StPO II: Nochmals rückwirkende „Pflichtibestellung“, oder: Niederlegung des Wahlmandats nicht vergessen

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Das zweite Posting enthält auch noch einmal eine Pflichtverteidigungsentscheidung. Ich hätte den LG Würzburg, Beschl. v. 10.11.2020 – 6 Qs 197/20 -, den mir der Kollege Lößel aus Altdorf geschickt hat, auch in die Rechtsprechungsübersicht aufnehmen können. Da wäre er aber vielleicht untergegangen.

Das LG macht zwar Ausführungen zur rückwirkenden Bestellung, die es als unzulässig ansieht. Insofern bringt der Beschluss aber nichts Neues. Er macht aber auch Ausführungen zur Bestellung eines Pflichtverteidigers, wenn der Beschuldigte einen Verteidiger hat , nämlich den Wahlanwalt, der seine Bestellung beantragt. Insoweit verlangt das LG ausdrücklich die Niederlegung des Mandats:

„2. Die sofortige Beschwerde ist in der Sache jedoch nicht begründet.

Zur Überzeugung der Kammer ist vorliegend ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO gegeben. Der Beschuldigte befand sich seit 30.07.2020 im Verfahren 105 Js 44481/20 der Staatsanwaltschaft Leipzig in Untersuchungshaft in der dortigen JVA. Der § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO findet auch Anwendung, wenn Untersuchungshaft in anderer Sache vollstreckt wird (so auch OLG Frankfurt a M. NStZ-RR 2011, 19; LG Nürnberg-Fürth StV 2012, 658). Dafür spricht nach neuer Rechtslage, dass weder § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO n.F. noch Art. 4 Abs. 4 RL (EU) 2016/1919 danach differenzieren, in welchem Verfahren die Freiheitsentziehung angeordnet worden ist, sondern eine notwendige Verteidigung bei jeder Inhaftierung bejahen. Weiterhin spricht hierfür auch der Grundgedanke des § 140 Abs.1 Nr. 5 StPO, der Nachteile kompensieren soll, die durch die eingeschränkten Verteidigungsmöglichkeiten infolge von Inhaftierung entstehen. Zweck der Pflichtverteidigung ist es, im öffentlichen Interesse dafür zu sorgen, dass ein Beschuldigter in den vom Gesetz bestimmten Fällen rechtskundigen Beistand erhält und dass ein ordnungsgemäßer Verfahrensablauf gewährleistet ist.

Grundsätzlich folgt aus der Notwendigkeit der Verteidigung im Sinne von § 140 StPO noch nicht unmittelbar die Notwendigkeit der Pflichtverteidigerbestellung; den Zeitpunkt der Bestellung regeln vielmehr die §§ 141, 141a StPO. Das eigene Antragsrecht des Beschuldigten nach § 141 Abs. 1 StPO dient dazu, in zeitlicher Hinsicht die Phase des Strafverfahrens abzudecken, in der § 140 StPO die Verteidigung bereits für notwendig erachtet, aber noch keine Pflicht zur Beiordnung eines Verteidigers von Amts wegen besteht (vgl. Böß, NStZ 2020, 185/188). Wenn die (engen) Vor-aussetzungen des § 141 Abs. 2 StPO vorliegen, bedarf es dagegen keiner Mitwirkungshandlung des Beschuldigten.

Die Bestellung des Pflichtverteidigers hängt gemäß § 141 Abs. 1 S. 1 StPO nach dem ausdrücklichen Wortlaut der Vorschrift vom Antrag des Beschuldigten ab. Ein solcher Antrag wurde Seitens des Beschuldigten gestellt. Mit Schriftsatz vom 11.08.2020 erklärte Rechtsanwalt pp., mit der Verteidigung des Beschuldigten beauftragt worden zu sein, und beantragte vor dem Hintergrund der erfolgten Inhaftierung des Beschuldigten seine Beiordnung als Pflichtverteidiger. In diesem Fall liegt im Verhältnis zum Beschuldigten ein Geschäftsbesorgungsvertrag gemäß § 675 BGB vor. Damit handelte der Verteidiger ausweislich seines Schriftsatzes vom 11.08.2020 erkennbar für den Beschwerdeführer. Als beauftragter Verteidiger hat er die Stellung eines Vertreters; seine Anträge und Willenserklärungen sind dem Betroffenen somit zuzurechnen, § 164 Abs. 1 BGB. Der Vorlage einer schriftlichen Vollmacht bedarf es dabei nicht (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, 63. Auflage 2020, Schmitt, vor § 137 Rn. 9 m.w.N.). Insoweit sind die Voraussetzungen eines Antrags des Beschuldigten im Sinne von § 141 Abs. 1 S. 1 StPO zunächst erfüllt.

Jedoch ist nach dem klaren Wortlaut des § 141 Abs.1 S. 1 StPO trotz eines Antrags des Beschuldigten eine Pflichtverteidigerbestellung nur dann unverzüglich erforderlich, wenn der Beschuldigte noch keinen Verteidiger hat. Einzige Ausnahme ist insoweit die Bestellung eines zusätzlichen Verteidigers, sofern die Voraussetzungen des § 144 Abs. 1 vorliegen. Auch der bisherige Wahlverteidiger kann zum Pflichtverteidiger bestellt werden. Voraussetzung ist hierbei jedoch, dass der Wahlverteidiger die Niederlegung seines Mandats für den Fall der beantragten Bestellung ankündigt (vgl. OLG Oldenburg NJW 2009, 3044; BT-Drs. 19/13829, 36). Fehlerhaft ist es dagegen, den Wahlverteidiger ohne Antrag und ohne Ankündigung der Mandatsniederlegung zu bestellen (h .M., vgl. hierzu Meyer-Goßner, Schmitt, StPO, 63. Auflage 2020, § 141 Rn. 2, BeckOK StPO/Krawczyk, StPO § 141 Rn. 2; Dölling/Duttge/König/Rössner, Gesamtes Strafrecht, 4. Auflage 2017, Rn. 2-4), da dies dem klaren Wortlaut von § 141 Abs. 1 S. 1 StPO und dem darin zum Ausdruck kommenden Vorrang der Wahlverteidigung vor der Pflichtverteidigung widersprechen würde.

Vorliegend beantragte der Verteidiger zwar seine unverzügliche Beiordnung als Pflichtverteidiger, kündigte jedoch gerade nicht an, im Fall der Bestellung das Wahlmandat niederlegen zu wollen. Da der Beschuldigte somit im Zeitpunkt der Antragstellung am 11.08.2020 bereits einen Verteidiger hatte, war eine unverzügliche Verteidigerbestellung auf Antrag nach § 141 Abs.1 S.1 StPO nicht erforderlich, da gerade nicht alle Voraussetzungen der Vorschrift vorlagen.

Vielmehr ist vorliegend ein Fall des § 141 Abs. 2 S. Nr. 2 StPO gegeben. Unabhängig von einem Antrag des Beschuldigten, der vorliegend daran scheitert, dass dieser bereits einen Verteidiger hatte, ist ihm von Amts wegen ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn er sich aufgrund richterlicher Anordnung in Haft befindet. Diese Voraussetzungen waren vor dem Hintergrund der Inhaftierung des Beschuldigten im Verfahren der Staatsanwaltschaft Leipzig erfüllt.

Zur Überzeugung der Kammer konnte die Bestellung jedoch aufgrund der Ausnahmevorschrift des § 141 Abs. 2 S. 3 StPO in der vorliegenden Konstellation unterbleiben. Die Ausnahmevorschrift bezieht sich auf den hier vorliegenden Fall der Pflichtverteidigerbestellung gemäß § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 StPO. Auch inhaltlich sind die Voraussetzungen der Ausnahmevorschrift erfüllt. Dies ist der Fall, wenn beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen und keine weiteren Un-tersuchungshandlungen als die Einholung von Registerauszügen oder die Beiziehung von Akten oder Dokumenten vorgenommen werden soll. Vorliegend wurde der Beschuldigte am 30.07.2020 inhaftiert, was der Verteidiger am 11.08,2020 mitteilte. Zum Zeitpunkt der Inhaftierung waren die Ermittlungen bereits abgeschlossen, der polizeiliche Ermittlungsbericht (BI. 48 ff. d.A.) datiert vom 14.07.2020. Weitere Untersuchungen waren damit weder erforderlich noch wurden diese nach Inhaftierung des Beschuldigten noch vorgenommen. Die Akte ging sodann am 21.09.2020 bei der Staatsanwaltschaft Würzburg ein, wo am 22.09.2020 der zuständige Staatsanwalt eine Abschrift des Haftbefehls bei der Staatsanwaltschaft Leipzig anforderte, welche am 28.09.2020 einging. Weitere Untersuchungshandlungen außer der Beiziehung des Haftbefehls wurden hier nicht mehr getätigt. Am 29.09.2020 stellte die Staatsanwaltschaft Würzburg sodann das Ermitt¬lungsverfahren gegen den Beschuldigten gemäß § 154 Abs.1 StPO im Hinblick auf das Verfahren 105 Js 44481/20 der Staatsanwaltschaft Leipzig ein. Die Voraussetzungen der Ausnahmevor¬schrift des § 141 Abs. 2 S. 3 StPO sind damit zur Überzeugung der Kammer erfüllt.

Die Kammer vertritt auch weiterhin die Auffassung, dass die nachträgliche Beiordnung eines Verteidigers nach dem endgültigen Abschluss eines Verfahrens grundsätzlich nicht mehr in Betracht kommt und ein entsprechender Antrag unzulässig ist, da die Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht dem Kosteninteresse des Beschuldigten oder seines Verteidigers dient, sondern allein dem Zweck, im öffentlichen Interesse dafür zu sorgen, dass ein Beschuldigter in schwerwiegenden Fällen rechtskundigen Beistand erhält und der ordnungsgemäße Verfahrensablauf gewährleistet wird (so auch OLG Brandenburg, Beschluss vom 09.03.2020, Az. 1 Ws 19/20, 1 Ws 20/20).

Die Frage, ob im Hinblick auf die Intention des Gesetzgebers zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung (vgl. Bundestag-Drucksache 19/13829 und Bundestag-Drucksache 19/15151) eine rückwirkende Bestellung ausnahmsweise zulässig ist, wenn der Antrag auf Bei-ordnung rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt wurde, die Voraussetzungen für eine Beiordnung gemäß § 140 Abs. 1, Abs. 2 StPO vorlagen und die Entscheidung durch interne Vor-gänge unterblieben ist, auf die ein Außenstehender keinen Einfluss hatte, kann im vorliegenden Fall dahinstehen, da bereits die Voraussetzungen der Ausnahmevorschrift des § 141 Abs. 2 S. 3 StPO vorliegen, so dass es auf diese Frage nicht mehr ankommt.“

Das mit „einen Verteidiger hat“ hätte man m.E. auch anders entscheiden können und wird ja auch teilweise anders gesehen. Aber man will offenbar nicht. Das bedeutet für den Verteidiger: Niederlegung nicht vergessen.

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