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(Hohe [?]) Pauschgebühr im Staatsschutzverfahren, oder: Alles ist relativ, vor allem in Corona-Zeiten

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Den Gebührenfreitag beginne ich mit einem Beschluss des OLG Stuttgart zur Pauschvergütung nach § 51 RVG.

Ergangen ist der Beschluss in einem umfangreichen Verfahren beim Staatsschutzsenat des OLG. Der (auswärtige) Kollege hat sich mit Schriftsatz vom 16.06.2020 gegenüber dem Generalbundesanwalt legitimiert und ist mit Verfügung des Vorsitzenden vom 04.02.2021 zum Pflichtverteidiger bestellt worden. Inzwischen liegen 253 Band Stehordner Ermittlungsakten, 23 Band Gerichtsakten sowie Beiakten vor. Seit dem 13.04.2021 wurde an bislang 85 Tagen (haupt)verhandelt.

Die gesetzlichen Gebühren des Kollegen betragen 67.760,00 EUR. Er hat einen Vorschuss auf eine Pauschgebühr (§ 51 Abs. 1 Satz 5 RVG) in Höhe von 216.750,00 EUR beantragt. Den hat er u.a. mit dem Umfang, dem erforderlichen Einarbeitungsaufwand, der Dauer der laufenden Hauptverhandlung, der Terminierungsdichte mit zwei Verhandlungstagen pro Woche mit Unterbrechung von einem Tag, der wegen der weiten Entfernung eine Rückreise an den Kanzleiort nicht zulasse, der Dauer und Schwierigkeit der Hauptverhandlungstermine mit zwölf Angeklagten mit jeweils zwei Verteidigern und dem erhöhten Abstimmungsbedarf und Besprechungsaufwand unter den Verteidigern. Zudem habe er wegen des Umfangs und der Schwierigkeit ab Mandatierung im Hinblick auf den zu erwartenden Aufwand so gut wie keine anderen Neumandate habe annehmen können. Durch „diverse coronabedingte Ausfälle“ sei „auch diese Einnahmequelle teilweise über Wochen eingebrochen“. Aus all diesen Gründen müsse auch die im Regelfall als Obergrenzen anzusehende Wahlverteidigerhöchstgebühr überschritten werden, nachdem in einem derartigen Ausnahmefall die Höhe des Entgeltes für den Pflichtverteidiger existentielle Bedeutung gewinne, in besonderem Maße für einen in Einzelkanzlei tätigen Verteidiger.

Das OLG hat im OLG Stuttgart, Beschl. v. 09.08.2022 – 5-2 StE 7/20 – einen Vorschuss in Höhe von 146.142 EUR bewilligt und den weitergehenden Antrag zurückgewiesen. Es ist davon ausgegangen, dass in Anbetracht der von dem Pflichtverteidiger entfalteten Tätigkeit die bislang entstandenen gesetzlichen Gebühren nicht ansatzweise zumutbar sind.

Das OLG hat seine Entscheidung umfangreich begründet. Wegen der Einzelheiten verweise ich auf den Volltext, wegen des Umfangs der Entscheidung kann man die hier nur schlecht einstellen. Der Umfang der Begründung hat sicherlich auch damit zu tun, dass es sich bei der Entscheidung wohl um die erste betreffend die Pauschvergütung eines Pflichtverteidigers in dem Verfahren handelt und das OLG für weitere zu erwartende Anträge Richtlinien erlassen muss, um dann möglichst alle Pflichtverteidiger grundsätzlich gleich zu behandeln.

Hinweisen will ich hier aber auf die Passagen im Beschluss, die sich mit den Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf das Verfahren und damit auch auf die Pauschgebühr befassen. Dazu führt das OLG aus:

„5. Die durch COVID-19 bzw. den Erreger SARS-CoV-2 bestehenden Einschränkungen machen weitere Modifikationen notwendig.

Das bisherige Verfahren war maßgeblich durch COVID-19 beeinflusst. Die terminierten Sitzungstage vom 20. und 21. April 2021, vom 4., 5. und 19. Mai 2021, vom 12. Oktober 2021, vom 21. Dezember 2021, vom 18. Januar 2022, vom 8., 10., 15., 17., 22. und 24. März 2022, vom 26. und 28. April 2022 sowie vom 3., 5., 10. und 12. Mai 2022 konnten ausschließlich wegen der Pandemie nicht stattfinden. Neben diesen 20 durch COVID-19 bedingten Aufhebungen wurden- –  ein Tag, nachdem ein auf zwei Tage geladener Zeuge vernommen war,
–  ein Tag aus dienstlichen Gründen,
– drei Tage wegen Erkrankung eines Angeklagten und
– ein Tag wegen Erkrankung eines Senatsmitglieds aufgehoben.

Damit stehen 85 stattgefundenen Hauptverhandlungstagen sechs Aufhebungen gegenüber, wie sie in jedem Verfahren möglich sind, aber 20, die ausschließlich auf COVID-19 zurückzuführen sind. Zwölf der 20 ausgefallenen Sitzungstage liegen zwischen dem 8. März 2022 Und dem 12. Mai 2022, mithin gab es in diesem Verfahren ein Zeitsegment, in dem COVID-19 bedingt kaum Hauptverhandlungen stattfanden. Der Senat sieht hier das Bedürfnis, über die Gewährung weiterer Verfahrensgebühren (im Detail: s.u.) einen Ausgleich zu schaffen. Ein „Sonderopfer“, gerade in diesem bzw. in einem vergleichbaren Verfahren bestellt zu sein, ist ohne Ausgleich nicht abzuverlangen.

Dabei sind die Unterschiede zu Verteidigern*innen, die während der pandemischen Lage in mehreren (und damit weniger umfangreichen) Verfahren bestellt sind, evident. Es gibt infolge geringerer Dauer und einer geringeren Anzahl von Beteiligten weniger Ausfälle und ein Ausfall kann in gewissem Umfang durch andere kompensiert werden. Ganz entscheidend ist für den Senat jedoch, dass vorliegend in enger Absprache mit dem Gesundheitsamt der Landeshauptstadt Stuttgart ein äußerst klar definiertes und umgesetztes „Coronaregime“ installiert und durchgehalten wurde. Es wäre widersprüchlich, würde Verteidigern*innen, die in einem solchen Verfahren tätig sind, das dadurch zwangsläufig entstehende höhere Risiko von Sitzungsausfällen überbürdet werden.“

Ich denke, dass derjenige, der den Beschluss gelesen hat, mir beipflichten wird, dass es angesichts der Verfahrenstatsachen auf der Hand liegt, dass die vom OLG getroffene Entscheidung zutreffend ist, und zwar sowohl hinsichtlich der grundsätzlichen Frage, ob das Verfahren (schon) „besonders umfangreich“ im Sinn des § 51 Abs. 1 Satz 1 RVG als auch im Hinblick darauf, dass dem Pflichtverteidiger ein Vorschuss zu gewähren war. Die vom OLG mitgeteilten Daten sprechen für sich. Sowohl der Aktenumfang als auch die (bisherige) Dauer der Hauptverhandlung sind bemerkenswert. Anzumerken ist allerdings, dass § 51 RVG für die Gewährung einer Pauschgebühr kein „exorbitantes Verfahren“ voraussetzt. Es ist inzwischen aber müßig, darauf noch näher einzugehen. Die OLG beten diese falsche Formulierung des BGH nach, ohne sie einmal näher auf ihre Richtigkeit abzuklopfen.

Gegen die vom OLG gewählte Berechnungsmethode, die vornehmlich auf den Aktenumfang abstellt, ist – im Ergebnis – nichts einzuwenden. Der Aktenumfang ist in der Tat ein objektives Merkmal, mit dem man recht gut die Pauschgebühr be-/errechnen kann. Ob es das – wie es beim OLG erscheint – das wichtigste Merkmal ist und/oder ob daneben nicht auch auf die Dauer der Hauptverhandlung abzustellen ist, kann hier dahinstehen, da das OLG ja auch insoweit eine Erhöhung vorgenommen hat. Interessant und für die Rechtsprechung der nächsten Jahre sicherlich von Bedeutung/Interesse ist die Berücksichtigung der Einschränkungen, die sich im Verfahren durch die Covid-19-Pandemie ergeben haben. Dazu wird sicherlich Rechtsprechung anderer OLG folgen (müssen).

Schließlich: Dem ein oder anderen wird der gewährte Betrag von rund 142.000 EUR hoch, vielleicht zu hoch, erscheinen. Aber das gilt nur für den sog. „ersten Blick“. Denn man muss berücksichtigen, dass der Verteidiger in diesem Verfahren mindesten schon seit Juni 2020, also etwa 26 Monate, tätig ist, und zwar weitgehend ausschließlich. Das entspricht einer monatlichen Bruttoeinnahme (durch dieses Verfahren) von rund 5.500 EUR. Berücksichtigt man den Zeitaufwand für die Einarbeitung in und die Bearbeitung von 253 Band Stehordner Ermittlungsakten, 23 Band Gerichtsakten sowie Beiakten vor sowie die Teilnahme an bislang 85 Hauptverhandlungstagen relativiert sich nicht nur sehr schnell der „hohe Betrag“ sondern m.E. auch die Annahme des OLG, dass durch die gewährte Pauschgebühr/der Vorschuss dem Pflichtverteidiger „ein hinreichender Ausgleich ermöglicht wird“. Jedenfalls ist die gewährte Pauschgebühr auf keinen Fall „übersetzt“. Es ist eben alles realtiv, vor allem in „Corona-Zeiten“.

StGB II: „Wer braucht den Nazi in pp?“ auf Instagram, oder: Strafbare Beleidigung?

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Und dann noch eine Entscheidung vom OLG Stuttgart, und zwar der OLG Stuttgart, Beschl. v. 19.07.2022 – 4 Rv 26 Ss 366/22. Das OLG hat in der Entscheidung Stellung genommen zur Frage der Beleidigung im politischen Bereich.

Das AG hatte den Angeklagten wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe verurteilt. Die Verurteilung beruhte auf folgenden Sachverhaltsfeststellungen:

,,Am 29.07.2021 beleidigte der Angeklagte über einen Kommentar auf der Plattform Instagram – vermutlich von seiner Wohnanschrift pp. unter Achalm aus – den Landtagsabgeordneten der Partei AfD pp. mit den Worten „Wer braucht den Nazi in pp.???“, um seine Missachtung auszudrücken. Der Post des Angeklagten erfolgte unter einem von pp. geposteten Bildbeitrag samt Text, welcher den Geschädigten pp. mit dem Bürgermeister der Stadt pp. Herrn pp.  vor einer Luftbildaufnahme der Gemeinde pp. zeigte. Das pp. zeigende Bild wurde durch einen Text wie folgt ergänzt: „Unterwegs im Wahlkreis: Heute war ich im Rahmen meines Antrittsbesuchs bei pp. Bürgermeister pp. zu Gast. Thema war dabei vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse u.a. die Vorbereitung auf den Katastrophenfall. In diesem Zusammenhang habe ich Herrn pp. auch meine anstehende parlamentarische Initiative zur Förderung von Regenwassernutzungsanlagen vorgestellt, mit welchen — neben anderen Effekten — die Auswirkungen örtlich extrem starker Niederschläge abgemildert werden können. Über seine positive Rückmeldung hierzu habe ich mich sehr gefreut. Auch ansonsten war das Gespräch höchst interessant und ich war beeindruckt, wie gut pp. industriell aufgestellt ist. Ich bedanke mich für die Möglichkeit, tiefe Eindrücke in die Lage der Gemeinde gewinnen zu können und Herrn pp. kennenlernen zu dürfen.“ pp. #AfD

Direkt unter diesem Eintrag bzw. Post des Bildes war die Äußerung des Angeklagten gepostet. Hierunter befindet sich ein Icon mit einem Herzsymbol und der Unterschrift „gefällt 21 Mal“.

Dagegen die Revision des Angeklagten. Das OLG hat das Vorliegen einer Beleidigung verneint und frei gesprochen. Das OLG nimmt zunächst allgemein zum Vorliegen einer Beleidigung Stellung und führt dann aus:

„2. Daran gemessen begegnet das angefochtene Urteil durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

a) Im Ansatz zutreffend ist das Amtsgericht davon ausgegangen, dass es sich bei der verfahrensgegenständlichen Äußerung „Wer braucht den Nazi in pp.??“ um ein Werturteil handelt. Eine Tatsachenbehauptung scheidet demgegenüber aus, da der Begriff „Nazi“ keine Verbindung zu einer genau definierten Personengruppe ermöglicht und konkretisierende Informationen fehlen, die auf ihre Wahrheit hin überprüft werden könnten (OLG Dresden, Beschluss vom 26. März 2019 — 4 U 184/19, juris Rn. 10).

b) Eine von der Meinungsfreiheit nicht gedeckte Schmähung oder Formalbeleidigung ist mit der Äußerung jedoch nicht verbunden. Der Begriff „Nazi“ lässt schon wegen der Weite seines Bedeutungsgehalt verschiedenste Verwendungsweisen zu, die von einer streng historischen Terminologie bis zum substanzlosen Schimpfwort reichen können (BVerfG, NJW 1992, 2013, 2014); inzwischen handelt es sich gewöhnlich um eine schlagwortartige Qualifizierung der politischen Einstellung oder Geisteshaltung (OLG Stuttgart, Urteil vom 23. September 2015 — 4 U 101/15, juris Rn. 107; LG Kassel, Urteil vom 28. Oktober 2021 — 16 0 181/21, juris Rn. 34). Entscheidend ist jedoch stets der Einzelfall.

Es verbieten sich daher allgemeine Aussagen dahingehend, dass die Bezeichnung einer anderen Person als „Nazi“ stets oder niemals den Tatbestand der       erfülle. Vielmehr ist der Aussagegehalt des Begriffs abhängig von dem jeweiligen Gebrauch, insbesondere vom Gesamtzusammenhang des Textes, in dessen Rahmen er verwendet wird.

c) Vorliegend hat das Amtsgericht vorliegend schon nicht hinreichend berücksichtigt, dass die Äußerung nicht allein auf eine persönliche Diffamierung des Anzeigeerstatters abzielte, sondern jedenfalls auch eine Bewertung seiner politischen Haltung und Gesinnung enthielt vor dem Hintergrund seiner Zugehörigkeit zu einer von nicht unerheblichen Teilen der Bevölkerung im rechten Spektrum verorteten Partei, die zudem jedenfalls in Teilen bereits zum Zeitpunkt der verfahrensgegenständlichen Äußerung in mehreren Bundesländern von den Verfassungsschutzbehörden als extremistischer Verdachtsfall eingestuft wurde. Denn die Äußerung erfolgte gerade nicht im Rahmen einer privaten Auseinandersetzung, sondern vor dem Hintergrund der politischen Tätigkeit des Anzeigeerstatters, die dieser, womit sich das Amtsgericht ebenfalls hätte auseinandersetzen müssen, durch das Hochladen seines Beitrags auf Instagram zudem selbst öffentlich machte.

Der gesamte Beitrag bezog sich ersichtlich auf die politische Arbeit des Anzeigeerstatters als Landtagsabgeordneter, handelt es sich doch bei Wahlkreisbereisungen um eine klassische Abgeordnetentätigkeit. Überdies hat der Anzeigeerstatter in seinem Beitrag ausdrücklich auf eine von ihm vorbereitete parlamentarische Initiative hingewiesen und zudem durch die Verwendung des Hashtags „#AfD“ einen unmittelbaren Bezug zu seiner Partei hergestellt. Mithin hatte die Äußerung des Angeklagten keinen Bezug zur Intimsphäre oder Privatsphäre, sondern betraf das politische Leben, also lediglich die Sozialsphäre.

Zudem hat das Amtsgericht nicht hinreichend in seine Erwägungen einbezogen, dass sich die Situation von Politikern, die bewusst in die Öffentlichkeit treten, von derjenigen staatlicher Amtswalter, denen ohne ihr besonderes Zutun im Rahmen ihrer Berufsausübung eine Aufgabe mit Bürgerkontakten übertragen wurde, unterscheidet (vgl. BVerfG, Nichtannahme-beschluss vom 19. Mai 2020 – 1 11./R 2397/19, juris Rn. 31). Einem im öffentlichen Meinungskampf stehenden Politiker sind grundsätzlich härtere Äußerungen zuzumuten, auch wenn er kein Regierungsamt bekleidet.

d) Weiter hat das Amtsgericht die Äußerung des Angeklagten zu sehr auf den Begriff „Nazi“ verengt und dabei außer Acht gelassen, dass die vollständige Formulierung „Wer braucht den Nazi intimer“ auch als Kritik sowohl an der Wahlkreisbereisung selbst als auch daran, dass der Anzeigeerstatter vom Bürgermeister der Gemeinde pp. empfangen wurde, verstanden werden kann, was ebenfalls gegen eine reine Schmähung spricht.

e) Soweit das Amtsgericht meint, dass auch bei einer Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit des Angeklagten und dem Persönlichkeitsrecht des Anzeigeerstatters „klar und deutlich“ eine strafbare Beleidigung gegeben sei, kann dem ebenfalls nicht gefolgt werden.

aa) Wie bereits dargelegt bezog sich die verfahrensgegenständliche Äußerung auf politische Aktivitäten des Anzeigeerstatters, die dieser bewusst öffentlich gemacht hat, und nicht auf dessen Privatleben. Dass zwischen ihm und dem Angeklagten keine persönliche oder emotionale Beziehung bestand, vermag eine Strafbarkeit der verfahrensgegenständlichen Äußerung nicht zu begründen.

Soweit das Amtsgericht auf das Fehlen einer solchen Beziehung abstellt, verkennt es die Bedeutung und die Reichweite der Meinungsfreiheit. Verlangte man nämlich eine derartige Verbindung, würde dies die Grenzen zulässiger Kritik an Amts- und Mandatsträgern in verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigender Weise einschränken, dürften doch die wenigsten Bürger in einer persönlichen oder emotionalen Beziehung zu der kritisierten Person stehen. Den Bürgern muss es aber möglich sein, straflos und ohne Furcht vor Strafe zum Ausdruck zu bringen, dass sie eine bestimmte Person für ungeeignet zur Führung der von ihr bekleideten politischen Ämter halten (BVerfG, NJW 2020, 2631, 2635). Dies gilt unabhängig von einer persönlichen Verbindung zwischen den beteiligten Personen.

bb) Auch der Umstand, dass der Beitrag des Anzeigeerstatters sich nicht mit politisch besonders umstrittenen Themen, sondern mit eher alltäglichen kommunalpolitischen Angelegenheiten befasste, begründet eine Strafbarkeit des Angeklagten nicht. Denn auch im Zusammenhang mit solchen politischen Aktivitäten sind polemische und überspitzte Äußerungen von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gedeckt, zumal sich Kritik an Politikern auch generell gegen deren Zugehörigkeit zu einer Partei, die der Äußernde für nicht demokratisch oder gar für extremistisch hält, richten kann und darf, ohne dass eine solche Einschätzung einer gerichtlichen Richtigkeitskontrolle unterworfen wäre. Der Umstand, dass das Amtsgericht keine Anhaltspunkte für eine Verortung des Anzeigeerstatters im rechten politischen Spektrum zu erkennen vermochte, schränkt daher die Meinungsfreiheit des Angeklagten nicht ein.

cc) Zu keiner anderen rechtlichen Bewertung führt schließlich auch, dass der Kommentar des Angeklagten zu dem Instagram-Beitrag des Anzeigeerstatters keine politische Diskussion in Gang setzte. Das Grundrecht der Meinungsfreiheit greift unabhängig davon, ob eine Äußerung wertvoll oder wertlos, richtig oder falsch, emotional oder rational begründet ist (OLG Karlsruhe aa0). Ob der Äußernde eine inhaltliche Debatte zu bestimmten Themen oder auch Personen anstoßen oder lediglich seinen Unmut äußern will, spielt daher keine Rolle.

Zu beachten ist ferner, dass Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG nicht nur sachlich differenzierte Äußerungen schützt, sondern Kritik gerade auch pointiert, polemisch und überspitzt erfolgen darf; insoweit liegt die Grenze zulässiger Meinungsäußerungen nicht schon da, wo eine polemische Zuspitzung für die Äußerung sachlicher Kritik nicht erforderlich ist (BVerfG, NJW 1992, 1439). Überdies dürfen Bürger gegenüber Amtsträgern auch harsche Fundamentalkritik üben, und zwar unabhängig davon, ob sie dieses negative Urteil näher begründen können und ob es weniger drastische Ausdrucksformen gegeben hätte (vgl. BVerfG, NJW 2020, 2631, 2635).“

StGB I: Tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte, oder: Tatsächliche Feststellungen

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Heute dann drei StGB-Entscheidungen.

Zunächst stelle ich den OLG Stuttgart, Beschl. v. 11.07.2022 – 4 Rv 26 Ss 378/22 – zu den Anforderungen an die tatsächlichen Feststellungen bei einer Verurteilung wegen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit versuchter Körperverletzung vor.

Das AG hatte folgende Feststellungen getroffen:

„In der Nacht vom 20.05.2020 auf den 21.05.2020 kam es zu mehreren Platzverweisen gegen eine Gruppe alkoholtrinkender Personen, unter denen sich auch der Angeklagte befand. Der Angeklagte wurde schließlich wegen des Verdachts, eine Bierflasche gegen ein Polizeiauto geworfen zu haben — insofern wurde in der Hauptverhandlung nach § 154 II StPO verfahren — in polizeilichen Gewahrsam genommen. Zu diesem Zweck verbrachten ihn, mit Handschließen fixiert, Polizeikräfte zum Polizeirevier Calw. Gegen 0.10 Uhr am 21.05.2020 nahmen ihm PHMZ pp. und PMA pp. in der Gewahrsamszelle des Polizeireviers Calw, Schloßberg 3, die Handschließen ab. Als PMA pp. die Handschließen abgestreift hatte und im Begriff war, diese außerhalb der Gewahrsamszelle abzulegen, und während PHMZ pp. den Angeklagten aus Sicherheitsgründen am Arm festhielt, holte der Angeklagte plötzlich mit dem rechten Arm aus, um PHMZ Pp. einen Faustschlag zu versetzen, wobei er in Richtung Kopf/Hals zielte. PHMZ Pp. konnte den Schlag jedoch abwehren und den Angeklagten gemeinsam mit den hinzugeeilten PMA pp. und PK pp. wieder schließen.

Eine noch zu Beginn der Gewahrsamsnahme am Polizeiauto durchgeführte Atemalkoholkontrolle ergab um 0:08 Uhr eine Atemalkoholkonzentration von 1,54 mg/I. Trotz der hohen Alkoholisierung lag weder eine erhebliche Beeinträchtigung der Steuerungs- noch der Einsichtsfähigkeit vor“.

Dagegen die Berufung, die beschränkt worden ist. Das LG hat die Beschränkung als wirksam angesehen und die Berufung verworfen. Anders das OLG in der Revision:

„2. Gemessen hieran ist die Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch unwirksam. Denn die vom Amtsgericht getroffenen Feststellungen sind lückenhaft und ermöglichen dem Senat keine Überprüfung dahingehend, ob die Verurteilung wegen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte gemäß § 114 Abs. 1 StGB zu Recht erfolgt ist.

Dem Urteil ist nicht hinreichend zu entnehmen, ob die polizeilichen Diensthandlungen, gegen die sich der Angeklagte zur Wehr setzte, rechtmäßig waren. Der Vorschrift des § 113 Abs. 3 StGB, auf die § 114 Abs. 3 StGB verweist, liegt der strafrechtliche Rechtmäßigkeitsbegriff zugrunde, der sich mit dem materiell-rechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriff nicht in jedem Fall deckt. Es kommt grundsätzlich nicht auf die Richtigkeit der Amtshandlung, sondern auf ihre formale Rechtmäßigkeit an, also auf die sachliche und örtliche Zuständigkeit des handelnden Beamten, die gesetzlichen Förmlichkeiten, soweit sie vorgeschrieben sind und — soweit der Beamte nach eigenem Ermessen handelt — die Ordnungsgemäßheit der Ermessensausübung. Entscheidend ist weiter, ob der Beamte im Bewusstsein seiner Verantwortung und unter bestmöglicher pflichtgemäßer Abwägung aller erkennbaren Umstände die Handlung für nötig und sachlich gerechtfertigt halten durfte (BVerfG, Beschluss vom 30. April 2007 – 1 BvR 1090/06, juris Rn. 37). Zudem sind Belehrungs-, Eröffnungs- und Hinweispflichten, die eine effektive Wahrnehmung entgegenstehender Rechte, aber auch eine autonome Entscheidung zur freiwilligen Befolgung des Verwaltungsbefehls ermöglichen, für die strafrechtliche Rechtmäßigkeit einer Diensthandlung wesentlich (MüKoStGB/Bosch, 4. Aufl., § 113, Rn. 41).

Hiervon ausgehend ist es, um die rechtliche Einordnung der Diensthandlung durch das Tatgericht nachvollziehbar prüfen zu können, erforderlich, dass die Urteilsfeststellungen die Diensthandlung, gegen die sich der Angeklagte zur Wehr setzte, genau erkennen lassen. Es genügt nicht, die Diensthandlung nur ihrer Art nach zu benennen, sondern es bedarf auch hinreichender Feststellungen zum Zweck, zur Ausführung und zu den Begleitumständen, so-dass ein Bezug zu einer bestimmten Ermächtigungsgrundlage erkennbar wird, aus der sich wiederum die einzuhaltenden wesentlichen Förmlichkeiten ergeben (OLG Hamm, Beschluss vom 25. Februar 2016 — 3 RVs 11/16, juris Rn. 6, 7). Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht.

a) Aus den Feststellungen ergibt sich bereits nicht, ob die von den Polizeibeamten vorgenommenen Diensthandlungen, nämlich die Ingewahrsamnahme, das Anlegen der Hand-schließen und das Verbringen auf die Dienststelle, präventiv-polizeilichen oder repressiven Zwecken dienten. Die Formulierung des Amtsgerichts, der Angeklagte sei von den Beamten wegen des Verdachts, eine Bierflasche gegen ein Polizeiauto geworfen zu haben, in Gewahrsam genommen worden, lässt es zumindest als möglich erscheinen, dass die Ingewahrsamnahme nicht aus einem der in § 28 Abs. 1 PolG BW (in der zur Tatzeit geltenden Fassung) anerkannten Gründe erfolgte, sondern als — repressive — Reaktion auf den vermeintlichen Flaschenwurf. Dass die lngewahrsamnahme zur Vermeidung weiterer Ausschreitungen und damit zur Verhinderung einer unmittelbar bevorstehenden erheblichen Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung (§ 28 Abs. 1 Nr. 1 PolG BW a.F.) oder zur Identitätsfeststellung (§ 28 Abs. 1 Nr. 3 PolG BW a.F.) erfolgte, ist dagegen gerade nicht festgestellt.

b) Auch lässt sich den Feststellungen nicht hinreichend entnehmen, ob die Polizeibeamten dem Angeklagten die durchgeführten Maßnahmen im Rahmen eines stufenweisen Vorgehens angedroht und ihm so die Möglichkeit der freiwilligen Beachtung des Verwaltungsbefehls, namentlich der Befolgung des Platzverweises, ermöglicht haben oder ob im vorliegenden Einzelfall eine solche Androhung aufgrund (in einem Urteil näher darzulegender) besonderer Umstände ausnahmsweise entbehrlich oder nicht möglich war. Das Erfordernis der vorherigen Androhung einer polizeilichen Zwangsmaßnahme ergibt sich bereits aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und ist beispielsweise für den unmittelbaren Zwang ausdrücklich gesetzlich geregelt (§ 52 Abs. 2 PolG BW a.F., jetzt § 66 Abs. 2 PolG BW n.F.). Bei einer Ingewahrsamnahme sind zudem der Grund der Maßnahme und die gegen sie zulässigen Rechtsbehelfe unverzüglich bekanntzugeben (§ 28 Abs. 2 PolG BW a.F., jetzt § 33 Abs. 2 PolG BW n.F.).

Ob dies erfolgt ist oder nicht, ist im Urteil des Amtsgerichts nicht hinreichend dargetan. Zwar ist – im Rahmen der Beweiswürdigung – ausgeführt, dass einer der Beamten dem An-geklagten den Gewahrsam „erläutert“ habe; dem lässt sich jedoch nicht entnehmen, ob die konkreten Vorgaben des § 28 Abs. 2 PolG BW a.F. eingehalten wurden.

c) Da sich aus den Feststellungen nicht ergibt, ob derartige wesentliche Förmlichkeiten von den beteiligten Polizeibeamten eingehalten wurden, sind diese insoweit lückenhaft, zumal die Einhaltung der Förmlichkeiten auch nicht aus einer Gesamtbetrachtung der Urteilsgrün-de ersehen werden kann. So bleibt offen, aus welchem konkreten Anlass es zu den Platz-verweisen gegen die Gruppe, der auch der Angeklagte angehörte, kam. Auch ist nicht dar-getan, wie der Angeklagte hierauf reagierte und welche weiteren Maßnahmen ihm von den an dem Einsatz beteiligten Polizeibeamten für den Fall der Nichtbefolgung angedroht wurden.

Ebenfalls nicht festgestellt ist, aufgrund welcher konkreten Umstände dem Angeklagten Handschließen angelegt wurden und ob vor Anwendung dieser Maßnahme des unmittelbaren Zwangs eine Androhung erfolgte oder ob dies, etwa aufgrund des Verhaltens des Angeklagten, ausnahmsweise unterbleiben konnte.“

BtM II: Nochmals Täterschaft/Teilnahme beim Handel, oder: Anforderungen an die Beweiswürdigung

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Und als zweite Entscheidung heute dann noch einmal eine zu Täterschaft und Teilnahme beim Handel mit Betäubungsmitteln. Das OLG Stuttgart nimmt im OLG Stuttgart, Beschl. v. 04.07.2022 – 4 Rv 25 Ss 983/21 – dazu und vor allem zur Beweiswürdigung Stellung.

Die Angeklagten sind vom LG u.a. wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt worden. Dagegen die Revision, die Erfolg hatte:

„Die Revision des Angeklagten ist zulässig und hat (zumindest vorläufig) auch in der Sache Erfolg. Denn die Strafkammer hat die Annahme mittäterschaftlichen Handelns nicht hinreichend begründet.

1. Die Beweiswürdigung ist grundsätzlich Sache des Tatrichters (§ 261 StPO). Zu deren Überprüfung ist das Revisionsgericht nur eingeschränkt in der Lage. Es hat die tatrichterliche Würdigung grundsätzlich hinzunehmen und sich auf die Prüfung zu beschränken, ob die Urteilsgründe Fehler enthalten. Solche sind namentlich dann gegeben, wenn die Beweiswürdigung lückenhaft, in sich widersprüchlich oder unklar ist oder wenn sie gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstößt. Dabei brauchen die Schlussfolgerungen des Tatrichters nicht zwingend zu sein, sondern es genügt, dass sie möglich sind. Die Urteilsgründe müssen aber ergeben, dass alle Umstände, die die Entscheidung beeinflussen können, in die Beweiswürdigung einbezogen worden sind und überdies erkennen lassen, dass die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen, verstandesmäßig einsehbaren Tatsachengrundlage beruht und dass die vom Gericht gezogenen Schlussfolgerungen nicht lediglich Vermutungen sind, für die es weder eine belastbare Tatsachengrundlage noch einen gesicherten Erfahrungssatz gibt (BGH, Urteil vom 10. April 2019 — 1 StR 646/18, juris Rn. 12). Weiter muss der Tatrichter zwar nicht jede theoretisch denkbare, den Umständen nach jedoch fern-liegende Möglichkeit der Fallgestaltung berücksichtigen. Er muss aber die in Betracht kommenden Beweise erschöpfend würdigen und darf deshalb von mehreren naheliegenden tatsächlichen Möglichkeiten nicht nur eine in Betracht ziehen und die anderen außer Acht lassen (BGH, NJW 1974, 2295).

2. Von diesen Maßstäben ausgehend hält die Beweiswürdigung des Landgerichts der rechtlichen Überprüfung nicht stand.

a) Ob ein Beteiligter eine Tat als Täter oder als Gehilfe begeht, ist in wertender Betrachtung nach den gesamten Umständen, die von seiner Vorstellung umfasst sind, zu beurteilen. Wesentliche Anhaltspunkte können der Grad des eigenen Interesses am Erfolg der Tat, der Umfang der Tatbeteiligung, die Tatherrschaft oder wenigstens der Wille zu ihr sein (BGH, Beschluss vom 13. Juli 2021 — 1 StR 180/21, juris Rn. 4). Beim Handeltreiben mit Betäubungsmitteln setzt Mittäterschaft in subjektiver Hinsicht eine eigennützige, auf den Umsatz von Betäubungsmitteln gerichtete Tätigkeit voraus, die bloße Förderung fremden Eigennutzes genügt nicht (BGH, Beschluss vom 30. September 2021 — 4 StR 70/21, juris Rn. 8).

b) Diese Voraussetzungen sind in dem angefochtenen Urteil nicht hinreichend belegt. Weder werden einzelne Tatbeiträge des Angeklagten erörtert, noch hat sich die Jugendkammer erkennbar mit der Frage der Tatherrschaft befasst. Aus der Beweiswürdigung ergibt sich auch nicht, dass der Angeklagte eigennützig handelte. Zudem fehlt eine Auseinandersetzung mit der jedenfalls nicht fernliegenden Möglichkeit, dass es sich um Drogengeschäfte der Mitangeklagten pp., bei der ausweislich der Urteilsfeststellungen bereits seit 2013 eine Drogenproblematik besteht, handelte und der Angeklagte zwar von derartigen Ge-schäften wusste, ohne selbst mit Betäubungsmitteln zu handeln.

aa) Stattdessen wird lediglich darauf abgestellt, dass die Angeklagten in einer Einzimmerwohnung leben und eine feste Beziehung führen. Die Annahme, es gebe deshalb keine festen Zeiten, in denen zumindest eine Person nicht in der Wohnung ist, weshalb ein unbemerktes Bestellen oder Annehmen von Sendungen unwahrscheinlich sei, ist nicht durch Tatsachen belegt. Auch gibt es keinen Erfahrungssatz dahingehend, dass Paare ihre Zeit ganz überwiegend oder gar durchgehend gemeinsam verbringen.

Überdies hätte es auch keiner regelmäßigen Abwesenheiten eines der Angeklagten bedurft, um die insgesamt fünf bestellten Päckchen in Empfang zu nehmen, lässt sich der Eingang solcher Sendungen doch anhand des Bestellzeitpunktes und der inzwischen bei allen gängigen Paketdienstleistern möglichen Sendungsverfolgung durchaus präzise vorhersehen, sodass ohne größeren Aufwand Vorkehrungen für eine unbemerkte Entgegennahme getroffen werden können.

bb) Weiter legt die Strafkammer nicht konkret dar, weshalb es aufgrund der wohnlichen Situation ausgeschlossen sein soll, unbemerkt Päckchen zu lagern. Aus den im Urteil in Bezug genommenen Lichtbildern der Wohnung ergibt sich dies nicht. Vielmehr lässt die über-schaubare Menge der bestellten Betäubungsmittel eine heimliche Lagerung jedenfalls nicht ausgeschlossen erscheinen. Außerdem hätte auch die Möglichkeit bestanden, einmal in Empfang genommene Betäubungsmittel später andernorts zu lagern.

cc) Auch der von der Strafkammer herangezogene Marihuanakonsum der beiden Angeklagten belegt die angenommene Mittäterschaft nicht. Die Bezugsquelle der konsumierten Betäubungsmittel ist unbekannt, sodass nicht ausgeschlossen werden kann, dass nur einer der Angeklagten das Marihuana bezog und der Partnerin bzw. dem Partner anschließend den (Mit-)Konsum ermöglichte.

Zudem wurden vorliegend auch Ecstasy-Tabletten und Amphetamine bestellt; in Bezug auf diese Betäubungsmittel ergeben sich aus dem eigenen Konsumverhalten der Angeklagten keine Anhaltspunkte für eine Mittäterschaft.

dd) Auch die Verwendung des Klarnamens der Mitangeklagten pp. im Fall 4 bzw. des An-geklagten im Fall 5 begründet mittäterschaftliches Handeln nicht. Es liegt jedenfalls nicht fern, dass sich einer der beiden Angeklagten lediglich mit der Verwendung der Klarnamen einverstanden erklärte, ohne dabei selbst eigennützig zu handeln. Auch insoweit hätte eine Abgrenzung zur Beihilfe erfolgen müssen…..“

U-Haft I: Nachlässigkeiten begründen keine Flucht, oder: (Hohe) Straferwartung reicht allein nicht

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Ich habe seit längerem keine Beschlüsse zur U-Haft mehr vorgestellt. Jetzt hat sich einiges angesammelt, das ich heute vorstellen möchte.

An der Spitze der („schöne“) OLG Stuttgart, Beschl. v. 15.07.2022 – 4 Ws 302/22, den mir der Kollege Stehr aus Göppingen geschickt hat.

Der Kollege verteidigt in einem Verfahren wegen eines Vergewaltigungsverdachts. Der Angeklagte hat sich zunächst aufgrund eines auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützten Haftbefehls vom 03.07.2019 bis zum 02.09.2019 in Untersuchungshaft befunden.

Im ersten Rechtsgang hat das LG den Angeklagten mit Urteil vom 09.12. 2020 der Vergewaltigung schuldig gesprochen und ihn unter Einbeziehung anderweitig verhängter Geldstrafen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren, sechs Monaten und zwei Wochen verurteilt. Auf die Revision des Angeklagten hat der BGH das Urteil des LG mit den Feststellungen aufgehoben und die Sache an das LG zurückverwiesen. Mit Beschluss vom 29.10.2021 hat die nunmehr zuständige Strafkammer des LG den Haftbefehl vom 03.07.2019 mangels dringenden Tatverdachts sowie aus Verhältnismäßigkeitserwägungen aufgehoben. In der Folge wurde zur Vorbereitung der neuen Hauptverhandlung ein aussagepsychologisches Sachverständigengutachten eingeholt, welches dann am 09.05.2022 bei Gericht einging.

Am 02.06.2022 beantragte die Staatsanwaltschaft, gegen den Angeklagten einen neuerlichen Haftbefehl zu erlassen. Der Angeklagte sei aufgrund des zwischenzeitlich vorliegenden Gutachtens dringend tatverdächtig. Zudem bestehe der Haftgrund der Flucht. Der Angeklagte sei seit dem 07.03.2022 nicht auffindbar. Das LG hat sodann am 09.06.2022 gegen Angeklagten einen auf den Haftgrund der Flucht gestützten Haftbefehl erlassen. Mit Beschluss vom selben Tag hat das LG zudem das Verfahren wegen unbekannten Aufenthalts des Angeklagten vorläufig eingestellt. Zugleich verfügte der stellvertretende Kammervorsitzende die formlose Übersendung des Einstellungsbeschlusses an die Verfahrensbeteiligten. Diese Verfügung wurde am 13.06.2022 ausgeführt.

Nur zwei Tage später, am 15.06.2022, hat der Kollege dann der Strafkammer telefonisch mitgeteilt, dass es eine ladungsfähige Anschrift des Angeklagten gebe, unter der dieser auch erreicht werden könne. Diese Anschrift hat der Verteidiger sodann noch am selben Tag schriftsätzlich übermittelt. Daraufhin hat die Strafkammer eine polizeiliche Überprüfung der vom Verteidiger mitgeteilten Anschrift in Auftrag gegeben. Die Überprüfung hat ergeben, dass der Angeklagte dort tatsächlich wohnhaft war. Am Briefkasten war sein Name angebracht und eine Hausmitbewohnerin hat gegenüber den eingesetzten Polizeibeamten seine regelmäßige Anwesenheit bestätigt. Am 23.06.2022 nehmen Polizeikräfte den Angeklagten an der zuvor von seinem Verteidiger mitgeteilten Adresse fest. Der Angeklagte wurde zunächst dem AG vorgeführt, welches den Haftbefehl aufrecht erhielt und in Vollzug setzte. Nachdem der Angeklagte dies beantragt hatte, wurde er in der Folge am 01.07.2022 dem LG vorgeführt. Die Strafkammer hat Haftfortdauer angeordnet.

Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Beschwerde, der die Strafkammer nicht abgeholfen hat. Das Rechtsmittel hatte beim OLG Erfolg. Das OLG bejaht den dringenden Tatverdacht, hat aber das Vorliegen eines Haftgrundes verneint. Der Angeklagte sei nicht flüchtig im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO (gewesen):

„2. Es fehlt jedoch an einem Haftgrund. Der Angeklagte war nicht flüchtig im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO.

a) Zwar war der Angeklagte nicht nur in vorliegender Sache, sondern auch in weiteren Verfahren für die Strafverfolgungsbehörden einige Zeit nicht erreichbar. Auch hat er es versäumt, seine aktuelle Anschrift mitzuteilen bzw. sich ordnungsgemäß umzumelden. Dies rechtfertigt die Anordnung bzw. Fortdauer der Untersuchungshaft jedoch nicht.

Denn der Haftgrund der Flucht ist nicht schon dann gegeben, wenn sich der Beschuldigte von seinem bisherigen Lebensmittelpunkt absetzt. Vielmehr muss in subjektiver Hinsicht hinzukommen, dass der Wechsel des Wohn- oder Aufenthaltsortes erfolgt, um zumindest auch in einem Strafverfahren unerreichbar zu sein und sich dem behördlichen Zugriff zu entziehen (BeckOk StPO/Krauß, 43. Ed., § 112, Rn. 18). Es muss sich aus den Gesamtumständen der Wille des Angeklagten ergeben, sich dem Verfahren nicht stellen zu wollen (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 14. Dezember 2016 – 2 Ws 343/16, BeckRS 2016, 110810, Rn. 42). Bloße Nachlässigkeit, und sei sie auch noch so unverständlich, begründet den Haftgrund der Flucht dagegen nicht.

b) Gemessen hieran erweist sich der angefochtene Beschluss als rechtsfehlerhaft.

Gegen ein zielgerichtetes Untertauchen spricht schon, dass der Angeklagte an seiner neuen Wohnung sowohl am Klingelschild als auch auf dem Briefkasten jeweils seinen Namen anbrachte. Dies ergibt sich zum einen aus den vorgelegten Lichtbildern, zum anderen aber auch aus den im Rahmen der polizeilichen Anschriftenüberprüfung gewonnenen Erkenntnissen. Dass es sich nicht um eine Scheinanschrift handelte, belegen überdies die Angaben einer von den Polizeibeamten befragten Hausbewohnerin, die die regelmäßige Anwesenheit des Angeklagten in seiner Wohnung ausdrücklich bestätigte. Weiter konnte der Angeklagte problemlos und ohne dass es besonderer Fahndungsmaßnahmen bedurft hätte zeitnah an seiner Wohnanschrift festgenommen werden.

Hinzu kommt, dass der Angeklagte über seinen Verteidiger unmittelbar nach dem Erlass des Einstellungsbeschlusses sowohl telefonisch als auch schriftsätzlich seine neue Anschrift mitteilen ließ. Er hat seine Wohnanschrift gegenüber dem Landgericht also nicht länger verschwiegen oder gar zu verheimlichen versucht, sondern diese im Gegenteil sogar aktiv offenbart.

All dies spricht gegen die Annahme der Strafkammer, der Angeklagte habe es zumindest billigend in Kauf genommen, dass das Verfahren gegen ihn aufgrund seines Wohnsitzwechsels nicht durchgeführt werden kann, zumal sein Aufenthaltsort vor Erlass des Haftbefehls leicht über eine Anfrage bei seinem Verteidiger hätte abgeklärt werden können.

3. Darüber hinaus sind auch keine anderen Haftgründe ersichtlich.

Verdunkelungsgefahr liegt ersichtlich nicht vor und es sind auch keine hinreichend konkreten Tatsachen ersichtlich, auf die die Annahme von Fluchtgefahr im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO gestützt werden könnte. Zwar hat der Angeklagte im Fall der Verurteilung eine nicht unerhebliche Freiheitsstrafe zu gewärtigen, wenngleich dann im Rahmen der Strafzumessung zu berücksichtigen wäre, dass die Tat zwischenzeitlich mehr als drei Jahre zurückliegt. Zudem vermag die Straferwartung alleine Fluchtgefahr ohnehin nicht zu begründen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 112, Rn. 24). Darüber hinaus hat sich der Angeklagte — wohl wissend, dass ihm eine erhebliche, nicht mehr bewährungsfähige Freiheitsstrafe droht — dem bisherigen Verfahren gestellt. Insbesondere ist er zu den Hauptverhandlungsterminen jeweils erschienen, ohne dass dies durch Zwangsmaßnahmen sichergestellt werden musste. Der Umstand, dass er sich an zwei Verhandlungstagen nicht unerheblich verspätete, rechtfertigt die Annahme von Fluchtgefahr nicht.

Weiter kommt hinzu, dass der Angeklagte auch dann keine Fluchtvorbereitungen traf, als der stellvertretende Vorsitzende in einem mit dem Verteidiger geführten Telefonat am 1. Ju-ni 2022 signalisierte, dass eine Strafe im bewährungsfähigen Bereich aus Sicht der Straf-kammer wohl nicht in Betracht komme. Dennoch ließ der Angeklagte, unmittelbar nachdem der Einstellungsbeschluss ergangen war, von seinem Verteidiger seine aktuelle Anschrift mitteilen. Auch blieb er in der Folge dort aufhältig. Fluchtgefahr scheidet deshalb aus.“

Der Entscheidung ist nichts hinzuzufügen, außer, dass sie zutreffend ist. Sie ist zudem ein schöner Beweis, dass die Kontrollmechanismen auch im Haftrecht (noch) funktionieren. Man ist zudem erfreut über den Hinweis des Senats an die Strafkammer, dass man die Anschrift des Angeklagten beim Verteidiger hätte abklären können. Das OLG geht also wohl von der Notwendigkeit eines solchen Anfrage aus, wobei dahin gestellt bleiben soll, ob darauf eine Antwort erfolgt. Aber: Fragen kann man ja mal.

Zu begrüßen ist auch die Auffassung des OLG, dass alleine die – eine „hohe“ – Straferwartung nicht ausreicht, um die Fluchtgefahr zu begründen. Dabei geht es hier – die Vorstellungen der Strafkammer als richtig unterstellt – um ein Strafe von mehr als zwei Jahre bis zu der im ersten Rechtsgang verhängten Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren, sechs Monaten und zwei Wochen. Das ist eine Strafhöhe, bei der andere Gerichte ohne Probleme Fluchtgefahr angenommen hätten. Dazu nachher mehr.