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Corona II: Das Anzünden eines Corona-Testzeltes, oder: Gemeinschädliche Sachbeschädigung?

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Und als zweite Entscheidung dann der OLG Stuttgart, Beschl. v. 09.06.2022 – 4 Rv 26 Ss 173/22. Hat auch mit Corona zu tun, ist aber mal etwas anders als Impfpassfälschung o.Ä. Gegenstand des Beschlusses ist nämlich das Anzünden eines Coronatestzeltes. Das AG hat den Angeklagten deswegen wegen gemeinschädlicher Sachbeschädigung gemäß § 304 Abs. 1 StGB zu der Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 30,00 EUR verurteilt.

Dagegen die Revision, die nur wegen des Strafausspruchs Erfolg hatte:

„1. Das Amtsgericht hat den Angeklagten rechtsfehlerfrei der gemeinschädlichen Sachbeschädigung schuldig gesprochen. Das vom Angeklagten und seinen Mittätern zerstörte Zelt diente zum öffentlichen Nutzen im Sinne des § 304 Abs. 1 StGB.

Gegenstände zum öffentlichen Nutzen sind Sachen, die dem Publikum unmittelbaren Nutzen bringen, sei es durch ihren Gebrauch, sei es in anderer Weise (Fischer, StGB, 69. Aufl., § 304, Rn. 10). Diese Zweckbestimmung ist anzunehmen, wenn jedermann, gegebenenfalls nach Erfüllung bestimmter allgemeingültiger Bedingungen, unmittelbar aus dem Vorhanden sein oder dem Gebrauch des Gegenstands Nutzen ziehen kann (Schönke/ Schröder/Hecker, StGB, 30. Aufl., § 304, Rn. 8). Unzureichend ist es hingegen, wenn die fragliche Sache nur die Tätigkeit von Personen bei der Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben erleichtert oder ermöglicht. Ein solcher Gegenstand kommt der Allgemeinheit nicht unmittelbar zugute.

Hiervon ausgehend hat das Amtsgericht das Zelt zu Recht als von § 304 Abs. 1 StGB erfasst angesehen.

a) Die Teststelle konnte nach der zum Tatzeitpunkt gültigen „Verordnung zum Anspruch auf Testung in Bezug auf einen direkten Erregernachweis des Coronavirus SARS-CoV 2 (Coronavirus-Testverordnung — TestV)“ des Bundesministeriums für Gesundheit vom 24. Juni 2021 sowohl von gesetzlich Versicherten (§ 1 Abs. 1 TestV a.F.) als auch von nicht gesetzlich Versicherten (§ 1 Abs. 2 TestV a.F.) aufgesucht werden; es bestand ein allgemeiner, nicht an Bedingungen geknüpfter Anspruch auf eine Testung. Dies galt auch für asymptoma-tische Personen (sog. Bürgertestung, § 4a TestV a.F.). Mithin stand die Teststelle, also auch das bei der vorliegenden Tat zerstörte Zelt, jedermann zur Verfügung.

b) Dass vor der Durchführung der Tests die Personalien der zu testenden Personen hinterlegt werden mussten, führt zu keiner anderen Bewertung. Insoweit handelt es sich um bestimmte allgemeingültige Bedingungen, die der Verfügbarkeit für jedermann nicht entgegenstehen.

c) Bei dem Zelt handelte es sich auch nicht lediglich um ein Hilfsmittel für das an der Test-stelle tätige Personal zur Erleichterung oder Ermöglichung der dortigen Aufgaben. Vielmehr wurden nach den Feststellungen des Amtsgerichts unter dem Dach des Zelts die Personalien der zu testenden Personen erhoben sowie die Tests durchgeführt. Zudem diente das Zelt allen Anwesenden zum Schutz vor Regen und Sonneneinstrahlung.

Die Auffassung der Revision, wonach die Auslegung des Amtsgerichts dazu führe, dass auch die Beschädigung eines Kugelschreibers einer im Testzentrum tätigen Person unter § 304 StGB fallen würde, geht deshalb fehl. Bei dem Zelt handelte es sich gerade nicht um ein reines Arbeitsmittel, welches nur der Arbeitserleichterung, nicht aber unmittelbar der All-gemeinheit diente.

d) Die Rüge, das Urteil verhalte sich nicht zum Ausmaß der Schädigung bzw. zu Beeinträchtigungen des Testbetriebs, verfängt ebenfalls nicht. Vielmehr hat das Amtsgericht festgestellt, dass das Zelt zerstört wurde. Es verlor die Stabilität und brach nach wenigen Minuten in sich zusammen (UA S. 4). Dies genügt für eine Strafbarkeit nach § 304 StGB.

Nach alledem ist der Schuldspruch nicht zu beanstanden.

2. Der Strafausspruch hält dagegen der rechtlichen Überprüfung nicht stand.

Zwar ist die Strafzumessung grundsätzlich Sache des Tatrichters. Es ist seine Aufgabe, auf der Grundlage des umfassenden Eindrucks, den er in der Hauptverhandlung von der Tat und der Persönlichkeit des Täters gewonnen hat, die wesentlichen entlastenden und belastenden Umstände festzustellen, sie zu bewerten und gegeneinander abzuwägen. Ein Eingriff des Revisionsgerichts in die Einzelakte der Strafzumessung ist nur möglich, wenn die Zumessungserwägungen in sich fehlerhaft sind, von unzutreffenden Tatsachen ausgehen, das Tatgericht gegen rechtlich anerkannte Strafzwecke verstößt oder wenn sich die verhängte Strafe nach oben oder unten von ihrer Bestimmung, gerechter Schuldausgleich zu sein, so weit löst, dass sie nicht mehr innerhalb des dem Tatgericht eingeräumten Spielraums liegt (BGH, Urteil vom 24. Juni 2021 — 5 StR 545/20; NStZ-RR 2021, 346).

a) Das Amtsgericht hat es als strafschärfend gewertet, dass der Angeklagte sich „…durch die Tatentdeckung und eine Tatbeobachtung, in aller Öffentlichkeit, und die Anwesenheit von Passanten und das Einschreiten einer Zeugin, die ihn ausweislich der Feststellungen zum Einhalten aufgefordert hatte, nicht von seinem Tun abbringen ließ…“ (UA S. 6).

Diese Ausführungen lassen besorgen, dass das Amtsgericht dem Angeklagten zur Last gelegt hat, dass er die Tat überhaupt vollendete, anstatt nach dem Erscheinen der Zeugin von der weiteren Tatausführung Abstand zu nehmen. Dies ist rechtsfehlerhaft. Es darf dem An-geklagten nicht strafschärfend vorgehalten werden, wenn er sich nicht durch einen Dritten von der Fortsetzung seiner Tat hat abhalten lassen (BGH, NStZ-RR 2012, 169; vgl. auch BGH, NStZ-RR 2002, 106).

Die Erwägungen des Amtsgerichts können auch nicht als missverständliche Formulierungen interpretiert werden, durch die lediglich auf die bei der Tatbegehung an den Tag gelegte kriminelle Energie hingewiesen werden sollte. Vielmehr lassen die Ausführungen im Urteil deutlich erkennen, dass das Amtsgericht gerade der trotz des Einschreitens der Zeugin fortgesetzten Tatbegehung maßgebliche strafschärfende Bedeutung beigemessen hat, was sich schon daran zeigt, dass es diesen Gesichtspunkt noch vor den Tatfolgen wie etwa der Schadenshöhe als Straferschwerungsgrund angeführt und dadurch hervorgehoben hat (vgl. BGH, Beschluss vom 4. Mai 2022 – 6 StR 155/22).

b) Durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnen auch die Ausführung des Amtsgerichts zum Bemühen des Angeklagten um Schadenswiedergutmachung. Insoweit ist das Urteil lückenhaft.

aa) Zwar wurde dem Angeklagten strafmildernd zugutegehalten, dass er sich um Schadenswiedergutmachung bemüht hat, beinhaltend sogar die durch die Gebühren des durch ihn und seine Mittäter ausgelösten Feuerwehreinsatzes. Das Urteil verhält sich jedoch nicht zu der Art und Weise sowie insbesondere auch nicht zum Erfolg der Wiedergutmachungs-bemühungen. So bleibt offen, wann, in welcher Form und mit welcher Intensität sich der An-geklagte gegenüber wem um einen Ausgleich des durch die Tat verursachten Schadens bzw. der durch den Feuerwehreinsatz entstandenen, im Urteil nicht bezifferten Kosten be-müht hat. Auch bleibt unklar, ob es überhaupt zu Zahlungen kam oder es bei bloßen Bemü-hungen des Angeklagten blieb. Der Senat kann deshalb nicht überprüfen, ob die Bemühun-gen des Angeklagten um Schadenswiedergutmachung im Rahmen der Strafzumessung hinreichend berücksichtigt wurden.

bb) Überdies kann aufgrund der unzureichenden Darlegung der Wiedergutmachungsbemühungen des Angeklagten auch nicht überprüft werden, ob das Amtsgericht gehalten gewesen wäre, die tatbestandlichen Voraussetzungen eines Täter-Opfer-Ausgleichs gemäß § 46a Nr. 1 StGB zu prüfen und insbesondere Feststellungen dazu zu treffen, wie sich der (im Urteil nicht näher benannte) Betreiber des Testzentrums zu den Bemühungen des Angeklagten gestellt hat.“

Corona I: Vorlage eines gefälschten Impfbuchs, oder: Sperrwirkung in Altfällen vom OLG Stuttgart verneint

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Und in die 11. KW. starte ich dann mal wieder mit Entscheidungen zu Corona. Dazu habe ich länger nichts gebracht. Aber – die Zahlen zeigen es ja auch – der Mist ist lange noch nicht vorbei.

Zunächst hier dann der OLG Stuttgart, Beschl. v. 08.03.2022 – 1 Ws 33/22 – noch einmal zur Frage der Verdrängung des Straftatbestandes der Urkundenfälschung gemäß § 267 Abs. 1 StGB durch § 279 StGB a.F. in den Fällen der sog. Impfausweisfälschung. Die Frage ist ja in Rechtsprechung und Literatur umstritten; Nachweise findet man in der Entscheidung des OLG. Das OLG Stuttgart hat sich der Auffassung angeschlossen, die eine Sperrwirkung verneint, und das umfassend begründet:

„3. Die Anwendung des Straftatbestandes der Urkundenfälschung gemäß § 267 Abs. 1 StGB wird im vorliegenden Fall nicht durch § 279 StGB verdrängt.

a) Gemäß § 279 StGB in der bis zum 23. November 2021 geltenden Fassung wird bestraft, wer, um eine Behörde oder eine Versicherungsgesellschaft über seinen oder eines anderen Gesundheitszustand zu täuschen, von einem Zeugnis der in den §§ 277 oder 278 StGB bezeichneten Art Gebrauch macht. § 279 StGB stellt mithin den Gebrauch gefälschter Gesundheitszeugnisse im Sinne des § 277 StGB oder unrichtiger Gesundheitszeugnisse im Sinne des § 278 StGB unter Strafe.

b) Nach zutreffender herrschender Meinung verdrängt § 279 StGB a.F. jedenfalls bei Vorliegen sämtlicher Tatbestandsvoraussetzungen – als Privilegierungstat-bestand nach den Grundsätzen der Spezialität einen gleichzeitigen Verstoß gegen § 267 StGB (MüKoStGB/Erb, 3. Auflage 2019, § 279 StGB, Rn. 5; NK-StGB/ Puppe/Schumann, 5. Auflage 2017, § 279 StGB, Rn. 9; vgl. auch Schönke/Schröder/Heine/Schuster, 30. Auflage 2019, § 277 StGB, Rn. 12; Lack-ner/Kühl/Heger, 29. Auflage 2018, § 277 StGB, Rn. 5; so auch bereits das Reichsgericht, Urteil vom 1. Dezember 1881 – 2112/81, RGSt 6, 1 f.). Während § 267 StGB mit Geldstrafe oder mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren geahndet werden kann, sehen die Straftatbestände der §§ 277 bis 279 StGB nur Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu einem (§§ 277, 279 StGB) bzw. bis zu zwei Jahren (§ 278 StGB) vor. Zudem besteht in den Fällen der §§ 277 bis 279 StGB keine Versuchsstrafbarkeit.

c) Nach derzeitigem Ermittlungsstand handelt es sich bei dem durch den Ange-klagten vorgelegten Impfpass um ein objektiv unrichtiges Gesundheitszeugnis gemäß den §§ 277 ff. StGB. Gesundheitszeugnisse sind Urkunden, die Erklä-rungen zum Gesundheitszustand eines Menschen enthalten (vgl. Fischer, StGB, 68. Auflage 2021, § 277 Rn. 3; MüKoStGB/Erb, 3. Auflage 2019, § 277, Rn. 2). Hierunter fällt auch der Impfnachweis, da die Impfung eine Information über die voraussichtlich gesteigerte Immunabwehrkraft als Aspekt des Gesundheitszustandes impliziert (Gaede/Krüger, NJW 2021, 2159, 2163; siehe auch RGSt 24, 284; OLG Hamburg, Beschluss vom 27. Januar 2022 – 1 Ws 114/21, juris, Rn. 16; OLG Bamberg, Beschluss vom 17. Januar 2022 – 1 Ws 732/21, juris, Rn. 14).

Eine Strafbarkeit nach § 279 StGB a.F. setzt jedoch das Gebrauchen des Gesundheitszeugnisses zur Täuschung einer Behörde (oder einer Versicherungsgesellschaft) voraus. Dabei ist eine Behörde ein ständiges, von der Person des Inhabers unabhängiges, in das Gefüge der öffentlichen Verwaltung eingeordnetes Organ der Staatsgewalt mit der Aufgabe, unter öffentlicher Autorität nach eigener Entschließung für Staatszwecke tätig zu sein (Fischer, StGB, 69. Auflage 2022, § 11, Rn. 29 mwN).

Bei einer Apotheke handelt es sich nicht um eine Behörde in diesem Sinne, sondern um ein privates Unternehmen (LG Osnabrück, Beschluss vom 26. Oktober 2021 – 3 Qs 38/21, juris, Rn. 9). Auch die Tatsache, dass gemäß § 22 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 VSG die Durchführung einer Schutzimpfung gegen das Coronavirus in einem digitalen Impfzertifikat auch von Apotheken zu bescheinigen ist, führt nicht dazu, dass diese als Behörden im Sinne des § 279 StGB a.F. anzusehen sind.

Der Umstand, dass gemäß § 22 Abs. 5 Satz 3 IfSG eine zur Bescheinigung der Schutzimpfung verpflichtete Apotheke bestimmte personenbezogene Daten an das Robert-Koch-Institut als Bundesbehörde übermittelt, welches das COVID-19-Impfzertifikat technisch generiert, führt vorliegend ebenfalls nicht zu einer Strafbarkeit nach §§ 277 ff. StGB. Zwar erfordert ein „Gebrauch machen“ im Sinne des § 279 StGB keine eigenhändige Vorlage, es setzt jedoch ein – wenn auch nur mittelbares – Verbringen in den Machtbereich der Behörde mit der Möglichkeit jederzeitiger sinnlicher Wahrnehmung bzw. Kenntnisnahme voraus (OLG Stuttgart, Urteil vom 25. September 2013 – 2 Ss 519/13, juris, Rn. 21). Gemäß § 22 Abs. 5 IfSG werden dem Robert-Koch-Institut lediglich die personenbezogenen Daten aus dem vorgelegten Impfpass in elektronischer Form übermittelt, nicht jedoch der vorgelegte Impfpass selbst, so dass das Robert-Koch-Institut diesbezüglich keine eigene Möglichkeit der Kenntnisnahme hat (vgl. LG Osnabrück, Beschluss vom 26. Oktober 2021 – 3 Qs 38/21, juris, Rn. 12; OLG Bamberg, Beschluss vom 17. Januar 2022 – 1 Ws 732/21, juris, Rn. 52).

d) Da das Impfbuch im vorliegenden Fall nicht gebraucht wurde, um eine Behörde bzw. Versicherungsgesellschaft zu täuschen, vermag die zur Tatzeit geltende Fassung der §§ 277, 279 StGB nach Auffassung des Senats gegenüber dem Delikt der Urkundenfälschung keine Sperrwirkung zu entfalten.

In der Literatur wird überwiegend vertreten, dass die §§ 277 ff. StGB in der bis zum 23. November 2021 geltenden Fassung gegenüber dem Delikt der Urkundenfälschung eine umfassende Privilegierung des Umgangs mit gefälschten bzw. unrichtigen Gesundheitszeugnissen darstellten (vgl. MüKoStGB/Erb, 3. Auflage 2019, § 277, Rn, 11; Hoyer, SK-StGB, 9. Auflage 2017, § 277 Rn. 5; Zieschang in Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Auflage 2009, § 277, Rn. 16). Dieser Ansicht haben sich mittlerweile auch mehrere Gerichte angeschlossen (vgl. OLG Bamberg, Beschluss vom 17. Januar 2022 – 1 Ws 732/21, juris; LG Osnabrück, Beschluss vom 26. Oktober 2021 – 3 Qs 38/21, juris; LG Karlsruhe, Beschluss vom 26. November 2021 -19 Qs 90/21; LG Kaiserslautern, Beschluss vom 23. Dezember 2021 – 5 Qs 107/21, juris; LG Landau, Beschluss vorn 13. Dezember 2021 – 5 Qs 93/21; zweifelnd hingegen LG Heilbronn, Beschluss vom 11. Januar 2022 – 1 Qs 95/21, juris). Nach der ebenfalls vertretenen Gegenauffassung (OLG Hamburg, Beschluss vom 27. Januar 2022 – 1 Ws 114/21, juris) sollte jedoch lediglich die Vorlage gefälschter bzw, unrichtiger Gesundheitszeugnisse gegenüber Behörden und Versicherungen privilegiert werden.

e) Der Senat schließt sich der letztgenannten Auffassung an.

Die §§ 277 bis 279 StGB in der bis zum 23. November 2021 gültigen Fassung befinden sich bereits seit dem Jahr 1871 im Kern unverändert im deutschen Strafgesetzbuch (vgl. RGBI. 1871, 127 [180]). Angesichts des Alters der Normen und des seither erfolgten vielfältigen allgemeinen Bedeutungswandels des Strafrechts erscheint bei der Auslegung des Gesetzes der historische Wille des damaligen Gesetzgebers in seinem Gewicht vermindert (OLG Hamburg, Beschluss vom 27. Januar 2022 – 1 Ws 114/21, juris, Rn. 22 mwN). So erscheint es zwar durchaus möglich, dass der Gesetzgeber zur damaligen Zeit dem Inhalt eines Gesundheitszeugnisses nur eingeschränkte Aussagekraft zumessen und aus diesem Grund nicht die gleiche Bedeutung beimessen wollte wie einer sonstigen Urkunde (so OLG Bamberg, Beschluss vom 17. Januar 2022 – 1 Ws 732/21, juris, Rn. 19). Aus hiesiger Sicht ist es jedoch auch vorstellbar, dass der Gesetzgeber die Privilegierung der Vorlage von Gesundheitszeugnissen gegenüber Versicherungen und Behörden im Gegensatz zur Vorlage gegenüber Privaten deshalb eingeführt hat, weil er davon ausging, dass Versicherungen und Behörden die Fälschungen leichter zu erkennen vermögen als Privatpersonen (so LG Heilbronn, Beschluss vom 11. Januar 2022 – 1 Qs 95/21, juris, Rn. 12), oder weil gegenüber Versicherungen und Behörden häufig ein zumindest faktischer Zwang zur Einreichung von gesundheitlichen Zeugnissen besteht (vgl. OLG Hamburg, Beschluss vom 27. Januar 2022 – 1 Ws 114/21, juris, Rn. 34).

Das Verhältnis zwischen § 267 StGB und den §§ 277 ff. StGB in der bis zum 23. November 2021 geltenden Fassung ist gesetzlich nicht ausdrücklich bestimmt. Das Gesetz enthielt insbesondere keine ausdrücklichen Hinweise auf einen Anwendungsvorrang der §§ 277 StGB (LG Heilbronn, Beschluss vom 11. Januar 2022 – 1 Qs 95/21, juris, Rn. 11). Ein solcher drängte sich unmittelbar nur in Fällen auf, in denen die Voraussetzungen der §§ 277 ff. StGB auch tatsächlich vorlagen (vgl. OLG Hamburg, Beschluss vom 27. Januar 2022 – 1 Ws 114/21, juris, Rn. 38).

Aus einer systematischen Gesamtbetrachtung lässt sich entgegen der überwiegend vertretenen Auffassung gerade nicht zwingend entnehmen, dass der Gesetzgeber Gesundheitszeugnisse grundsätzlich anders behandeln wollte als sonstige Urkunden, so dass jene aus dem Anwendungsbereich der Urkundenfälschung herausfallen sollten (so auch OLG Hamburg, Beschluss vom 27. Januar 2022 – 1 Ws 114/21, juris, Rn. 27 ff.). Der Tatbestand der Urkundenfälschung schützt den Rechtsverkehr umfassend vor der Herstellung und dem Gebrauch unechter bzw. gefälschter Urkunden, wobei eine Beschränkung auf Bereiche, die als besonders schützenswert oder bedeutsam angesehen werden, gerade nicht stattfindet. Eine generelle Herausnahme von Gesundheitszeugnissen aus dem Anwendungsbereich der Urkundendelikte stünde in einem überraschenden Gegensatz zur grundsätzlich weitreichenden Regelung der Urkundendelikte, die auch eine Vielzahl von Lebenssachverhalten erfassen, deren Bedeutung für den Rechtsverkehr geringer ist als derjenige von Gesundheitszeugnissen (vgl. OLG Hamburg, Beschluss vom 27. Januar 2022 – 1 Ws 114/21, juris, Rn. 27). Gegen die Annahme, dass der Gesetzgeber Täuschungen mit Gesundheitszeugnissen als generell weniger strafwürdig einstufte als Täuschungen mit sonstigen Urkunden, spricht vielmehr die erste Handlungsalternative des § 277 StGB in der bis zum 23. November 2021 geltenden Fassung, welche eine – nach den Urkundendelikten nicht strafbare – schriftliche Lüge beschreibt (NK-StGB/ Puppe/Schumann, 5. Auflage 2017, § 277 StGB, Rn. 7), womit die Strafbarkeit im Verhältnis zu sonstigen Urkundendelikten sogar erweitert wurde (vgl. OLG Hamburg, Beschluss vom 27. Januar 2022 – 1 Ws 114/21, juris, Rn. 28). Dar-über hinaus ist gegen eine gewollte generelle Sonderstellung von Gesundheitszeugnissen anzuführen, dass diese aufgrund des Fehlens diesbezüglicher Regelungen in den §§ 277 ff. StGB a.F. – ebenso wie sämtliche anderen Urkunden – auch der Urkundenunterdrückung des § 274 Abs. 1 Nr. 1 StGB unterfielen (OLG Hamburg, Beschluss vom 27. Januar 2022 – 1 Ws 114/21, juris, Rn. 29).

Es ist zudem nicht ersichtlich, dass das Strafgesetzbuch seiner Systematik nach den Gebrauch falscher Gesundheitszeugnisse gerade gegenüber Behörden und Versicherungen als unrechtserhöhend einstufte; vielmehr enthält das Gesetz angesichts der weitreichenden Erfassung von Fälschungen durch § 267 StGB keine Hinweise darauf, die rechtserheblichen Auswirkungen der Vorlage von Zeugnissen gegenüber Privatleuten oder privaten Unternehmen generalisierend geringer einzustufen als die Vorlage bei Behörden oder Versicherungen (OLG Hamburg, Beschluss vom 27. Januar 2022 1 Ws 114/21, juris, Rn. 32 ff.).

Nach alledem erscheint es richtig, die zur Tatzeit geltende Fassung des § 279 StGB gegenüber dem Delikt der Urkundenfälschung nur dann als ver-drängenden Privilegierungstatbestand anzusehen, wenn von dem unrichtigen Gesundheitszeugnis zum Zweck Gebrauch gemacht wurde, eine Behörde oder Versicherungsgesellschaft zu täuschen.

Dieser Auffassung steht nicht entgegen, dass ohne eine umfassende Sperrwirkung der §§ 277 ff. StGB das bloße Fälschen eines Gesundheitszeugnisses, welches lediglich gemäß § 267 StGB strafbar war, schwerer bestraft würde als das Fälschen und die anschließende Vorlage im Sinne des § 277 StGB (so OLG Bamberg, Beschluss vom 17. Januar 2021 – 1 Ws 732/21, juris, Rn. 20). Dieser Problematik kann dadurch Rechnung getragen werden, die bloße Fälschung von Gesundheitszeugnissen dann unter die – § 267 StGB verdrängende Vorschrift des § 277 StGB in der bis zum 23. November 2021 geltenden Fassung fallen zu lassen, wenn deren Zweckbestimmung zur Täuschung im Rechtsverkehr sich lediglich auf Behörden und Versicherungen bezieht (vgl. OLG Hamburg, Beschluss vom 27. Januar 2022 – 1 Ws 114/21, juris, Rn. 37).

Die vom Senat vertretene Auffassung verstößt aus den dargelegten Gründen auch nicht gegen Art. 103 Abs. 2 GG. Der Straftatbestand des § 267 StGB erfasst die Vorlage unrichtiger Gesundheitszeugnisse gegenüber Apotheken. Ausdrückliche Hinweise auf einen § 267 StGB verdrängenden Anwendungsvorrang des § 279 StGB enthält das Gesetz gerade nicht.“

OWi III: Nochmals Abwesenheit der Betroffenen, oder: Abwesenheitsverhandlung/Verwerfungsurteil

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Und im dritten Posting dann noch einmal Abwesenheit des Betroffenen (§3 73, 74 OWiG), und zwar mit zwei Entscheidungen zur Abwesenheitsverhandlung und zur Begründung der Rechtsbeschwerde gegen ein Verwerfungsurteil. Beide Entscheidungen behandeln „Dauerbrennerfragen“, und zwar:

Hat das AG in einer sog. Abwesenheitsverhandlung nicht frühere Äußerungen und Anträge des Betroffenen zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht und diese weder in der Hauptverhandlung noch in den Urteilsgründen beschieden, ist das Recht des Betroffenen auf rechtliches Gehör verletzt.

Bei der Verwerfung eines Einspruchs nach § 74 OWiG muss sich das Gericht in den Urteilsgründen mit den Einwendungen und Bedenken gegen eine Verwerfung auseinandersetzen, insbesondere auch mit der Zulässigkeit eines Antrags und dessen Begründung, den Betroffenen von der Verpflichtung zum Erscheinen in der Hauptverhandlung zu entbinden, sowie den Erwägungen zur Ablehnung des Antrags. Das Urteil ist schon dann fehlerhaft, wenn es den Entbindungsantrag des Betroffenen nicht erwähnt.

 

 

 

Verkehrsrecht II: Vorläufige Entziehung nach § 111a StPO, oder: Nach 16 Monaten noch verhältnismäßig?

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In dem zweiten Entscheidung des Tages behandelt das OLG Stuttgart im OLG Stuttgart, Beschl. v. 22.10.2021 –1 Ws 153/21 – die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 11a StPO) durch Berufungsgericht.

Das AG hatte den Angeklagten wurde wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort am 25.3.2021 zu einer Geldstrafe verurteilt. Ferner hat das AG im Urteil die Entziehung der Fahrerlaubnis, die Einziehung des Führerscheins und eine Sperrfrist von acht Monaten angeordnet. Die Tat soll am 04.06.2020 begangen worden sein, der Schaden etwa 3.000 € betragen. Angeklagter und StA haben gegen das Urteil Berufung eingelegt. Mit Beschluss vom 30.08.2021 hat dann das LG dem Angeklagten die Fahrerlaubnis nach § 111a Abs. 1 Satz 1 StPO vorläufig entzogen. Die Beschwerde des Angeklagten blieb beim OLG erfolglos:

„2. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist – auch in Anbetracht des Zeitablaufs – gewahrt. Eine Fahrerlaubnis kann mit zunehmender zeitlicher Distanz zum Tatgeschehen noch (vorläufig) entzogen werden, wenn nach einer sorgfältigen, am Einzelfall orientierten Abwägung das öffentliche Interesse an der Sicherheit des Straßenverkehrs und der Schutz der Allgemeinheit das Interesse des Fahrerlaubnisinhabers an der uneingeschränkten Nutzung seiner Fahrerlaubnis überwiegt (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 1. April 2011, – 3 Ws 153/11 –, juris).

a) Der Senat verkennt dabei nicht, dass seit der vorgeworfenen Tat fast sechzehn Monate und seit dem erstinstanzlichen Urteil nunmehr sieben Monate vergangen sind. Er hat bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit auch die von der Verteidigung vorgebrachte Rechtsprechung der Landgerichte Ravensburg, Saarbrücken und Koblenz berücksichtigt, die in den dortigen Einzelfällen bei sechs, acht bzw. neun Monaten Zeitablauf die Entziehung der Fahrerlaubnis als unverhältnismäßig beurteilen (vgl. LG Ravensburg, Beschluss vom 22. Mai 1995 – 1 Qs 139/95 –; LG Saarbrücken, Beschluss vom 15. März 2007 – 3 Qs 70/07 – und LG Koblenz, Beschluss vom 10. Oktober 2017 – 3 Qs 84/17 –; jeweils juris).

Doch rechtfertigt der bloße bisherige Zeitablauf nicht zwangsläufig die Annahme, der durch die Tatbegehung indizierte Eignungsmangel sei im Zeitpunkt der tatrichterlichen Entscheidung entfallen (so auch OLG Koblenz, Beschluss vom 10. Oktober 2007 – 1 Ws 513/07 –, NZV 2008, 47 f., beck-online; ähnlich KG Berlin, Beschluss vom 8. Februar 2017, – 3 Ws 39/17 –, juris). Auch das Bundesverfassungsgericht hat keine verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn bei der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111a StPO im Einzelfall der Sicherheit des Straßenverkehrs der Vorrang gegenüber dem eingetretenen Zeitablauf und der bei der Staatsanwaltschaft zu beobachtenden Verfahrensverzögerung eingeräumt wird (vgl. BVerfG, Beschluss vom 15. März 2005 – 2 BvR 364/05 –, NJW 2005, 1767 ff., beck-online).

b) Dieser Grundsatz gilt umso mehr, wenn die eingetretene Verfahrensverzögerung nicht auf Seiten der Staatsanwaltschaft oder der Gerichte, sondern in der Sphäre des Angeklagten und seines Verteidigers zu beobachten ist. Zwar stellt § 111a StPO eine vorläufige Maßnahme zur Sicherheit des Straßenverkehrs dar, weswegen der Zeitablauf selbstredend nicht unendlich sein kann. Liegt die Verantwortung für einen überschaubaren Zeitablauf von sechzehn Monaten jedoch auch in der Sphäre des Angeklagten und der Verteidigung, so kann und muss dieser Umstand bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit einer späteren Maßnahme nach § 111a StPO Berücksichtigung finden. Ein etwaiger Vertrauensschutz bezüglich der im bisherigen Verfahren unterbliebenen vorläufigen Entziehung wiegt nicht so schwer, als dass die angefochtene Entscheidung ermessensfehlerhaft erscheint (so auch KG Berlin, Beschluss vom 8. Februar 2017, – 3 Ws 39/17 –; juris). Vielmehr kann ein Angeklagter kein hinreichend schutzwürdiges Vertrauen auf den (vorläufigen) Erhalt der Fahrerlaubnis gründen, wenn er selbst durch sein Prozessverhalten zu einer Verfahrensverzögerung beigetragen hat.

Zentral ist dabei eine sorgfältige, am Einzelfall orientierte Abwägung der von § 111a StPO geschützten Rechtsgüter mit dem Grundsatz der effektiven Verteidigung nach Art. 6 Abs. 3 EMRK. Eine zulässige Verteidigung darf sich im Ergebnis nicht zum Nachteil des Angeklagten auswirken. Zugleich ist aber ein einfaches „Abwarten und Bestreiten“ nicht immer zielführend (vgl. hierzu auch Gübner/Krumm, Verteidigungsstrategien bei drohender Fahrerlaubnisentziehung, NJW 2007, 2801 ff., beck-online).

c) Im vorliegenden Fall verlief das bisherige Prozessgeschehen auffallend schleppend, obwohl sowohl die Ermittlungsbehörden als auch die Gerichte das Verfahren am Beschleunigungsgrundsatz orientiert betrieben und gefördert haben. Die Verfahrensverzögerung ist demgegenüber in der Sphäre des Angeklagten und der Verteidigung entstanden. Dabei ist wesentlich, dass nicht die einzelnen Punkte an sich, wohl aber die Gesamtschau der Vorkommnisse zu einer beachtlichen Verfahrensverzögerung geführt haben.

Im Einzelnen:

Der ursprüngliche Strafbefehl wurde am 14. Dezember 2020 erlassen und am 17. Dezember 2020 an die Meldeadresse in B. zugestellt. Er war bereits rechtskräftig geworden, bis der Angeklagte im Rahmen des an eine verworfene Wiedereinsetzung sich anschließendes Beschwerdeverfahren auf einen „Zweitwohnsitz“ in S. aufmerksam machte. Auch fortan konnte keine Zustellung in angemessener und üblicher Zeit erfolgen, da trotz mehrfacher Einwohnermeldeamtsanfragen der Angeklagte fortwährend verschiedene Meldeadressen in B. und S. geltend machte. Dies führte zwischenzeitlich zu einer Doppelzustellung der Beschlüsse.

Bei der Terminierung folgten weitere Verfahrensverzögerungen: Auf Antrag der Verteidigung wurde die erstinstanzlich terminierte Verhandlung auf einen späteren Zeitpunkt verlegt. Das Empfangsbekenntnis des Verteidigers zur zweitinstanzlich terminierten Verhandlung kam nicht in den Rücklauf.

Die Berufungshauptverhandlung am 26. Juli 2021 konnte nicht durchgeführt werden. Der Verteidiger trug insoweit – trotz vorheriger Terminsabstimmung – vor, nicht erscheinen zu können. Seine gegen die Terminierung erhobene Beschwerde zum Oberlandesgericht Stuttgart blieb ebenso erfolglos (1 Ws 118/21) wie sein Befangenheitsantrag gegen die Vorsitzende Richterin wegen Nichtverlegung des Termins. Das diskrepante Verhalten des Verteidigers setzte sich fort, indem er dann zum Termin entgegen seines Vortrags, verhindert zu sein, doch erscheinen konnte.

Die Durchführung des zweitinstanzlichen Termins scheiterte dann jedoch an dem Fernbleiben des Angeklagten. Dieser begab sich am Morgen des Verhandlungstags nicht pflichtgemäß zum Gericht, sondern stellte sich zehn Minuten nach Verhandlungsbeginn einem ihm bis dato völlig unbekannten Arzt vor. Der Angeklagte machte „Durchfall“ geltend, da er Eier gegessen habe. Der Arzt konstatierte, dass der Gesundheitszustand des Angeklagten für eine etwaige Infektion mit Salmonellen zu gut sei. Dem Begehren des Angeklagten, dass er ein Attest für eine Verhandlungsunfähigkeit benötigen würde, kam der Arzt schließlich für einen Tag nach.

Hinsichtlich eines neuen von Seiten der Vorsitzenden der Berufungskammer vorgeschlagenen Termins haben weder der Angeklagte noch der Verteidiger auf die möglichen Verfügbarkeiten eines geeigneten Sachverständigen reagiert, was erneut zu einer Verfahrensverzögerung geführt hat.

Diese einzelnen Verzögerungsaspekte wären für sich genommen jeweils unerheblich, in ihrer Gesamtschau führen sie jedoch zu einem erheblichen Zeitablauf, der aus der Sphäre des Angeklagten und seines Verteidigers resultiert. Der Angeklagte konnte daher kein schützenswertes Vertrauen auf den (vorläufigen) Erhalt der Fahrerlaubnis bilden. Der Grundsatz einer effektiven Verteidigung führt insoweit zu keiner anderen Betrachtungsweise. Im Gegenteil: Berücksichtigt man, dass der Angeklagte in der nun vergangenen Zeit sechzehn Monate lang die jederzeitige Entziehung seiner Fahrerlaubnis befürchten musste, jedoch die ursprünglich vorgesehenen acht Monate Sperrzeit zwischenzeitlich bereits zweimal abgelaufen gewesen wäre, ist darüber nachzudenken, ob eine Verfahrens-verzögerung durch „Abwarten und Bestreiten“ zielführend ist.

Die (vorläufige) Entziehung der Fahrerlaubnis ist daher auch in Anbetracht des Zeitablaufs verhältnismäßig.“

Man ist schon erstaunt, dass das OLG das Prozessverhalten des Angeklagten ins Spiel bringt. Man fragt sich, was das im Hinblick auf die Verkehrssicherheit für eeine Bedeutung für die Entscheidung nach § 111a StPO hat? Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier Angeklagter und Verteidiger wegen der Verfahrensverzögerungen – die wir nicht näher kennen – abgestraft werden sollen. Das zeigt aber: Man darf den Bogen auch nicht überspannen 🙂 .

OWI II: Einsichtnahme des Betroffenen in die gesamte Messreihe, oder: Geht doch

entnommen wikimedia.org
Urheber Jepessen

Im zweiten Posting dann zwei Entscheidungen zum Dauerbrenner: Einsichtnahme des Betroffenen in die Daten der Messreihe.

Dazu werden wir dann ja – hoffentlich bald – etwas vom BGh hören, nachdem das OLG Zweibrücken mit dem OLG Zweibrücken, Beschl. v. 04.05.2021 – 1 OWi 2 SsRs 19/21 – die damit zusammenhängenden Fragen dem BGH vorgelegt hat (Sondermeldung: Einsichtnahme in die gesamte Messreihe, oder: OLG Zweibrücken legt dem BGH vor).

Vorher haben wir dazu jetzt etwas vom OLG Stuttgart gehört. Das konnte offenbar die Entscheidung des BGh nicht abwarten, denn es hat jetzt im OLG Stuttgart, Beschl. v. 03.08.2021 – 4 Rb 12 Ss 1094/20 -, über den ja der Kollege Gratz schon berichtet hat, zu den Fragen Stellung genommen (vielleicht hat das OLG aber auch den Vorlagebeschluss übersehen 🙂 ). Jedenfalls hat es sich geäußert, und zwar für den Betroffenen positiv. Hier der Leitsatz zu der Entscheidung:

1. Der Betroffene hat ein Recht auf Einsichtnahme in die Daten der Messreihe.

2. Der Betroffene muss aber die Einsichtnahme schon frühzeitig im Bußgeldverfahren beantragen und im Verfahren nach § 62 Abs. 1 OWiG weiterverfolgen. Die Verteidigung muss sich jedoch nicht darauf verweisen lassen, die Einsicht in den Räumen der Behörde vorzunehmen, sondern kann beispielsweise dieser einen Datenträger zur Verfügung zu stellen, um auf diesem die Messdaten zugesandt zu bekommen.

Ähnlich übrigens ja schon: OLG Karlsruhe, Beschl. v.- 16.07.2019 – 1 Rb 10 Ss 291/19 und OLG Jena, Beschl. v. 17.03.2021 – 1 OLG 331 SsBs 23/20. Man darf gespannt sein, was der BGH daraus macht.

Und als zweite Entscheidung dann hier der AG Jülich, Beschl. v. 17.08.2021 – 14 OWi 290/21 (b) – mit folgenden Leitsätzen:

  1. In Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung des AG Jülich besteht unter Berücksichtigung der durch das Bundesverfassungsgericht hierzu ergangenen Entscheidung (Beschl. v. 12.11.2020 — 2 BvR 1616/18) und der hierin festgelegten Grundsätze auf Antrag der Verteidigung neben dem Anspruch auf Übersendung des streitgegenständlichen Mess-Datensatzes nunmehr auch ein Anspruch auf Einsicht in die gesamte Messreihe durch Übersendung der weiteren Datensätze der gesamten Messreihe.

  2. Aus datenschutzrechtlichen Gründen hat der Verteidiger jedoch vor Zurverfügungstellen der Daten neben der Übersendung eines geeigneten Datenträgers schriftlich (per Post, Fax oder beA) eine anwaltliche Versicherung zur Akte zu reichen, dass er dafür Sorge trägt, dass die Daten von nicht verfahrensbeteiligten Personen auch durch etwaig von ihm beauftragte Sachverständige oder andere Personen, denen die Daten durch ihn zugänglich gemacht werden, vertraulich behandelt werden.

Zu 1) verständlich, zu 2) m.e. Unsinn, denn: Wie soll der Verteidiger sicher stellen bzw. dafür Sorge tragen, dass die Daten u.a. vom Sachverständigen vertraulich behandelt werden. Und: Was wird passieren, wenn das nicht klappt? Also: Kann man besser lassen.