Und als letzte Entscheidung des Tages zum Komplex „Pflichtverteidigung“ dann noch der LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 09.03.2022 – 13 Qs 16/22, den mir der Kollege Lößel aus Alsdorf geschickt hat. Es geht um eine Umbeiordnung/Entpflichtung des anlässlich eines Vorführungstermin beigeordneten Rechtsanwalt.
Das AG hat die Entpflichtung und die Beiordnung des Kollegen Lößel abgelehnt. Auf die Beschwerde sieht das LG das anders und äußert sich zu zwei Fragen, nämlich zum Beginn der Frist des § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StPO und dazu, dass hier diese Frist überhaupt noch nicht zu laufen begonnen hatte wegen des Verstoßes gegen die Belehrungspflicht im Hinblick auf die Auswechslungsmöglichkeit und die Frist. In dem Zusammenhang positioniert sich die Kamamer gegen die Auffassung des Ermittlungsrichters beim BGH:
„(2) Jedoch handelt es sich bei den Anträgen des Angeklagten vom 19.01.2022 und 01.02.2022 durch Rechtsanwalt pp. um Anträge auf Auswechslung des Pflichtverteidigers im hiesigen Verfahren.
Diese sind im Ergebnis fristgerecht i.S.d § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO gestellt.
(a) Die Frist des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO beginnt mit der Bekanntgabe der Bestellung des Pflichtverteidigers.
Zwar wurde Rechtsanwalt pp. am 27.12.2021 durch Verfügung des Amtsgerichts Nürnberg im schriftlichen Verfahren bestellt, sodass der Angeklagte spätestens im Termin zur Anhörung nach vorläufiger Festnahme davon Kenntnis erlangte.
Maßgeblich für den Fristbeginn nach § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO ist jedoch nicht die tatsächliche Kenntnis, sondern die „Bekanntmachung“. Mit diesem Begriff wird ausweislich des Gesetzesentwurfs der Bundesregierung zum „Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019″ auf § 35 StPO Bezug genommen, der die Bekanntgabe regelt (BT-Drs. 19/13829, S. 47, wobei hier noch von einer zweiwöchigen Frist ausgegangen wird).
Ausweislich § 35 Abs. 1 StPO werden Entscheidungen, die in Anwesenheit der davon betroffenen Person ergehen, durch Verkündung bekannt gemacht und auf Verlangen eine Abschrift erteilt, und andere Entscheidungen gem. § 35 Abs. 2 StPO durch Zustellung bekannt gemacht, wobei nur dann eine formlose Mitteilung genügt, wenn die Bekanntmachung der Entscheidung keine Frist in Lauf setzt.
(b) Die Verfügung des Ermittlungsrichters vorn 27.12.2021, mit der Rechtsanwalt pp. zum Pflichtverteidiger bestellt wurde, wurde dem Angeklagten und Rechtsanwalt pp. formlos mitgeteilt. Eine Verkündung der Entscheidung im Anhörungstermin am 27.12.2021 erfolgte nicht. Ausweislich des Protokolls wurde lediglich festgestellt, dass der Angeklagte einen Verteidiger hat.
Da die Bekanntgabe der Pflichtverteidigerbestellung jedoch die Frist des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO in Gang setzt, wäre eine Zustellung der Entscheidung gem. § 35 Abs. 2 S. 1 StPO erforderlich gewesen (so auch OLG Koblenz, Beschluss vom 28.10.2020 – 4 Ws 639/20; im Übrigen heißt es auch im Gesetzesentwurf der Bundesregierung bereits wörtlich: „Mit dem Begriff der Bekanntmachung wird auf § 35 StPO Bezug genommen, so dass sowohl Verkündungen als auch — wegen des lnlaufsetzens der Frist zur Stellung des Antrags künftig erforderliche — Zustellungen hiervon erfasst sind.“).
Für dieses Zustellungserfordernis streitet nach Auffassung der Kammer auch noch ein weiterer Gesichtspunkt.
Unstreitig sind gem. § 35 Abs. 2 StPO insbesondere solche Beschlüsse zuzustellen, die mit der sofortigen Beschwerde angefochten werden können (vgl. MüKoStPOValerius, 1. Aufl. 2014, StPO, § 35 Rn. 25). § 142 Abs. 7 S. 1 StPO regelt die Anfechtbarkeit von gerichtlichen Entscheidungen über die Bestellung eines Pflichtverteidigers mit der sofortigen Beschwerde. § 142 Abs. 7 S. 2 StPO schließt dabei die sofortige Beschwerde aus, wenn der Beschuldigte einen Antrag nach § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO stellen kann.
Die Möglichkeit zur Stellung eines solchen Antrages lässt also die grundsätzlich bestehende Möglichkeit der sofortigen Beschwerde entfallen. Die gerichtliche Entscheidung ist mit dem Ziel der Auswechslung des Pflichtverteidigers nach Maßgabe des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO nicht mehr mit der sofortigen Beschwerde anfechtbar, das Ziel der Auswechslung des Pflichtverteidigers kann in diesem Fall (nur) durch den Antrag gem. § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO, der ebenfalls fristgebunden ist, erreicht werden. Aus diesem Ausschlussverhältnis zwischen sofortiger Beschwerde und Antrag nach § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO ist nach Auffassung der Kammer ebenfalls zu folgem, dass die Entscheidung über die Pflichtverteidigerbestellung gleichermaßen wie bei der Anfechtbarkeit mit der sofortigen Beschwerde gem. § 35 Abs. 2 StPO zuzustellen ist, wenn als einzige Korrekturmöglichkeit der Antrag nach § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO statthaft ist.
Bereits aus diesem Grund begann in Ermangelung einer fristauslösenden Zustellung die Drei-Wochen-Frist bislang nicht zu laufen.
(c) Überdies begann die Drei-Wochen-Frist des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO deshalb nicht zu laufen, weil der Angeklagte nicht auf die Möglichkeit der Auswechslung des Pflichtverteidigers und die dabei einzuhaltende Frist hingewiesen wurde.
Die Pflicht, auf dieses Recht hinzuweisen, ergibt sich für die Kammer aus einer entsprechenden Anwendung des § 35a Abs. 1 StPO, die auf gesetzessystematischen Erwägungen beruht.
Aus dem oben dargestellten Verhältnis der sofortigen Beschwerde nach § 142 Abs. 7 S. 1 StPO und dem Antrag nach § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO folgt, dass einem Beschuldigten statt der Möglichkeit eines Rechtsmittels mit Devolutiveffekt die Möglichkeit gegeben wird, instanzwahrend einen Antrag auf Auswechslung des Pflichtverteidigers zu stellen. Wenn aber über die Möglichkeit eines befristeten Rechtsmittels gem. § 35a S. 1 StPO belehrt werden muss, dann muss dies auch für den dieses Rechtsmittel ausschließenden, instanzwahrenden befristeten Antrag gem. § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO gelten. Denn nur dann, wenn er den entsprechenden Antrag und seine Frist kennt, kann es gerechtfertigt sein, dem Beschuldigten die grundsätzlich bestehende Möglichkeit eines Rechtsmittels zu verwehren (im Ergebnis auch OLG Koblenz, Beschluss vom 28.10.2020 – 4 Ws 639/20, Rn. 15-18).
Demgegenüber kann die Begründung des Ermittlungsrichters am BGH im Beschluss vom 14.09.2020 – Az. 2 BGs 619/20, nicht überzeugen, soweit dieser im Rahmen der Ablehnung eines Antrags auf Wiedereinsetzung in die Frist des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO ausführt, es entstünde bei Ablauf der Frist des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO insoweit kein Rechtsnachteil für den Beschuldigten, als er weiterhin über § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StPO die Auswechslung verlangen könne.
Dies erscheint bereits deshalb unzutreffend, weil § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StPO die substantiierte Darlegung von Tatsachen für das zerrüttete Vertrauensverhältnis/die Unmöglichkeit einer angemessenen Verteidigung zwischen Beschuldigtem und Verteidiger und ggf. deren Glaubhaftmachung erfordert (vgl. BeckOK StPO/Krawczyk, 42. Ed. 1.1.2022, StPO § 143a Rn. 22) und damit deutlich andere und strengere Voraussetzungen hat als der lediglich an den zeitlichen Ablauf bzw. die Benennung eines anderen als den bestellten Pflichtverteidiger anknüpfende § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO.
Zudem entfällt mit der Möglichkeit, einen Antrag nach § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO zu stellen, auch die Beschwerdemöglichkeit nach § 142 Abs. 7 S. 2 StPO, sodass bei Versäumung der Antragsfrist bereits hierin ein Rechtsnachteil für den Beschuldigten liegt.“