracht.“

Damit lässt sich argumentieren, wenn es um die Frage der Beiordnung des Rechtsanwalts im Strafvollstreckungsverfahren geht.

Pflichti II: Nachträgliche Beiordnung, oder: AG Bad Kreuznach macht es anders als das LG

© ernsthermann – Fotolia.com

Ich hatte neulich über den LG Bad Kreuznach, Beschl. v. 12.08.2020 – 2 Qs 93/20– berichtet. Inhalt: Nachträgliche Bestellung, die das LG anders entschieden hat als die h.M. (vgl. hier Pflichti I: Nochmals nachträgliche Beiordnung, oder: LG Bad Kreuznach falsch, LG Halle richtig).

Anders als das LG, also wie die h.M. , macht es das AG Bad Kreuznach im AG Bad Krueznach, Beschl. v. 29.10.2020 – 43 Gs 1054/20:

„Die Voraussetzungen der Pflichtverteidigerbestellung lagen im Zeitpunkt der Antragstellung vor. Der Beschuldigte befand sich im (wenn auch offenen) Strafvollzug, § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO. Die rückwirkende Bestellung kann nicht gemäß § 141 Abs. 2 §. 3 StPO abgelehnt werden.

Über den Antrag hätte unverzüglich entschieden werden müssen, die Staatsanwaltschaft bzw. die Polizei hätte den Beiordnungsantrag unverzüglich dem Gericht zur Entscheidung vorlegen müssen.

Im Zeitpunkt der Antragstellung war noch keine Verfahrenseinstellung beabsichtigt; außerdem sind nach Antragstellung andere Untersuchungshandlungen als Einholung von Registerauskünften oder Beiziehung von Urteilen und Akten getätigt worden, nämlich solche mit Außenwirkung, wie die Vernehmung des ebenfalls als Beschuldigten geführten pp. und Befragungen in pp. s. BI. 53ff und 59f). Das Gericht erachtet im Übrigen auch eine rückwirkende Verteidigerbestellung nach Verfahrensabschluss zumindest in denjenigen Fällen für möglich (und nicht etwa für prozessual überholt), in denen der entsprechende Beiordnungsantrag noch rechtzeitig vor dem Verfahrensende gestellt wurde. Der Hinweis, dass die §§ 140 ff. weder dem Kosteninteresse des Verteidigers noch des Beschuldigten dienen, übergeht Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK, der ausdrücklich den mittellosen Beschuldigten erwähnt und somit auch das Kosteninteresse des Beschuldigten in seinen Schutzzweck aufnimmt; LG Frankenthal Beschl. v. 16.6.2020 — 7 Qs 114/20, BeckRS 2020, 14117 Rn. 3, beck-online.“