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StPO III: Anfangsverdacht für Nebenklagebeiordnung?, oder: Rückwirkende Beiordnung bei der Nebenklage

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Und zum Schluss der heutigen Berichterstattung stelle ich dann noch den LG Kiel, Beschl. v.26.01.2022 – 5 Qs 2/22 – vor. Gegenstand des Beschlusses ist die Frage der Beiordnung eines Rechtsanwaltes für den Nebenkläger, und zwar im Hinblick auf die Frage des Beiordnungsgrundes und auf die Frage der Zulässigkeit einer rückwirkenden Beiordnung.

Das AG hatte in einem Todesermittlungsverfahren die unter Erklärung des Anschlusses als Nebenklägerin schon für das Ermittlungsverfahren beantragte Beiordnung eines Rechtsanwaltes versagt. Das AG hatte seine Entscheidung damit begründet, dass ein Anfangsverdacht gegen Beschuldigte nicht bestehe, da aufgrund des Sektionsbefundes die  Todesursache unklar sei und eine Plazentainsuffizienz in Betracht komme. Das LG hat dann auf die Beschwerde beigeordnet:

„Für die Beurteilung der Frage, ob eine Beiordnung im Rahmen einer Nebenklage zu erfolgen hat, gilt der beim Nebenklageanschluss übliche Verdachtsgrad (BeckOK-StPO-Weiner, § 397a, Rn 27). Danach hat eine Beiordnung zu erfolgen, wenn auch nur die geringe Möglichkeit besteht, dass eine zum Anschluss als Nebenkläger berechtigende Straftat vorliegt (BGH NStZ 2000, 552; NStZ-RR 2008, 352 ). Das Vorliegen eines Anfangsverdachtes ist nicht erforderlich.

Bei der Prüfung des Vorliegens dieser Voraussetzung war von dem Stand des Verfahrens im Juni 2021 auszugehen. Insoweit liegt eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass eine rückwirkende Beiordnung eines Rechtsanwaltes unzulässig ist (Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, StPO, 64. Aufl., 2021, § 397a, Rn. 15) vor. Eine solche Ausnahme ist mit der Folge der Rückwirkung auf den Zeitpunkt der Antragstellung gegeben, wenn der Antragsteller mit seinem Antrag bereits alles für die Bestellung des Beistandes Erforderliche getan hat, der Antrag aber nicht rechtzeitig beschieden worden ist (BVerfG NStZ-RR 1997,69; BGH NStZ-RR 2008,255; OLG Celle NStZ-RR 2012,291). Bei Antragstellung am 4.6.2021 war zugleich der Anschluss als Nebenkläger durch die Beschwerdeführerin erklärt worden. Damit waren alle formellen Erfordernisse für die Stellung des Antrages auf Beiordnung bereits zu diesem Zeitpunkt erfüllt. Die Entscheidung über die Beiordnung des Rechtsanwaltes bereits im Ermittlungsverfahren hätte zeitnah erfolgen müssen.

Bei dieser Sachlage kann das Ergebnis des erst im Oktober 2021 erstatteten Gutachtens der Frau Prof. Dr. pp. der Entscheidung nicht zugrunde gelegt werden.

Auch das Ergebnis der rechtsmedizinischen Untersuchung des Fötus war nicht geeignet, die beantragte Beiordnung abzulehnen, denn die Beurteilung der Todesart als „unklar“ ließ die Möglichkeit offen, dass ein zum Anschluss als Nebenkläger geeignetes Verhalten der an der Betreuung der Schwangeren beteiligten Personen vorgelegen haben könnte.

Eine Zulassung der Nebenklage erschien jedenfalls zum damaligen Zeitpunkt gemäß § 395 Abs. 3 StPO wegen einer in Betracht kommenden fahrlässigen Körperverletzung (§ 229 StGB) zum Nachteil der Beschwerdeführerin möglich.

Zwar wäre wegen des Absterbens der Leibesfrucht eine Befugnis zum Anschluss als Nebenklägerin für die Beschwerdeführerin nach § 395 Abs. 2 Nummer 1 StPO nicht möglich gewesen, weil dies vorausgesetzt hätte, dass ein Kind durch eine rechtswidrige Tat getötet worden wäre. Dies ist hier nicht der Fall gewesen, da das noch ungeborene Kind jedenfalls noch vor Eintritt der Eröffnungswehen im Mutterleib verstorben ist und damit im strafrechtlichen Sinne noch nicht als Mensch im Sinne der Tötungstatbestände galt (BGH Urteil vom 22.4.1983, A z.: 3 StR 25/83; nach juris: Rn. 16). Die Leibesfrucht ist bis zu diesem Zeitpunkt ausschließlich durch § 218 StGB geschützt. Diese Norm entfaltet insoweit eine Sperrwirkung, als nur vorsätzliche Verhaltensweisen, die zum Abbruch einer Schwangerschaft führen, strafbar sind (Fischer, Strafgesetzbuch, 69. Aufl., 2022, Vor §§ 211-217, Rn. 8 ). Ein im Hinblick auf das Absterben der Leibesfrucht auch nur bedingt vorsätzliches Verhalten der an der Betreuung der Beschwerdeführerin beteiligten Personen ist nicht erkennbar.

Insoweit konnte allenfalls fahrlässiges Fehlverhalten in Rede stehen, das aufgrund des Ablaufes der Ereignisse am Ende der Schwangerschaft und der Unklarheiten in der Frage, wie es zu dem Absterben gekommen ist, im Juni 2021 durchaus möglich erscheinen konnte.

Wäre dies der Fall gewesen, hätte das Absterben der Leibesfrucht eine fahrlässige Körperverletzung zum Nachteil der Beschwerdeführerin begründen können, denn deren Gesundheit wäre hierdurch geschädigt worden. Der abgestorbene Fötus hat bei der Beschwerdeführerin einen pathologischen Zustand verursacht, der eine ärztliche Behandlung erforderlich gemacht hat ( vgl. OLG Koblenz Urteil vom 28.1.1988, Az: 5 U 1261 /85; OLG Oldenburg, Urteil vom 14.5.1991, Az.: 5 U 22/91).

Hätte eine zum damaligen Zeitpunkt möglich erscheinende fahrlässige Körperverletzung zum Nachteil der Beschwerdeführerin vorgelegen, wäre ihr wegen der schweren Folgen der Tat nach § 395 Abs. 3 StPO die Befugnis zum Anschluss als Nebenklägerin zu erteilen gewesen.“

Pflichti II: Keine Besuche des Mandanten in der JVA, oder: Wechsel des Pflichtverteidigers?

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Als zweite Entscheidung kommt dann auch (noch) eine Beschluss vom LG Kiel, und zwar der LG Kiel, Beschl. v. 06.04.2022 – 7 KLs 592 Js 48961/21 – zum Pflichtverteidigerwechsel. Begründung hier: Keine Besuche des Mandanten in der JVA. Das LG hat ausgewechselt:

„Der Beschluss beruht auf § 143a Abs. 2 Nr. 3 StPO.

Nach der Entscheidung des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts in Schleswig vom 31.3.2022 war über die Frage des Pflichtverteidigerwechsels neu zu befinden. Ein konsensualer Pflichtverteidigerwechsel, der vorrangig zu berücksichtigen wäre, ist spätestens nach dem Schriftsatz von Herrn pp. vom 4.4.2022 nicht mehr zu erwarten. Ein weiteres Zuwarten auf eine eventuelle Einigung ist zudem wegen des Beschleunigungsgebotes in dieser Haf vertretbar.

Die Voraussetzungen für einen Pflichtverteidigerwechsel im Sinne des § 143a Abs. 2 Nr. 3 StPO sind gegeben. Die Bestellung des Pflichtverteidigers ist aufzuheben und ein neuer Pflicht-verteidiger zu bestellen, wenn das Vertrauensverhältnis zwischen Verteidiger und Beschuldigtem endgültig zerstört ist oder aus einem sonstigen Grund keine angemessene Verteidigung des Beschuldigten gewährleistet ist. Der Angeklagte trägt hierzu vor, dass der bisherige Pflicht-verteidiger ihn nicht in der Untersuchungshaftanstalt aufgesucht habe, um die Angelegenheit mit ihm zu besprechen. Er befinde sich seit dem 6.10.21 in Untersuchungshaft – mithin bezogen auf den Zeitpunkt der Antragstellung fast 3 Monate – ohne besucht worden zu sein, obwohl er telefonisch mehrfach im Verteidigerbüro darum gebeten habe.

Rechtsanwalt pp. hat hierzu ausgeführt, dass er auf Wunsch des Angeklagten mandatiert und beigeordnet worden sei. Zunächst habe bei der Haftbefehlsverkündung Rechtsanwalt pp. den Angeklagten vertreten, der die Angelegenheit im Anschluss sofort mit dem Mandanten besprochen habe. Im Anschluss sei Akteneinsicht beantragt worden. Der Angeklagte sei in-formiert und darauf aufmerksam gemacht worden, dass ohne Akteneinsicht eine Rücksprache nicht zielführend sei. Am 24.11. sei dann die Akteneinsicht erfolgt, was dem Angeklagten mit Schreiben vom Folgetag mitgeteilt worden sei, verbunden mit der Frage, in welcher Sprache gedolmetscht werden müsse (es kämen bei afghanischen Staatsangehörigen mehrere Sprachen in Betracht). Das sei dann am 4.12. beantwortet worden, woraufhin mit einer Dolmetscherin für unterschiedliche afghanische Sprachen Kontakt aufgenommen worden sei zwecks Terminabsprache. Im Übrigen sei der Mandant stets informiert worden, was allerdings nicht weiter ausgeführt wurde. Mit Schreiben vom 30.12.21 habe sich dann Rechtsanwalt pp. gemeldet und mit-geteilt, er werde die Verteidigung übernehmen. Eine Zerrüttung des Vertrauensverhältnisses liege nicht vor. Mit einer Entpflichtung sei er – Rechtsanwalt pp. -aber einverstanden, da es keinen Sinn mache, einen Beschuldigten zu verteidigen, der dies nicht wünsche. Die bisher entstandenen Gebühren würden in Ansatz gebracht.

Danach ist eine Zerrüttung des Vertrauensverhältnisses im Sinne der genannten Norm anzunehmen. Maßstab für die Beurteilung ist die Sicht eines verständigen Beschuldigten (BGH NStZ 2021, 60). Ein gestörtes Vertrauensverhältnis liegt zB vor, wenn ein inhaftierter Beschuldigter längere Zeit nicht von seinem Verteidiger besucht wird (OLG Braunschweig BeckRS 2012, 23866 (2 Monate in Untersuchungshaft nicht besucht); OLG Düsseldorf NStZ-RR 2011, 48 (über 2 Monate in Untersuchungshaft nicht besucht); LG Ingolstadt StV 2015, 27 (fehlender Besuch eines Pflichtverteidigers über einen längeren Zeitraum von fast zwei Monaten in der U-Haft); BeckOK StPO/Krawczyk, 42. Ed. 1.1.2022, StPO § 143a Rn. 19).

Das ist nach dem Vorbringen der Beteiligten der Fall. Der Angeklagte hat selbst im Haftbefehlsverkündungstermin keinen Kontakt mit seinem späteren Pflichtverteidiger gehabt und später dann auch nicht mehr erlangt. Soweit Herr Torgebracht hat, dass für eine Besprechung Akteneinsicht und die Abstimmung mit einem geeigneten Dolmetscher erforderlich gewesen sei, kann dem im Ergebnis nicht gefolgt werden. Aus Sicht des Beschuldigten war schon auf Grundlage der überreichten Haftbefehlsausfertigung eine Besprechung möglich. Soweit geltend gemacht wird, es habe erst ermittelt werden müssen, welche Sprache der Dolmetscher beherrschen müsse, überzeugt dies nicht, da ausweislich des eigenen Vortrages schließlich eine Dolmetscherin eingebunden werden sollte, die unterschiedliche afghanische Sprachen beherrscht. Das hätte von vorneherein so gehandhabt werden können.

Zudem ist zu beachten, dass nach dem Pflichtverteidigerwechselwunsch des Angeklagten von Herrn pp. kein Kontakt mehr gesucht wurde, was aus Sicht des Angeklagten den bisherigen Eindruck einer unzureichenden Betreuung bestärken musste. Dabei übersieht die Kammer nicht, dass Herr pp. von einem konsensualen Pflichtverteidigerwechsel ausging, wofür es gute Gründe gab. Jedenfalls mittlerweile muss der Angeklagte verständlicherweise den Eindruck haben, dass der bisherige Pflichtverteidiger seine – des Angeklagten – Verteidigung nicht mehr betreibt und das Vertrauensverhältnis zerrüttet ist.“

Pflichti I: 5 x Beiordnungsgründe, oder: Betreuung, OWi, Ausländer, Gesamtstrafe, Beweisverwertungsverbot

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Heute dann ein Pflichtverteidigungstag. Ich könnte auch schreiben. Heute ist der Tag des LG Kiel :-). Grund: Ein Kollege aus Kiel hat neulich „die Ecken sauber gemacht“ und mir einige Entscheidungen geschickt, die ich dann dann heute vorstelle. Zum Teil sind sie etwas älter, aber ich bringe sie dennoch.

Ich beginne mit insgesamt fünf Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen (§§ 140 ff. StPO). Ich stelle aber – schon aus Platzgründen nur die Leitsätze vor. Den Rest muss man dann bitte selst lesen. Im Einzelnen handelt es sich um folgende Entscheidungen:

Steht der Angeklagte unter umfassender Betreuung, insbesondere auch in Rechts-/Antrags- und Behördenangelegenheiten, begründet dies erhebliche Zweifel daran, dass sich der Angeklagte selbst verteidigen kann.

    1. Von einer schwierigen Rechtslage ist auszugehen, wenn es bei der Anwendung des materiellen oder formellen Rechts auf die Entscheidung nicht ausgetragener Rechtsfragen ankommt, oder wenn die Subsumtion voraussichtlich aus sonstigen Gründen Schwierigkeiten bereiten wird. Hiervon umfasst sind auch Fälle, in denen sich Fallgestaltungen aufdrängen, ob ein Beweisergebnis einem Verwertungsverbot unterliegt.
    2. Etwaige ausländerrechtliche Folgen im Falle einer Verurteilung sind nicht geeignet, die Beiordnung eines Pflichtverteidigers zu rechtfertigen.
    3. Dass die Verteidigungsfähigkeit der Beschuldigten aufgrund ihrer fehlenden Deutschkenntnisse eingeschränkt ist, reicht für sich allein genommen nicht aus, um die Beiordnung eines Verteidigers zu rechtfertigen.

Gemäß § 140 Abs. 2 StPO liegt ein Fall notwendiger Verteidigung auch vor, wenn wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint. Dies ist anzunehmen, wenn eine Straferwartung von mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe besteht, wobei es in einem Fall möglicher Gesamtstrafenbildung auf die Höhe der zu erwartenden Gesamtstrafe und nicht auf die Straferwartung hinsichtlich der Einzelstrafe aus einem in die Gesamtstrafenbildung einzubeziehenden Verfahren ankommt.

Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge i. S. d. § 140 Abs. 2 StPO ist im Wege einer Gesamtbetrachtung aller ggf. zu erwartenden Rechtsfolgen zu ermitteln. Somit kommt es für die Beurteilung der Gesamtwirkung der Strafe lediglich darauf an, ob im hiesigen Verfahren mit einer (nachträglichen) Gesamtstrafenbildung zu rechnen ist.

Kann die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, dass eine Verurteilung des Betroffenen im (Bußgeld) Verfahren Einfluss bei der Entscheidung über mögliche ausländerrechtliche Konsequenzen für den Betroffenen haben könnte, ist eine Pflichtverteidigerbeiordnung gerechtfertigt.

StPO I: Rechtswidrig erlangtes Beweismittel und BVV, oder: Filmen des Eingangsbereichs eines Bürogebäudes

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Heute dann hier noch einmal Entscheidungen zur StPO, und zwar zwei landgerichtliche zu Beweisvervwertungsverboten und eine amtsgerichtliche zu einer Vollstreckungsfrage.

Und, nein. Es wird um 11.11 Uhr nichts zum Karneval geben. Mir ist angesichts der Lage – Ukraine und Corona – nun wirklich nicht nach (Straßen)Karneval. Wer meint, er müsse das „feiern“: Bitte schön, aber in diesem Jahr nicht mit mir.

Und dann hier zunächst der LG Kiel, Beschl. v. 10.01.2022 – I Qs 29/21. Es geht um die Frage der Verwertbarkeit eines Beweismittels, das (ggf.) rechtswidrig erlangt ist, und zwar um Videoaufnahmen aus dem Eingangsbereich eines Bürogebäudes, in dem die Staatsanwaltschaft ihre Büroräume hat. So verstehe ich jedenfalls den etwas knappen Sachcverhalt. Das LG hat keine Bedenken gegen die Verwertung:

„Dabei kann dahinstehen, ob Anfertigung und Speicherung der Aufnahmen durch die Staatsanwaltschaft Kiel vorliegend zulässig waren — denn selbst wenn dies nicht der Fall gewesen sein sollte, stünde dies einer Beschlagnahme im Sinne des § 94 Abs. 2 StPO und damit auch einer Verpflichtung zur Herausgabe im Sinne des § 95 StPO nicht entgegen.

Dies ergibt sich bereits daraus, dass diese Aufnahmen selbst dann im Strafverfahren verwertbar wären, wenn die Staatsanwaltschaft Kiel sie rechtswidrig erstellt hätte (BGH, Beschluss vom 18.08.2021, 5 StR 217/21, zitiert nach juris), da aus der rechtswidrigen Erlangung eines Beweis-mittels durch einen Dritten nicht ohne weiteres die Unverwertbarkeit dieses Beweismittels im Strafverfahren folgt (BGH, Urteil vom 12.04.1989, 3 StR 453/88, zitiert nach juris).

Ob ein auf rechtswidrige Weise erlangtes Beweismittel zulasten eines Beschuldigten verwertet werden darf, ist vielmehr jeweils im Einzelfall insbesondere nach der Art des Verbots, dem Gewicht des Verfahrensverstoßes, der Bedeutung der betroffenen Rechtsgüter und dem Interesse der Allgemeinheit an einer wirksamen Strafverfolgung unter Abwägung der widerstreitenden Interessen zu entscheiden. Denn auch wenn die Strafprozessordnung nicht auf die Wahrheitserforschung um „jeden Preis“ gerichtet ist, schränkt die Annahme eines Verwertungsverbots ein wesentliches Prinzip des Strafrechts ein, nämlich den Grundsatz, dass das Gericht die Wahrheit zu erforschen und dazu die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken hat, die von Bedeutung sind. Ein Beweisverwertungsverbot ist ohne ausdrückliche gesetzliche Anordnung deshalb nur ausnahmsweise aus übergeordneten wichtigen Gesichtspunkten im Einzelfall anzunehmen, wenn einzelne Rechtsgüter durch Eingriffe fern jeder Rechtsgrundlage so massiv beeinträchtigt werden, dass dadurch das Ermittlungsverfahren als ein nach rechtsstaatlichen Grundsätzen geordnetes Verfahren nachhaltig geschädigt wird (vgl. m.w.N.: OLG Stuttgart, Beschluss vom 04.05.2016, 4 Ss 543/15, zitiert nach juris). Dabei kommt es auch darauf an, ob die verletzte Vorschrift die verfahrensrechtliche Stellung eines Angeklagten sichern soll oder ob sich der Verstoß für ihn als unerheblich darstellt (OLG Hamburg, Beschluss vom 27.06.2017, 1 Rev 12/17, zitiert nach juris).

Gemessen an diesen Maßstäben würden die gegenständlichen Aufnahmen vorliegend keinem Verwertungsverbot unterliegen.

Bei dem Eingangsbereich zu einem Bürogebäude handelt es sich grundsätzlich um öffentlich zugängliche Räume (OVG Lüneburg, Urteil vom 29.09.2014, 11 LC 114/13, zitiert nach juris). Vorliegend ist aus der Akte nicht ersichtlich, ob die Kamera, deren Aufnahmen hier gegenständlich sind, ausschließlich den Personaleingang erfasst, oder ob sie darüber hinaus auch den Parkplatz und die dahinter verlaufende Straße erfasst.

Würde die Videoüberwachung ausschließlich den Personaleingang erfassen, würde es sich dabei um keinen Bereich handeln, der von einem unbestimmten und nur nach allgemeinen Merkmalen abgrenzbaren Personenkreis betreten und genutzt werden kann, und der seinem Zweck nach auch dazu bestimmt ist (Erfurter Kommentar/Franzen, 22. Auflage, BDSG, § 4, Rn. 3, zitiert nach beck-online), so dass es sich nicht um einen öffentlich zugänglichen Raum handeln würde und, jedenfalls § 4 BDSG keine Anwendung finden dürfte — stattdessen würde sich die Zulässigkeit der Videoüberwachung danach beurteilen, ob die Voraussetzungen des Art. 6 DSGVO vorliegen, in Betracht käme hier Art. 6 Abs. 1 f) DSGVO.

Würde sich die Videoüberwachung nicht auf den Personaleingang beschränken oder würde dieser Personaleingang auch von Dritten genutzt werden, würde sich die Zulässigkeit der Videoüberwachung hingegen nach § 4 BDSG beurteilen.

Letztlich spielt dies für die Entscheidung keine Rolle. Denn selbst wenn durch die Anfertigung und die anschließende Speicherung der Aufnahmen — wie von der Verteidigung vertreten — gegen datenschutzrechtliche Bestimmungen verstoßen worden sein sollte, würden diese datenschutz-rechtlichen Bestimmungen nicht der Sicherung der Stellung des Beschuldigten im Strafverfahren dienen, so dass sie nur mit einem begrenzten Gewicht in die Abwägung einzustellen wären (OLG Hamburg a.a.O.).

Soweit die Mitarbeiter der Außenstelle der Staatsanwaltschaft Kiel durch die Überwachung in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht betroffen sind, sind diese nur in ihrer lndividualsphäre berührt. Die Privatsphäre ist hier nicht betroffen. Bei der Privatsphäre handelt es sich um den Teil der Persönlichkeit, der das private Leben im häuslichen Bereich oder im Familienkreis und das sonstige Privatleben umfasst — diese Bereiche sind hier nicht tangiert. Betroffen ist lediglich die lndividualsphäre, für die regelmäßig das schwächste Schutzbedürfnis angenommen wird (vgl. LAG Schleswig-Holstein, Urteil vom 04.12.2001, 1 Sa 392 b/01, zitiert nach juris).

Gemessen daran überwiegt vorliegend das Interesse an der Strafverfolgung.

Einen möglichen Verstoß gegen datenschutzrechtliche Bestimmungen müssten sich die Strafverfolgungsbehörden im Übrigen auch nicht zurechnen lassen. Zwar sind die Aufnahmen von der Staatsanwaltschaft Kiel angefertigt worden, diese tritt in dem gegen den Beschuldigten geführten Verfahren jedoch nicht in ihrer Funktion als Ermittlungsbehörde auf. Vielmehr ist die Staatsanwaltschaft Flensburg mit den Ermittlungen beauftragt worden (BI. 6).

Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen scheidet ein Beweisverwertungsverbot vorliegend aus, so dass die gegenständlichen Aufnahmen als Beweismittel für die Untersuchung von Bedeutung sein können.“

Pflichti I: Rückwirkende Bestellung des Verteidigers, oder: Auf das die Sammlung voll werde

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So, heute dann mal wieder ein Tag mit Pflichtverteidigungsentscheidungen.

Ich beginne die Berichterstattung mit Entscheidungen zur rückwirkenden Bestellung, auf das meine Sammlung von Entscheidungen zu dieser Problemati voll(er) wird. Bei der Gelegenheit danke ich allen Kollegen, die mir in der letzten Zeit wieder Entscheidungen zu den §§ 140 ff. StPO geschickt haben.

Neu in der Sammlung sind folgende Entscheidungen, in denen die Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung bejaht worden ist:

Und mit in die Thematik passt dann noch der AG Schwerin, Beschl. v. 25.08.2021 – 36 Gs 1449/21 – zur Niederlegung des Wahlmandats durch den Wahlanwalt:

Beantragt der Wahlverteidiger die Bestellung zum Pflichtverteidiger, ohne anzukündigen, dass er das Mandat im Falle der Pflichtverteidigerbestellung niederlegen werde, kann die Nierdelegung jedoch unterstellt werden.