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StPO II: Überwachung von Besuchen/Schriftverkehr, oder: Verdunkelungsgefahr?

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Die zweite Entscheidung kommt mit dem OLG Stuttgart, Beschl. v. 26.03.2024 – 1 Ws 26/24 – aus Baden Württemberg. Das OLG hat Stellung genommen zu Beschränkungen während der Untersuchungshaft, nämlich Überwachung des Schriftverkehrs und von Besuchen nach Verurteilung:

„Der Vorsitzende der Schwurgerichtskammer, der nach § 126 Abs. 2 S. 2 und 3 StPO während des Revisionsverfahrens für Entscheidungen über Maßnahmen nach § 119 StPO zuständig bleibt (KK-StPO/Gericke, 9. Aufl., § 126 Rn. 11, 12), hat die Aufhebung der Haftbeschränkungen zu Recht abgelehnt. Diese sind weiterhin erforderlich und verhältnismäßig.

1. Beschränkende Anordnungen nach § 119 Abs. 1 StPO sind zulässig, wenn aufgrund konkreter Anhaltspunkte eine reale Gefahr für die gesetzlichen Haftzwecke besteht, die nicht anders abgewehrt werden kann (BVerfG, NStZ-RR 2015, 79; OLG Stuttgart, BeckRS 2022, 2423). Für diese Beurteilung sind nicht nur Haftgründe zu berücksichtigen, auf die der Haftbefehl gestützt ist. Herangezogen werden können auch in den Haftbefehl nicht aufgenommene Haftgründe (OLG Stuttgart aaO). Insbesondere sind Beschränkungsanordnungen zur Vermeidung der Verdunkelungsgefahr zulässig, auch wenn der Haftbefehl nur den Haftgrund der Fluchtgefahr enthält (KG, StV 2010, 370; OLG Celle, NStZ-RR 2010, 159; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 119 Rn. 5).

Da bei der Anwendung des § 119 Abs. 1 StPO dem Umstand Rechnung zu tragen ist, dass ein Untersuchungsgefangener noch nicht rechtskräftig verurteilt ist und deshalb nur unvermeidlichen Einschränkungen seiner Grundrechte unterworfen werden darf, genügt die bloße, rein theoretische Möglichkeit, dass er seine Freiheiten missbrauchen könnte, nicht. Vielmehr bedarf es einer einzelfallbezogenen Prüfung, ob konkrete Anhaltspunkte für eine Gefährdung der in § 119 Abs. 1 StPO bezeichneten öffentlichen Interessen bestehen (BVerfG aaO; KG, NStZ-RR 2014, 377 und BeckRS 2022, 38740 jew. mwN).

Solche Anhaltspunkte erfordern aber weder schon begangene Vertuschungs- oder Verdunkelungshandlungen (OLG Frankfurt a. M., BeckRS 2024, 2765; 2023, 34377; BeckOK-StPO/Krauß, Stand: 1.1.2024, § 119 Rn. 12) noch Hinweise auf konkrete Vorhaben des Gefangenen (KK-StPO/Gericke, 9. Aufl., § 119 Rn. 10). Vielmehr können zur Beurteilung der einem Haftzweck zuwiderlaufenden Gefahr etwa das Vortat-, Tat- und Nachtatverhalten, sonstige Umstände der Tatbegehung, die persönlichen Verhältnisse des Angeklagten und die Art der ihm zur Last gelegten Tat(en) herangezogen werden (Löwe-Rosenberg/Gärtner, StPO, 27. Aufl., § 119 Rn. 21, 22). Ebenso darf auf allgemeine kriminalistische Erfahrungen abgestellt werden. So ist etwa anerkannt, dass Absprachen unter Tatbeteiligten jedenfalls dann naheliegen, wenn diese nicht geständig sind. Umso mehr gilt dies, wenn Berührungspunkte zu Angehörigen und Freunden bestehen, sodass nicht nur ein gesteigertes Vertrauensverhältnis besteht, sondern diese sich zudem regelmäßig dem Angeklagten besonders emotional verpflichtet fühlen (OLG Frankfurt a.M., BeckRS 2023, 34377).

a) Danach besteht Verdunkelungsgefahr im Sinne des § 119 Abs. 1 S. 1 StPO in Fällen schwererer Kriminalität schon dann, wenn kein Geständnis vorliegt und ein Näheverhältnis entweder zwischen einem Untersuchungsgefangenen und einem bzw. weiteren Tatbeteiligten oder zwischen dem Untersuchungsgefangenen und einer oder mehreren Beweispersonen besteht, etwa weil Familienangehörige, Verwandte, Freunde oder Bekannte in die Tat involviert sind und/oder ihnen innerhalb der Beweisführung eine zentrale oder jedenfalls nicht unbedeutende Rolle zukommen kann. Dies gilt nicht nur bei terroristischen Straftaten, Bandendelikten, Clan-Kriminalität und Formen der organisierten Kriminalität, sondern allgemein für gewichtige Vorwürfe, namentlich von Verbrechenstatbeständen.

In diesen Fallgruppen liegt bei fehlendem Geständnis und einem Näheverhältnis im oben dargelegten Sinne nach allgemeiner Erfahrung die Gefahr einer die Wahrheitsermittlung erschwerenden Beeinflussung auf der Hand, die Anordnungen nach § 119 Abs. 1 StPO ohne Weiteres rechtfertigt. Dabei macht es keinen Unterschied, ob es sich um ein Näheverhältnis unter Tatbeteiligten oder zu im Hauptverfahren zu vernehmenden Zeugen, deren Aussagen nach den Ermittlungsergebnissen eine nicht nur unwesentliche Bedeutung zukommt, handelt. Denn in Fällen schwererer Kriminalität besteht eine Gefahr der Erschwerung oder gar Vereitelung der Wahrheitsfindung nicht nur bei unkontrolliertem Informationsaustausch zwischen nicht geständigen Tatbeteiligten untereinander, sondern ebenso, wenn der Untersuchungsgefangene unüberwacht mit Dritten oder über Dritte kommunizieren könnte. Die Praxis zeigt, dass Untersuchungsgefangene immer wieder versuchen, ihnen nahestehende Zeugen – auch unter Einsatz von Drohungen – dahin zu beeinflussen, sich allein im Interesse des Inhaftierten auf die Rechte aus §§ 52, 55 StPO zu berufen, von diesen Rechten in einer bestimmten Weise Gebrauch zu machen oder sich bei Dritten für ein bestimmtes Aussageverhalten einzusetzen.

b) Auch der Zweck der Untersuchungshaft und der sie flankierenden Anordnungen gebietet, die Verdunkelungsgefahr im Sinne des § 119 Abs. 1 S. 1 StPO weit auszulegen und der Vorschrift einen breiten Anwendungsbereich zu verschaffen, zumal der Gesetzgeber mit der Neuregelung des § 119 StPO keine inhaltliche Einschränkung der Überwachungsmöglichkeiten beabsichtigte (vgl. KK-StPO/Gericke aaO § 119 Rn. 23). Neben der Gewährleistung der Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und der Sicherung der Anwesenheit des Angeklagten im Strafverfahren zielen die Haftanordnung und die Beschränkungen darauf ab, eine – im Falle unkontrollierten Informationsaustauschs mit nahestehenden Dritten naheliegende – Störung der Tatsachenermittlungen durch Beweiserschwerung oder -vereitelung zu verhindern (vgl. KG NStZ-RR 2014, 377; MüKoStPO/Böhm, 2. Aufl., § 119 Rn. 8, 10).Die Möglichkeit, Anordnungen nach § 119 Abs. 1 StPO zu treffen, die die Einflussnahme auf mögliche Zeugen verhindern sollen, ist zudem vor dem Hintergrund der Regelung des § 243 Abs. 2 S. 1 StPO zu sehen, die ebenfalls die Unbefangenheit der Zeugen bewahren und schützen will, die unbeeinflusst bzw. ohne Kenntnis der Einlassung des Angeklagten und der Bekundungen anderer Beweispersonen aussagen sollen (KK-StPO/Schneider, 9. Aufl., § 243 Rn. 14). Das Gebot bestmöglicher Aufklärung (vgl. MüKoStPO/Arnoldi, 2. Aufl., § 243 Rn. 19) ist nur gewahrt, wenn mit der Anwendung des § 119 Abs. 1 StPO und des § 243 Abs. 2 S. 1 StPO dafür Sorge getragen wird, dass Beeinflussungen der Beweispersonen nicht erst im Zuge der Hauptverhandlung, sondern schon während der Untersuchungshaft ausgeschlossen werden. All dies spricht ferner dafür, die Anforderungen an die Begründung für angeordnete Beschränkungsmaßnahmen nicht zu überspannen.c) An alldem vermag ein bereits ergangenes nicht rechtskräftiges Urteil nichts zu ändern. Beruht das angefochtene Urteil nicht auf einem Geständnis, sodass im Falle einer Urteilsaufhebung erneut die verfügbaren Beweismittel herangezogen werden müssen, um die notwendigen Feststellungen treffen zu können, besteht bei unkontrolliertem Informationsaustausch die Verdunkelungsgefahr regelmäßig fort, sodass Beschränkungsanordnungen unverändert erforderlich sind. Denn dass ein nicht geständiger Angeklagter aufgrund von Beweismitteln verurteilt wurde, spricht nicht gegen, sondern gerade für das Vorliegen einer Verdunkelungsgefahr (OLG Frankfurt a. M., BeckRS 2023, 34377).

Anders verhält es sich nur dann, wenn der Sachverhalt in vollem Umfang und durch gesicherte Beweise in einer Weise aufgeklärt ist, dass der Angeklagte die Wahrheitsermittlung nicht mehr erfolgreich wird behindern können (KG, BeckRS 2022, 38740). So besteht etwa dann, wenn ein Angeklagter in der letzten Tatsacheninstanz den gesamten Tatvorwurf einschließlich des Vor- und Nachtatgeschehens, der Tathintergründe und aller relevanten Begleitumstände umfassend eingeräumt hat, keine begründete Gefahr mehr, dass anlässlich nicht überwachter Kontakte Verdunkelungshandlungen abgesprochen werden mit der Folge, dass angeordnete Beschränkungen nur noch daran zu messen sind, ob sie zur Abwehr einer Fluchtgefahr erforderlich sind (OLG Stuttgart aaO).

Die Erwägung, eine Verdunkelungsgefahr könnte nach einem ergangenen Urteil schon deshalb entfallen, weil Inhalte bisheriger Zeugenaussagen durch Bekundungen der am Verfahren beteiligten Richter und Staatsanwälte eingeführt werden können (offengelassen von KG, BeckRS 2022, 38740), überzeugt nicht und ließe den Haftgrund der Verdunkelungsgefahr leerlaufen. Verfahrensbeteiligte vorangegangener Instanzen bieten als Zeugen vom Hörensagen schon keinen vollwertigen Ersatz für die Vernehmung unmittelbarer Zeugen. Die Möglichkeit, Aussagen mittelbarer Zeugen, denen häufig nur minderer Beweiswert zukommt, ersatzweise einzuführen, beseitigt für sich genommen die – vom Gefangenen ausgehende – Verdunkelungsgefahr nicht. Überdies müssten mit der Prüfung des § 119 Abs. 1 StPO befasste Strafkammervorsitzende bzw. Beschwerdegerichte entweder die Erfolgsaussichten des Rechtsmittelangriffs gegen das ergangene Urteil prognostizieren oder – den Erfolg des Rechtsmittels unterstellt – den Beweisaufnahmeverlauf einer erneuten Hauptverhandlung antizipieren. Abgesehen davon, dass dies kaum praktikabel und mit dem im Instanzenzug vorgesehenen Zuständigkeitsgefüge schwerlich vereinbar erscheint, ist zu bedenken, dass in größeren Fällen die schriftlichen Urteilsgründe als Prüfungsgrundlage nicht sofort, sondern oft erst nach Monaten vorliegen werden.

d) Der Senat hat bei alledem weder die gebotene Verhältnismäßigkeitsprüfung außer Acht gelassen noch verkannt, dass bis zur Rechtskraft des Urteils für Untersuchungsgefangene die Unschuldsvermutung gilt und die Beschränkungen deren Grundrechte tangieren. Allerdings ist zu beachten, dass der Sicherstellung der Aburteilung von Straftätern als Teil des Rechtsstaatsprinzips ebenfalls Verfassungsrang zukommt (vgl. nur BVerfG NJW 2013, 1058, 1060; KK-StPO/Fischer, 9. Aufl., Einl. Rn. 88) und Beschränkungen in Form von Überwachungen der Außenkontakte nur einen vergleichsweise geringfügigen Eingriff darstellen, da Kontakt und Kommunikation des Untersuchungsgefangenen gerade nicht unterbunden werden.

2. Ausgehend von diesen Maßstäben liegen hier ausreichende Anhaltspunkte für eine Verdunkelungsgefahr vor, die die angeordneten Beschränkungen rechtfertigen. Gegen die nicht geständige Angeklagte wurde wegen eines Kapitalverbrechens eine langjährige Freiheitsstrafe verhängt. Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Die Gefahr des unkontrollierten Informationsaustausches mit nahestehenden, als Zeugen in Betracht kommenden Personen besteht unverändert fort. Der Verdunkelungsgefahr kann nicht anderweitig begegnet werden. Die angeordneten Beschränkungen sind im Hinblick auf die betroffenen Interessen und Rechtsgüter weiterhin erforderlich und angesichts des Tatvorwurfs aus dem Bereich der Schwerkriminalität und der Gefahren für die Wahrheitsfindung verhältnismäßig. Darauf, dass bereits konkrete Vertuschungs- bzw. Verdunkelungshandlungen festgestellt wurden – die Angeklagte tauschte sich vor ihrer Inhaftierung mit Dritten über die Schuld- und Rechtsfolgenfrage betreffende Umstände aus – kommt es demgegenüber nicht mehr an.“

Na ja, kann man m.e. auch anders sehen-

Klima: Nochmals zur Nötigung in einem „Klimafall“, oder: Flachdach einer Halle – befriedetes Besitztum?

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Und als zweite Entscheidung der OLG Stuttgart, Beschl. v. 16.02.2024 – 1 ORs 25 Ss 1/23. Er äußert sich noch einmal zu den sog. Klimaaktivistenfällen.

Die StA hatte der Angeklagten das Abhalten einer unangemeldeten Versammlung in Tateinheit mit Hausfriedensbruch am 22. 02.2021 (Tatvorwurf 1), das Abhalten einer unangemeldeten Versammlung im März 2021 (Tatvorwurf 2) sowie Nötigung in Tateinheit mit der Teilnahme an einer Versammlung in einer Aufmachung zur Verhinderung der Feststellung ihrer Identität am 29.04.2021 (Tatvorwurf 3) zur Last gelegt. Wegen dieser Taten hat das AG die Angeklagte verurteilt. Die Berufung der Angeklagten führte vor dem LG zum Freispruch. Hiergegen richtet sich die Revision der StA. Sie greift – nach teilweiser Rücknahme der Revision sowie nach der Beschränkung des Verfahrens auf die Vorwürfe des Hausfriedensbruchs und der Nötigung – den Freispruch von den Tatvorwürfen 1 und 3 an. In dem Umfang hatte die Revision vollen Erfolg.

Das OLG ist von folgenden Feststellungen ausgegangen:

„1. Zum ersten Tatvorwurf hat das Landgericht im Wesentlichen festgestellt:

Am 22. Februar 2021 fand ab 19 Uhr in der Mehrzweckhalle der Gemeinde pp. eine Gemeinderatssitzung zum Regionalplan Bodensee-Oberschwaben statt. Gegen 18.30 Uhr kletterten die Angeklagte und der gesondert verfolgte pp. mit Hilfe einer Leiter auf das nicht gesicherte Hallenflachdach und enthüllten dort ein ca. acht Quadratmeter großes Transparent mit der Aufschrift „Stoppt den Klimahöllenplan“, um die Teilnehmer der Gemeinderatssitzung auf ihrer Meinung nach mit den Projekten des Regionalplans einhergehenden Folgen für die Umwelt aufmerksam zu machen. Die Angeklagte und pp. verließen das Dach erst nach Beginn der Gemeinderatssitzung. Der Bürgermeister der Gemeinde stellte am 2. März 2021 Strafantrag wegen Hausfriedensbruchs.

Den Freispruch von diesem Vorwurf hat das Landgericht damit begründet, dass es an einem Eindringen in ein befriedetes Besitztum fehle.

2. Zum Tatvorwurf 3 hat das Landgericht festgestellt:

Die Angeklagte schloss sich mit zehn Personen zusammen, um durch eine auf „einen gemeinsamen Tatplan zurückgehende gemeinschaftlich ausgeführte Aktion“ den Betrieb von zwei Kieswerken zu stören. In Umsetzung dieser Aktion, die wegen des beabsichtigten Überraschungseffekts vorher geheim gehalten wurde, wurden fünf aus je zwei Personen bestehende „Posten“ gebildet.

Vier dieser Posten besetzten die Zufahrten zum Kieswerk pp. GmbH & Co.KG in pp., indem sie – auf einer Fahrbahnseite 4-5m über dem Boden, auf der anderen Seite bodennah, dh schräg abfallend über die Straße – Seile spannten, an denen sie Hängematten befestigten. In jeder Hängematte lag eine Person; die andere Person postierte sich davor mit einem Hinweis auf die Hängematte bzw. einer „Warnung vor Weiterfahrt“. Ferner waren Hinweisschilder mit dem Schriftzug „da hängt ein Leben dran“ angebracht. Ein Kappen der Seile hätte zum Sturz der in den Matten liegenden Aktivisten aus lebensgefährdender Höhe geführt.

Infolge der blockierten Zufahrten bildete sich an der Hauptzufahrt (besetzt vom gesondert verfolgten pp. und einem Unbekannten) ein Stau aus den Pkws der Kieswerkmitarbeiter und mindestens 20 Lkws. Der Fahrer des ersten Fahrzeugs fühlte sich psychisch an der Weiterfahrt gehindert; die Weiterfahrt wäre ihm zwar möglich gewesen, hätte aber wahrscheinlich das gespannte Seil gekappt und dadurch zum Absturz der Hängematte und der darin befindlichen Person geführt. Die von der Angeklagten besetzte Zufahrt versuchte nur ein Pkw zu passieren, der „letztlich“ am Fahrbahnrand unter der am gespannten Seil angebrachten Hängematte hindurch weiterfahren konnte. Der Betrieb der Kieswerke war über Stunden hinweg gestört. Die Angeklagte und die weiteren Aktivisten wurden von Polizeikräften mittels Drehleitern aus den Hängematten geholt. Die pp. GmbH & Co.KG macht zivilrechtlich Schadensersatz in Höhe von ca. 30.000 Euro geltend. Ein weiterer Posten blockierte die Zufahrt des mehrere Kilometer entfernten Kieswerks pp., wo sich aus Angst, das gespannte Seil zu kappen, ein Lkw-Fahrer an der Weiterfahrt gehindert sah.

Das Landgericht hat die Angeklagte auch von diesem Vorwurf freigesprochen. Eine Nötigung mit Gewalt hat es verneint, da an der Sperre der Angeklagten kein Fahrzeug an der Durchfahrt gehindert gewesen sei und die Angeklagte eine möglicherweise entstehende physische Blockade nicht in ihr Vorstellungsbild aufgenommen habe; sie habe angesichts ihrer Entfernung von 500 bzw. 700 Metern zu den anderen Sperren die dortigen Geschehnisse nicht sehen oder beeinflussen können. Die freie Gegenspur hätten die Fahrer nicht zum Ausscheren genutzt, da sie annahmen, am Eingang ebenso wie der dortige erste Lkw an der Weiterfahrt gehindert zu sein.“

Das OLG sieht das beides anders und hat aufgehoben. Es reichen, da doe Fragen ja inzwischen schon häufiger entschieden worden sind, die Leitsätze der Entscheidung. Sie lauten:

In pp.

  1. Eine Nötigung mit Gewalt im Sinne des § 240 Abs. 1 StGB liegt vor, wenn der durch das Blockieren einer Straße gegenüber den ersten Kraftfahrern ausgeübte Zwang sich unmittelbar in physische Hindernisse umsetzt, indem diese Personen und ihre Fahrzeuge bewusst als Werkzeug zur tatsächlichen Behinderung der Nachfolgenden benutzt werden. Anlass, von dieser verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden sog. Zweite-Reihe-Rechtsprechung abzuweichen, besteht nicht.
  2. Entspricht das Blockieren mehrerer Straßen einem gemeinsam gefassten Tatplan, muss sich jeder in die Aktion eingebundene Mittäter die durch das Handeln seiner Tatgenossen plangemäß errichteten Straßensperren und dadurch hervorgerufene Folgen zurechnen lassen.
  3. Die Beurteilung der Verwerflichkeit im Sinne des § 240 Abs. 2 StGB erfordert eine an den Einzelfallumständen orientierte Abwägung. Im Hinblick auf den Wortlaut und den von § 240 StGB bezweckten Schutz der Freiheit der Willensentschließung und der Willensbetätigung kann die Grenze zur Verwerflichkeit ohne Weiteres auch ohne eine Gefährdung Dritter überschritten sein. Eine Rechtfertigung von Straßenblockaden aus Art. 8 Abs. 1 GG, nach § 34 StGB sowie unter dem Aspekt des sog. zivilen Ungehorsams ist ausgeschlossen.
  4. Das Flachdach einer Mehrzweckhalle, zu dem kein allgemeiner oder regulärer Zugang eröffnet ist und dessen Betreten ohne mitgebrachte Aufstiegshilfe unmöglich ist, stellt ein befriedetes Besitztum im Sinne des § 123 Abs. 1 StGB dar.

OWi I: Zwei zeitlich nahe beieinander liegende Taten, oder: Wenn ein „Raser“ (?) Glück hat

Und heute dann OWi, und zwar zweimal OLG und einmal AG.

Ich beginne mit dem OLG Stuttgart, Beschl. v. 15.01.2024 – 2 ORbs 23 Ss 769/23. Das OLG hat sich mit der Frage des Strafklageverbrauchs (Art. 103 Abs. 3 GG) auseinandersetzt in einem Fall, in dem dem Betroffenen zwei zeitlich nahe beieinander liegende Geschwindigkeitsüberschreitungen zur Last gelegt worden sind.

Das AG hat den Betroffenen wegen vorsätzlicher Geschwindigkeitsüberschreitung außerhalb geschlossener Ortschaften, begangen am 27.10.2022 um 21.34 Uhr auf der B 27 zwischen Ludwigsburg und Kornwestheim verurteilt. Dort war die Geschwindigkeit auf 80 km/h beschränkt, der Betroffene hatte die Kontrollstelle mit einer Geschwindigkeit von 151 km/h passiert. Das AG hat zudem festgestellt, dass gegen den Betroffenen bereits am 9.12.2022 – rechtskräftig seit 29.12.2022 – eine Geldbuße von 180 € festgesetzt worden, weil er ebenfalls am 27.10.2022 um 21:34 Uhr innerhalb Ludwigsburgs auf der Stuttgarter Straße in Fahrtrichtung Stuttgart auf Höhe des Ortsschilds die dort zulässige Geschwindigkeit von 50 km/h um 30 km/h überschritten hat.

Die gegen die Verurteilung gerichtete Rechtsbeschwerde des Betroffenen hatte Erfolg:

„Das vorliegende Verfahren ist – unter klarstellender Aufhebung des angefochtenen Urteils – durch Beschluss gemäß § 79 Abs. 3 OWiG i. V. m. §§ 354 Abs. 1, 206 a StPO einzustellen, weil die auch in der Rechtsbeschwerdeinstanz von Amts wegen vorzunehmende Prüfung der Verfahrensvoraussetzungen ergeben hat, dass der Verfolgung der dem Betroffenen, in diesprrj.V9rfghrqn zur, Last gelegten Tat ein Verfahrenshindernis entgegensteht.

1. Der aus dem Fahreignungsregister ersichtliche – rechtskräftige Bußgeldbescheid der Stadt Ludwigsburg vom 9. Dezember 2022 entfaltet nach dem Grundsatz aus Art. 103 Abs. 3 GG eine Sperrwirkung, welche die Verfolgung des dem Betroffenen in diesem Verfahren zur Last gelegten Tatvorwurfes ausschließt. Die den Gegenstand des vorliegenden Bußgeldverfahrens bildende Tat ist im verfahrensrechtlichen Sinn identisch mit der Tat, die mit Bußgeldbescheid des Stadt Ludwigsburg vom 9. Dezember 2022 wegen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften zur Last gelegt worden ist und wegen der gegen den Betroffenen – rechtskräftig – eine Geldbuße von 180 € festgesetzt worden ist. Die – unzulässigerweise – in zwei gesonderten Bußgeldverfahren verfolgten Verkehrsverstöße stellen sich verfahrensrechtlich als eine Tat L S. des § 264 StPO dar.

Der Begriff der Tat im gerichtlichen Verfahren in Bußgeldsachen deckt sich mit dem für das Strafverfahren maßgeblichen Tatbegriff des Art. 103 Abs. 3 GG (vgl. BayObLGSt 1974, 58 f.; 2001, 134 f.). Er bezeichnet ein konkretes Geschehen, das einen einheitlichen geschichtlichen Vorgang bildet und Merkmale enthält, die es von denkbaren anderen ähnlichen oder gleichartigen Vorkommnissen unterscheidet und umfasst das gesamte Verhalten des Täters, soweit dieses nach der natürlichen Auffassung des Lebens eine Einheit bildet (vgl. BayObLGSt 2001, 134 f.; OLG Hamm, Beschluss vom 09.06.2009 – 5 Ss OWI 297/09 -; Meyer-Goßner, StPO, 66. Aufl., § 264 Rdnr. 2 f.). Dabei können auch mehrere, materiell-rechtlich tatmehrheitlich begangene Handlungen als eine Tat i. S. des § 264 StPO anzusehen sein, wenn die einzelnen Handlungen nach dem Ereignisablauf zeitlich, räumlich und innerlich so miteinander verknüpft sind, dass sich ihre getrennte Würdigung und Ahndung als unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebensvorganges darstellen würde (vgl. OLG Hamm a. a. 0.; BayObLGSt 2001, 134 f.; BVerfGE 45, 434 f.; BGHSt 23, 141 f.; Meyer-Goßner a. a. O.).

Allerdings stellen sich nicht alle Vorgänge, die sich auf einer Fahrt ereignen, als einheitlicher Lebenssachverhalt dar. In der Rechtsprechung der Obergerichte ist anerkannt – von Ausnahmen abgesehen -, dass verschiedene auf einer Fahrt begangene Ordnungswidrigkeiten nicht schon dadurch zu einer prozessualen Tat zusammengefasst werden, dass sie auf derselben Fahrt begangen worden sind. Vielmehr ist mit dem Ende eines bestimmten Verkehrsvorganges, der durch einen anderen abgelöst wird, in der Regel das die Tat bildende geschichtliche Ereignis abgeschlossen (vgl. OLG Düsseldorf, VRS 67, 129, VRS 71, 375, VRS 75, 360; BayObLG NZV 1994, 448; OLG Köln, NZV 1994, 292; OLG Hamm, DAR 1974, 22).

Die maßgebliche Beurteilung, ob ein bestimmter Verkehrsvorgang abgeschlossen ist, ist Tatfrage. Entscheidend für die Beurteilung sind jeweils die Umstände des Einzelfalles. Erst unter Bewertung dieser Umstände ist im Einzelfall einzuschätzen, ob nach der „natürlichen Auffassung des Lebens“ mehrere Verstößen demselben Verkehrsvorgang zuzuordnen sind und damit eine einheitliche Tat im verfahrens-rechtlichen Sinne vorliegt.

Maßgeblich sind für die Beurteilung insbesondere der zeitliche und räumliche Zusammenhang zwischen den Verkehrsverstößen und die zugrunde liegende Pflichtenlage in Bezug auf den konkreten Verkehrsverstoß. Wichtiges Kriterium für die Verneinung oder Bejahung eines einheitlichen Tatgeschehens ist auch die Frage, ob beide Verkehrsverstöße in subjektiver Hinsicht auf der gleichen Willensrichtung des Betroffenen beruhen (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 25.10.2011, NZV 2012. 196 f. m.w.N.).

Legt man diese Maßstäbe bei der Beurteilung des vorliegenden Falles zugrunde, ergibt sich Folgendes:

Beide Vorgänge sind zeitlich aufs Engste verknüpft. Den Feststellungen ist zu entnehmen, dass der Betroffene am 27. Oktober 2022 um 21:34 Uhr das Ortsschild am Ausgang der Stadt Ludwigsburg in Fahrtrichtung Kornwestheim passierte und in der selben Minute, also – da die Tatzeiten nur nach Minuten und nicht auch nach Sekunden festgestellt worden sind – maximal 59 Sekunden später, in gleicher Fahrtrichtung die Messstelle nach der Abfahrt Autokino.

Beide Vorgänge sind demselben Verkehrsvorgang zuzuordnen, nämlich dem (pflichtwidrig stark beschleunigten) Geradeausfahren zwischen den Messstellen. Eine Änderung dieses beschleunigten Geradeausfahrens ist nicht ersichtlich. Lediglich die äußere Situation, nämlich die geltende Geschwindigkeitsregelung, änderte sich. Die beiden Verkehrsverstöße sind auch in subjektiver Hinsicht eng miteinander verbunden, denn beide Geschwindigkeitsverstöße beruhen bei Betrachtung der gemessenen Geschwindigkeiten und der zurückgelegten Wegstrecke ersichtlich auf dem Willen des Betroffenen, den Verkehrsvorgang des Geradeausfahrens möglichst schnell abzuschließen. Dass der Betroffene in Umsetzung dieses Willens ohne weitere Fahrmanöver ab dem ersten Geschwindigkeitsverstoß weiter beschleunigt hat, drängt sich auf.

Der von der Generalstaatsanwaltschaft dargelegten zwischenzeitlichen (rechtlichen) Veränderung der Verkehrssituation kommt in diesem Fall angesichts des äußerst engen zeitlichen und auch räumlich relativ engen Zusammenhangs und des verbindenden subjektiven Elementes keine durchgreifende Bedeutung zu.“

Geht man davon aus, dass dem Betroffenen auch bei der ersten Geschwindigkeitsüberschreitung um „nur“ 30 km/h ebenfalls Vorsatz vorzuwerfen ist, wovon beim Maß der Geschwindigkeitsüberschreitung auszugehen ist, dann dürfte die Entscheidung zutreffend sein. Der Betroffene, offenbar ein „Raser“, kommt dann mit einem blauen Auge davon, das das AG wegen der zweiten Geschwindigkeitsüberschreitung eine Geldbuße von 1.500 EUR festgesetzt und eine Fahrverbot von drei Monaten verhängt hat. Schwieriger könnte es werden, und das hätte ich als OLG vom AG aufklären lassen, wenn man dem Betroffenen beim ersten Vorwurf nur Fahrlässigkeit zur Last gelegt hat. Denn dann stellt sich die Frage, ob in dem weiteren „(pflichtwidrig stark beschleunigten) Geradeausfahren zwischen den Messstellen“ zwischen den Messtellen wegen der nun vorsätzlichen Begehungsweise nicht eine neue Tat liegt, die gesondert geahndet werden kan.

Erneut Pauschgebühr in Staatsschutzverfahren, oder: Jetzt packt es aber an, 5. Strafsenat des OLG Stuttgart

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Heute dann am Gebührenfreitag zunächst mal wieder etwas zur Pauschgebühr nach § 51 RVG, und zwar den OLG Stuttgart, Beschl. v. 01.02.2024 – 5-2 StE 7/20. Dem ein oder anderen wird das Aktenzeichen vielleicht bekannt vorkommen. Ja, das ist richtig. Aus dem Verfahren habe ich schon einige Gebührenbeschlüsse zu § 51 RVG vorgestellt. Zuletzt war es der OLG Stuttgart, Beschl. v. 09.08.2022 – 5 StE 7/20 (vgl. dazu hier: (Hohe [?]) Pauschgebühr im Staatsschutzverfahren, oder: Alles ist relativ, vor allem in Corona-Zeiten).

Jetzt hat es in dem Verfahren den nächsten Beschluss gegeben, ich gehe davon aus, dass es weitere noch nicht gegeben hat. Dazu gleich mehr.

Zunächst noch einmal kurz ein paar Eckdaten zum Sachverhalt: Der Pflichtverteidiger kommt von auswärts.  Er hatte sich mit Schreiben vom 16.04.2020 als Verteidiger des Angeklagten gemeldet und ist mit Verfügung des Vorsitzenden vom 04.01.2021 zum Pflichtverteidiger bestellt worden.

In dem Verfahren liegen 253 Band Stehordner Ermittlungsakten und sieben Nachlieferungen mit 27 Band Akten, 38 Band Gerichtsakten sowie Beiakten vor. Seit dem 13.04.2021 bis zum Erlass des Urteils durch das OLG am 30.11.2023 hat man insgesamt an 173 Tagen (haupt)verhandelt. An gesetzlichen Gebühren sind bis zum 30.11.2023 122.911 EUR entstanden. Der Pflichtverteidiger hat mit Antrag vom 14.09. 2022 die Bewilligung eines Vorschusses auf die Pauschgebühr gemäß § 51 Abs. 1 S. 5 RVG beantragt. Die Bezirksrevisorin beim OLG Stuttgart hat am 30.3.2023 dazu Stellung genommen. Sie hat auf der Grundlage des Beschlusses des OLG Stuttgart vom 9.8.2022 (5-2 StR 7/20) die Gewährung eines Vorschusses befürwortet. Das OLG hat – durch den Einzelrichter – einen Vorschuss in Höhe von 226.703 EUR gewährt.

Ich zitiere jetzt nicht aus dem Beschluss vom 01.02.2024, denn der enthält nichts Neues, so dass ich auf den verlinkten Volltext verweisen kann.. Das OLG wendet vieleehr die Grundsätze und Vorgaben an, die es sich selbst mit dem Beschluss vom 09.08.2022 gegeben hat. Das ist ja auch richtig, denn die Pflichtverteidiger müssen ja wissen, womit sie rechnen können. Im Übrigen gilt. Gleiches Recht für alle – wenn die Voraussetzungen gleich sind.

Also:

  • Es handelt sich um ein besonders umfangreiches (Staatsschutz)Verfahren.
  • Das OLG stellt bei der Berechnung vornehmlich auf den Aktenumfang ab und erhöht Grund- und Verfahrensgebühr, wie das OLG – stolz – anmerkt, auch über die „Schwelle des § 42 Abs. 1 Satz 4 RVG“ hinaus. Erhöht wird die Grundgebühr pauschal um das 30-fache, die Vorverfahrensgebühr pauschal um das 30-fache und die Verfahrensgebühr (quantifizierbar) jeweils pro drei Band Akten, damit derzeit um das 106-fache.
  • Die Terminsgebühren werden entsprechend den Vorgaben des RVG berechnet. Allerdings gebieten nach Ansicht des OLG auch insoweit Umfang, Dauer und durchaus auch Schwierigkeit – bezogen auf das durchschnittliche Verfahren im ersten Rechtszug vor dem OLG – eine Erhöhung pro Woche, in der Hauptverhandlungen stattgefunden haben. Unbeschadet der Anzahl der in der Woche stattgefundenen Hauptverhandlungstage wird damit daher eine weitere Verfahrensgebühr immer dann fällig, wenn und soweit die/der Antragsteller in der in Frage stehenden Woche an sämtlichen Hauptverhandlungstagen anwesend war, um so einen Ausgleich für die Mühewaltung zu schaffen.
  • Schließlich hat das OLG aich wieder einen Ausgleich für die Risiken der COVID-19 Infektion wie folgt vorgenommen: Es wurden abermals grds. pro infolge COVID-19 ausgefallenem Sitzungstag zwei Verfahrensgebühren fällig.

Das alles mündet dann in eine ganz einfach kombinierte Mal-/Plusaufgabe, an deren Ende dann der als Vorschuss gewährte Betrag steht.

Also insoweit nichts Neues aus Stuttgart, so dass ich mich wegen der Einschätzung ebenfalls auf das beziehen kann, was ich bereits zu dem Beschluss vom 09.8.2022 geschrieben habe. Das gilt auch für die Höhe der bewilligten Pauschgebühr.

Besonders anzumerken ist aber noch einmal, dass § 51 RVG für die Gewährung einer Pauschgebühr nicht, wovon aber das OLG erneut ausgehet, kein „exorbitantes Verfahren“ voraussetzt. Dieser falsche – aus der Rechtsprechung des BGH – stammende Ansatz wird leider immer wiederholt, was ihn aber nicht richtig(er) macht. Dasselbe gilt für die vom OLG erneut erwähnte „Schwelle des § 42 Abs. 1 S. 4 RVG„. Gemeint ist damit das „Doppelte der Wahlanwaltshöchstgebühr“ auf die die Pauschgebühr für den Wahlanwalt nach § 42 RVG beschränkt ist. Diese gilt aber nicht für den Pflichtverteidiger.

Und darüberhinaus ist anzumerken:

  • Auch dieser Beschluss hebt sich wohltuend ab von anderen Beschlüssen, die zu Pauschgebühren in Umfangsverfahren in der letzten Zeit erlassen worden sind (vgl. z.B. nur OLG Dresden, Beschl. v. 15.12.2023 – 1 (S) AR 53/22,  und dazu: Was interessieren uns unsere eigenen Grundsätze?, oder: Pauschgebühren).
  • Im Beschluss vom 9.8.2022 hatte das OLG im Übrigen noch ausdrücklich ausgeführt, dass es nicht auszuschließen sei, dass der Senat bei der endgültigen Festsetzung einer Pauschgebühr weitere, vom Antragsteller dann vorgetragene individuelle Gesichtspunkte, aber auch neu zutage getretene generell-abstrakte Erwägungen werde miteinfließen lassen müssen. Dieser Änderungs-/Reduzierungsvorbehalt ist im vorliegenden Beschluss nicht mehr enthalten. Man wird also davon ausgehen können, dass das OLG nun doch wohl nicht nachtäglich Reduzierungen bei seiner Berechnungsweise vornehmen wird.
  • Zu beanstanden – und für mich unverständlich – ist m.E. aber die lange Dauer des Vorschussverfahrens. Der Antrag des Pflichtverteidigers datiert vom 14.09.2022, also zeitnah nach der Entscheidung vom 09.08.2022. Entschieden hat das OLG dann (endlich) am 01.02.2024, also mehr als 15 Monate nach Antragstellung. Bei allem Respekt und Verständnis vor der Arbeitsbelastung des Senats/eines OLG-Senats fragt man sich dann aber doch, warum die Entscheidung so lange gebraucht hat. Die Berechnungskriterien waren durch den Beschluss vom 09.8.02022 vorgegeben und mussten nur auf den vorliegenden Fall angewendet werden (s. oben einfache Mal-/Plusaufgabe). Das ist/war weder rechtlich noch tatsächlich schwierig. Die lange Dauer der Bearbeitung mindert den Wert des gewährten Vorschusses erheblich und widerspricht seinem Sinn und Zweck. Man kann Verteidigern bei zu langer/so langer Dauer des Verfahrens beim OLG im Hinblick auf die Verzinsung und/oder Schadensersatzansprüche nur raten, vorsorglich (rechtzeitig) die Verzögerungsrüge nach den §§ 198, 199 GVG zu erheben (zum Entschädigungsanspruch wegen verzögerter Bearbeitung eines Antrags auf Pflichtverteidigervergütung OLG Hamm AGS 2021, 570; OLG Karlsruhe AGS 2019, 556 = RVGreport 2019, 279 = StRR 4/2019, 24).
  • Und: Wenn man die Verfahrensdauer mal herunterbricht auf die im Verfahren tätigen 24 Verteidiger und davon ausgeht, dass jeder einen Pauschgebührenantrag stellen wird, dann kann man bei einer Bearbeitungsdauer von 15 Monaten/Antrag bei verbleibenden 22 Verteidigern davon ausgehen, dass die gebührenrechtliche Abarbeitung des Verfahrens noch Jahre dauert. Denn. Pro Antrag 15 Monate macht in der Spitze mehr als 27 Jahre. Das heißt, der (letzte) Richter am OLG, der über den entscheidet, hat wahrscheinlich noch gar nicht mir dem Studium begonnen. Also 5. Strafsenat des OLG Stuttgart. Auf geht es. Packen wir es an.

Corona I: Bestimmung des Erlangten für Arrest, oder: Arrestanordnung gegen Michael Ballweg?

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Und dann geht es in die 6. KW/2024 mit zwei Entscheidungen zu den Nachwirkungen von Corona. Nicht gesundheitlich, sondern rechtlich.

Zunächst stelle ich den OLG Stuttgart, Beschl. v. 24.01.2024 – 1 Ws 181/23 – vor. Er dürfte den „Querdenker-Chef“ Michael Ballweg betreffen. Nein, es ist nicht die Entscheidung betreffend die Eröffnung des Hauptverfahrens/Zulassung der Anklage, der OLG Stuttgart, Beschl. v. 24.01.2023 – 1 Ws 177/23 – über den ja nach seinem Erlass an mehreren Stellen berichtet worden ist. Ich hatte dazu beim OLG wegen einer möglichen Veröffentlichung angefragt. Aber man gibt unter Hinweis auf § 353d StGB die Entscheidung nicht frei, was ich nachvollziehen kann, bin ja schließlich „gebranntes Kind“.

Aber: Man hat den am selben Tag erlassenen Beschlss in 1 Ws 181/23 veröffentlicht (was ich dann nicht so ganz nachvollziehen kann). Der betrifft die Frage einer Arrestes in der Sache. Den hat das OLG angeordnet, was m.E. auf der Grundlage der Eröffnung des Hauptverfahrens nur konsequent ist.

Das OLG führt insofern aus:

„Aufgrund der durchgeführten Ermittlungen besteht (weiter) Tatverdacht u.a. dahingehend, dass sich der Angeklagte als „Kopf“ der von ihm im Zuge der Proteste gegen Beschränkungen im Rahmen der Bekämpfung der Corona-Pandemie ins Leben gerufenen Querdenken 711-Kampagne spätestens im Mai 2020 dazu entschloss, seine durch vorgängige Protestmaßnahmen gewonnene Popularität auch für private Zwecke zu nutzen und sich insbesondere zu seinen Gunsten durch die Spendenbereitschaft seiner Anhänger Einnahmen von einiger Dauer und einigem Umfang zur Bestreitung seines Lebensunterhalts und zur Mehrung seines Vermögens zu verschaffen. Durch Umsetzung dieses Plans hat er von hiernach vereinnahmten Geldern lediglich eine Teilsumme für Querdenken 711 verwendet und sich dadurch u.a. wegen versuchten Betruges in einem besonders schweren Fall in 9.450 tateinheitlichen Fällen strafbar gemacht1.

II.

Bei diesen (Tat-)Verdachtsmomenten besteht Grund zu der Annahme, dass die Voraussetzungen für die Einziehung gemäß §§ 73 ff. StGB im Hinblick auf den Schuldner vorliegen (§ 111e Abs. 1 StPO). Der Senat hat die mit Beschluss des Landgerichts Stuttgart vom 6. Oktober 2023 abgelehnte Eröffnung des Hauptverfahrens hinsichtlich des in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Stuttgart vom 20. März 2023 erhobenen Tatvorwurfs des versuchten Betruges aufgehoben, die bezeichnete Anklage auch insoweit zugelassen und das Hauptverfahren vor der 10. Großen Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts Stuttgart eröffnet.

 

Vor diesem Hintergrund ist bei Inblicknahme der gegebenen Sachlage erwartbar, dass gegen den Angeklagten die gerichtliche Anordnung einer Einziehung nach §§ 73 ff. StGB ergehen wird. Der Angeklagte hat naheliegend annehmbar durch eine rechtswidrige Tat i.S.v. § 73 Abs. 1 StGB etwas, nämlich Gelder, erlangt. Die Einziehung dieses Tatertrags ist nicht möglich (§ 73c Satz 1 StGB), nachdem die vereinnahmten Gelder mit sonstigen „Guthaben“ des Angeklagten vermischt bzw. von ihm weiterverfügt wurden. Klarstellend ist weiter Folgendes zu bemerken:

Maßgebende Regel für die Bestimmung des Erlangten i.S.v. § 73 StGB ist das sogenannte Bruttoprinzip. Erlangt ist hiernach jede Bereicherung, die aufgrund der jeweils in Rede Straftat eingetreten ist, namentlich die Tatbeute. Der konkrete Umfang und Wert des Erlangten einschließlich abzuziehender Aufwendungen können geschätzt werden (§ 73d Abs. 2 StGB).

1. Bei Zugrundelegung dieser Maßstäbe sind bei der aktuell gegebenen Aktenlage unter Berücksichtigung der Ausführungen im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen in der Anklageschrift und den von der Verteidigung zuletzt mit Schriftsatz vom 29. Dezember 2023 angebrachten Erwägungen belastbar tatbedingte Vereinnahmungen des Angeklagten in Höhe von € 1.269.902,58 gegeben2 . Geht man zu dessen Gunsten weiter davon aus, dass sich die Annahme der Staatsanwaltschaft, wonach der Angeklagte einen Betrag von € 843.111,68 für Querdenken 711 „getätigt“ hat, bestätigen lässt, bleibt dieser Betrag entsprechend der in § 73e Abs. 1 Satz 1 StGB getroffenen Regelung bei der zu einem späteren Zeitpunkt anstehenden Entscheidung über die Einziehung von Taterträgen außer Betracht. Vor diesem Hintergrund bringt der Senat eine entsprechende Summe bereits jetzt im Hinblick auf die gebotene Sicherungsanordnung in Abzug.

2. Überdies ist die gegen die pp. GmbH ergangene Arrestanordnung zu beachten. Um eine Doppel-Inanspruchnahme des Angeklagten zu vermeiden, sind daher von dem Betrag, der sich nach Vornahme des unter II. Ziff. 1 beschriebenen Subtraktionsverfahrens errechnet, weitere € 131.000 abzuziehen.

3. Der hiernach verbleibende Geldbetrag ist sodann unter Berücksichtigung des – ursprünglich in der Härteklausel des § 73c StGB a.F. kodifizierten und als Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsprinzips weiterhin gültigen – Übermaßverbots sowie jedenfalls bis zum Abschluss der anstehenden Hauptverhandlung und dem Ergebnis der im Zuge dessen durchgeführten Beweiserhebungen einzukalkulierenden Unwägbarkeiten und nicht fernliegend erwartbaren gerichtlichen Einstellungsentscheidungen im Hinblick auf weniger strafwürdig erscheinende Fälle mit kleineren Geldbeträgen um einen angemessenen Sicherheitsabschlag, den der Senat auf etwa 30% bemisst, noch weiter auf € 200.000 zu verringern.

Die Anordnung eines entsprechenden Vermögensarrestes ist vor dem Hintergrund des bezeichneten Vorgehens und finanziellen Gebarens des Angeklagten geboten, da sonst zu befürchten ist, dass eine spätere Vollstreckung des staatlichen Anspruchs auf Einziehung des Wertes des Tatertrages wesentlich erschwert wenn nicht vereitelt würde. Auch bei Vornahme der erforderlichen Gesamtschau ist die Anordnung in der nunmehr fixierten Größenordnung nicht unverhältnismäßig.

Fußnoten
1)Wegen Einzelheiten wird auf die Ausführungen in der Anklageschrift vom 20.03.2023 Bezug genommen.
2) Soweit in der Anklageschrift anknüpfend hieran Bareinzahlungen „weiterer (…) Beträge“ auf das „Querdenken-Konto“ in Höhe von € 204.815,95 thematisiert werden, ist ein kausaler Zusammenhang mit den in Rede stehenden Betrugstaten derzeit nicht ersichtlich.“