Schlagwort-Archive: Aufhebung der Bestellung

StPO III: „Vorweihnachtliches Pflichti-Potpourri“, oder: Haftentlassung, Gesamtstrafe und Rückwirkung

© Patricia W. – Fotolia.de

Und zum Tagesschluss dann noch die Pflichtverteidigungsentscheidungen, die sich seit dem letzten Pflichti-Tag angesammelt haben. Es sind (nur) vier Stück, das reicht also nicht für einen ganzen Tag. Daher habe ich sie in diesem Posting zusammengefasst, stelle aber jeweils nur die Leitsätze vor.

Zunächst kommen hier zwei Entscheidungen zur Aufhebung der Bestellung des Pflichtverteidigers für den inhaftierter Mandanten nach dessen Haftentlassung, also ein Fall des § 140 Satz 1 Nr. 5 StPO. Das AG Siegen hatte im AG Siegen, Beschl. v. 24.10.2024 – 401 Ds-69 Js 794/24-745/24 – aufgehoben. Das hat das LG Siegen dann im Beschwerdeverfahren „gehalten“. Der LG Siegen, Beschl. v. 14.11.2024 – 10 Qs-69 Js 794/24-94/24 – hat folgenden Leitsatz:

1. Eine nach § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO erfolgte Pflichtverteidigerbestellung ist aufzuheben, wenn der Beschuldigte aus der Haft entlassen worden ist und die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO nicht vorliegen. Es ist aber zu prüfen, ob nicht aus anderen Gründen ein Pflichtverteidiger zu bestellen ist.

2. Zur Unfähigkeit der Selbstverteidigung.

Und dann hier der LG Magdeburg, Beschl. v. 21.11.2024 – 21 Qs 80/24 -, der sich noch einmal zur „Schwere der Tat“ äußert und auch zum Bestellungsverfahren – ohne Antrag – und zum Bestellungszeitpunkt, nämlich:

1. Drohen einem Angeklagten in mehreren Parallelverfahren Strafen, die letztlich gesamtstrafenfähig sind und deren Summe voraussichtlich eine Höhe erreicht, welche das Merkmal der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgen im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO begründet, ist die Verteidigung in jedem Verfahren notwendig.

2. Gemäß § 141 Abs. 2 Nr. 4 StPO ist dem Angeklagten, wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, auch ohne Antrag ein Pflichtverteidiger sofort beizuordnen. Daher hindert die Rechtskraft eines Beschlusses mit dem eine Bestellungsantrag des Beschuldigten (zunächst) abgewiesen worden ist, nicht die spätere Beiordnung auf Antrag eines (Wahl)Verteidigers.

Und natürlich der Dauerbrenner „Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung“ mit zwei Entscheidungen, nämlich dem LG Frankfurt am Main, Beschl. v. 26.11.2024 – 5/06 Qs 51/24  – und dem LG Meiningen, Beschl. v. 09.10.2024 – 6 Qs 141/24. Das LG Frankfurt am Main hat es richtig gemacht und hat die rückwirkende Bestellung als zulässig angesehen, das LG Meinigen hat sich hingegen bei den „ewig Gestrigen“ eingereiht, die von Unzulässigkeit der rückwirkenden Bestellung ausgehen. Die Leitsätze schenke ich mir hier, die sind bekannt 🙂 .

Pflichti I: Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung, oder: Voraussetzungen für einen Sicherungsverteidiger

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Ich stelle heute dann mal wieder Pflichtverteidigungsentscheidungen vor. Im Moment ist an der „Front“ allesdings Ruhe, Ich heb nicht so viel Entscheidungen vorliegen wie noch vor einiger Zeit.

ich beginne mit dem BGH, Beschl. v. 26.06.2024 – StB 35/24 -, der sich noch einmal zur Entbindung des Pflichtverteidigers äußert. Es handelt sich um ein Verfahren in Zusammenhang mit der (versuchten) Erstürmung des Reichstagsgebäudes.

Der Vorsitzendes des OLG-Senats hatte den Antrag auf Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung abgelehnt. Dagegen die Beschwerde, die keinen Erfolg hatte. Der BGH führt aus:

„Die gemäß § 143a Abs. 4, § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 Nr. 1, § 306 Abs. 1, § 311 Abs. 1 und 2 StPO statthafte, fristgerechte und auch im Übrigen zulässige sofortige Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg. Der zur Entscheidung berufene Vorsitzende des mit der Sache befassten Oberlandesgerichtssenats (§ 142 Abs. 3 Nr. 3 StPO) hat den Antrag auf Aufhebung der Bestellung von Rechtsanwalt T. zu Recht abgelehnt. Weder ist das Vertrauensverhältnis zwischen diesem und dem Angeklagten endgültig zerstört, noch ist aus einem sonstigen Grund keine angemessene Verteidigung des Angeklagten gewährleistet (s. § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO). Auch im Übrigen besteht kein Anlass zur Aufhebung der Verteidigerbeiordnung gemäß § 143a Abs. 1 Satz 1 StPO.

1. a) Nach § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO ist die Bestellung des Pflichtverteidigers aufzuheben und ein neuer Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn das Vertrauensverhältnis zwischen Verteidiger und Angeklagtem endgültig zerstört oder aus einem sonstigen Grund keine angemessene Verteidigung des Angeklagten gewährleistet ist. Mit dieser am 13. Dezember 2019 in Kraft getretenen Vorschrift (BGBl. I S. 2128, 2130, 2134) sollten zwei von der ständigen obergerichtlichen Rechtsprechung anerkannte Fälle des Rechts auf Verteidigerwechsel normiert werden. Deshalb kann für die Frage, wann im Einzelnen eine endgültige Zerstörung des Vertrauensverhältnisses zu bejahen ist, auf die in dieser Rechtsprechung herausgearbeiteten Grundsätze zurückgegriffen werden (vgl. BT-Drucks. 19/13829 S. 48). Danach ist anerkannt, dass Maßstab für die Störung des Vertrauensverhältnisses die Sicht eines verständigen Angeklagten und eine solche von diesem oder seinem Verteidiger substantiiert darzulegen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Februar 2020 – StB 4/20, BGHR StPO § 143a Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 Aufhebung 2 Rn. 6 f. mwN).

b) Daran gemessen ergibt sich aus dem Vorbringen des Beschwerdeführers kein Grund für eine Rücknahme der Verteidigerbestellung. Aus den zutreffenden und auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens fortgeltenden Gründen der angefochtenen Entscheidung, auf die Bezug genommen wird, ist weder von einem endgültigen Vertrauensverlust auszugehen, noch ist das Vorliegen einer groben Pflichtverletzung erkennbar (§ 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO). Ergänzend ist nur Folgendes auszuführen:

aa) Es ist schon nicht ersichtlich, dass die behauptete Unkenntnis des Angeklagten von seiner Kostentragungspflicht für die angefallenen Pflichtverteidigergebühren eine grobe Pflichtverletzung von Rechtsanwalt T. darstellt. Hinzu kommt, dass der Angeklagte Rechtsanwalt T. zuvor selbst bevollmächtigt hatte. Dem Angeklagten war damit bewusst, dass er für dessen Tätigkeit als Wahlverteidiger honorarpflichtig ist. Die nachfolgende Beiordnung wurde sodann mit Zustimmung des Angeklagten vorgenommen. Hierdurch ist er auch vor dem Hintergrund nicht beschwert, dass er etwaig zu einem späteren Zeitpunkt mit den Kosten des Pflichtverteidigers belastet wird (vgl. BGH, Beschluss vom 15. August 2023 – StB 27/23).

bb) Der weiterhin behauptete Umstand, Rechtsanwalt T. habe hohe Honorarforderungen gestellt und seine Tätigkeiten als Wahlverteidiger später überhöht abgerechnet, begründet weder einen Vertrauensverlust noch eine grobe Pflichtverletzung. Zwar kommt die Zurücknahme der Beiordnung wegen einer Störung des Vertrauensverhältnisses in Betracht, wenn der Pflichtverteidiger den Angeklagten ungeachtet dessen erklärter Ablehnung wiederholt bedrängt, eine schriftliche Vereinbarung über ein Honorar abzuschließen, das die gesetzlichen Gebühren um ein Mehrfaches übersteigen würde, und hierbei zum Ausdruck bringt, ohne den Abschluss dieser Vereinbarung sei seine Motivation eingeschränkt, für den Angeklagten tätig zu werden (vgl. KG, Beschluss vom 23. Januar 2012 – 4 Ws 3/12, StV 2013, 142, 143; KK-StPO/Willnow, 9. Aufl., § 143a Rn. 12). Indes ist dem Vortrag des Angeklagten bereits ein derartiges pflichtwidriges Verhalten von Rechtsanwalt T. nicht zu entnehmen. Dessen Honorarforderungen standen zudem im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Wahlverteidiger und lagen zeitlich vor seiner Bestellung zum Pflichtverteidiger.

cc) Ferner rechtfertigen die vom Angeklagten vorgetragenen Umstände zum Schließfach in der Sch. nicht die Rücknahme der Beiordnung von Rechtsanwalt T. . Dass sich dieser zumindest vorübergehend gehindert sah, auf Wunsch des Angeklagten und seines Wahlverteidigers den Schlüssel für das Schließfach an den Sohn des Angeklagten auszuhändigen, erscheint in der konkreten Konstellation vertretbar. Im Übrigen gibt es keinen Anhalt dafür, dass der Pflichtverteidiger von der Unrichtigkeit seiner Angaben überzeugt war, das Schließfach sei von den Ermittlungsbehörden aufgebohrt worden.

2. Die Bestellung von Rechtsanwalt T. zum Pflichtverteidiger ist auch nicht gemäß § 143a Abs. 1 Satz 1 StPO aufzuheben, weil der Angeklagte mit Rechtsanwalt Dr. S. einen anderen Verteidiger gewählt hat. Denn es begegnet keinen durchgreifenden Bedenken, dass der zur Entscheidung berufene Vorsitzende des mit der Sache befassten Staatsschutzsenats des Oberlandesgerichts die Aufrechterhaltung der Beiordnung von Rechtsanwalt T. als Pflichtverteidiger gemäß § 143a Abs. 1 Satz 2 StPO aus den Gründen des § 144 StPO weiterhin für erforderlich gehalten hat.

a) Nach § 144 Abs. 1 StPO können in Fällen der notwendigen Verteidigung einem Beschuldigten zu seinem Wahl- oder (ersten) Pflichtverteidiger „bis zu zwei weitere Pflichtverteidiger zusätzlich“ bestellt werden, „wenn dies zur Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens, insbesondere wegen dessen Umfang oder Schwierigkeit, erforderlich ist“. Von einer solchen Notwendigkeit ist auszugehen, wenn sich die Hauptverhandlung voraussichtlich über einen besonders langen Zeitraum erstreckt und zu ihrer regulären Durchführung sichergestellt werden muss, dass auch bei dem Ausfall eines Verteidigers weiterverhandelt werden kann, oder der Verfahrensstoff so außergewöhnlich umfangreich oder rechtlich komplex ist, dass er nur bei arbeitsteiligem Zusammenwirken mehrerer Verteidiger in der zur Verfügung stehenden Zeit durchdrungen und beherrscht werden kann (vgl. BGH, Beschlüsse vom 27. März 2024 – StB 19/24, NStZ-RR 2024, 178, 179; vom 5. Mai 2022 – StB 12/22, juris Rn. 12; vom 24. März 2022 – StB 5/22, NStZ 2022, 696 Rn. 16; vom 31. August 2020 – StB 23/20, BGHSt 65, 129 Rn. 14 mwN; s. auch BT-Drucks. 19/13829 S. 49 f.).

Bei der Entscheidung über die Bestellung eines Sicherungsverteidigers kommt dem hierzu gemäß § 142 Abs. 3 StPO berufenen Richter ein nicht voll überprüfbarer Beurteilungs- und Ermessensspielraum zu. Dessen Beurteilung, dass die Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers erfordert, kann das Beschwerdegericht daher nur beanstanden, wenn sie sich nicht mehr im Rahmen des Vertretbaren hält; anderenfalls hat es sie hinzunehmen (vgl. zur Fallkonstellation der Ablehnung der Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers BGH, Beschlüsse vom 5. Mai 2022 – StB 12/22, juris Rn. 8, 13; vom 24. März 2022 – StB 5/22, NStZ 2022, 696 Rn. 18).

b) Gemessen daran ist gegen das Vorgehen des Vorsitzenden nichts zu erinnern. Zwar fehlt es an einer ausdrücklichen Erörterung des § 144 StPO in den Gründen des angefochtenen Beschlusses. Aus den Entscheidungsgründen ergibt sich jedoch, dass der Vorsitzende die Verfahrenssicherung im Blick gehabt und nach den dargelegten Maßstäben keinen Anlass gesehen hat, Rechtsanwalt T. zu entpflichten. Der Vorsitzende ist im Rahmen der Beurteilung des Entpflichtungsgrundes nach § 143a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StPO auf entsprechende sachliche Gesichtspunkte eingegangen. Seine daraus hervorgehende Wertung, die Rechte des Angeklagten an einer effektiven Verteidigung (s. Art. 6 Abs. 3 Buchst. c EMRK) geböten aufgrund des außergewöhnlich umfangreichen und schwierigen Verfahrens die Bestellung von zwei Pflichtverteidigern neben dem Wahlverteidiger, überschreitet den ihm zustehenden Beurteilungsspielraum nicht und ist frei von Ermessensfehlern.“

Hatten wir alles schon mal.

StPO I: Entscheidungen zur Pflichtverteidigung, oder: Beiordnungsgrund, Haftentlassung und Rückwirkung

© fotomek – Fotolia.com

Und heute dann ein „StPO-Tag“.

Den eröffne ich mit einigen Pflichtverteidigungsentscheidungen. Die habe ich dieses Mal in einem Posting zusammengefasst, weil es letztlich alles Fragen sind, zu denen ich schon häufig(er) hier Entscheidungen vorgestellt habe.

Zunächst zwei Entscheidungen zu den Gründen der Beiordnung, und zwar:

Zur Bestellung eines Pflichtverteidigers in einem Verfahren mit dem Vorwurf eines Verstoßes gegen § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG, wenn dem ausländischen Beschuldigten mit dem derzeitigen Status der Duldung im Fall der Verurteilung ggf. die Ausweisung droht.

Zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers, wenn dem Beschuldigten drei Fälle der Leistungserschleichung vorgeworfen werden und im Fall der Verurteilung  eine Gesamtfreiheitsstrafe zu bilden ist.

Beides nichts Besonderes, aber kann man zur „Abrundung“ vielleicht mal ganz gut gebrauchen.

Und dann ein Beschluss zur der ebenfalls schon häufiger behandelten Frage der Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung, wenn der (zunächst) inhaftierte Beschulidgte rechtzeitig vor dem Hauptverhandlungstermin entlassen wird, und zwar:

Die Bestellung des Pflichtverteidigers wegen Inhaftierung des Beschuldigten fällt nicht automatisch weg, wenn der Angeklagte mindestens zwei Wochen vor der  Hauptverhandlung aus der Verwahrung entlassen wird und die Verteidigung nicht aus einem anderen Grund notwendig ist. Das Gericht muss vielmehr stets prüfen, ob die Beiordnung des Verteidigers aufrechtzuerhalten ist, weil die auf der Freiheitsentziehung beruhende Behinderung trotz der Freilassung nachwirken kann.

Und dann noch etwas zum Dauerbrenner: Rückwirkung.

    1. Unter besonderen Umständen ist eine Ausnahme vom Grundsatz der Unzulässigkeit einer nachträglichen Beiordnung zu machen. Voraussetzung hierfür ist, dass der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt wurde, die Voraussetzungen für eine Beiordnung gemäß § 140 StPO im Zeitpunkt der Antragstellung vorlagen und der Antrag auf Beiordnung als Pflichtverteidiger in verfahrensfehlerhafter Weise behandelt wurde.
    2. Unverzüglich im Sinn von § 141 Abs. 1 S. 1 StPO bedeutet zwar nicht, dass die Pflichtverteidigerbestellung sofort zu erfolgen hat; vielmehr ist der Staatsanwaltschaft eine gewisse Überlegungsfrist zuzugestehen. Bei einem Zeitablauf von zehn Wochen zwischen der Stellung des Antrages auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers und der Einstellung des Verfahrens verstößt die Staatsanwaltschaft allerdings gegen ihre Pflicht zur Herbeiführung einer unverzüglichen Entscheidung.
    3. § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO, bezieht sich ausdrücklich nur auf die in § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 bezeichneten Fälle, nicht aber auf Abs. 1 der Vorschrift.

Und dann habe ich zur Rückwirkung noch zwei AG-Entscheidung: Und zwar einmal AG Verden (Aller), Beschl. v. 11.03.2024 – 9a Gs 2875 Js 43559/23 (874/24), wonach die rückwirkende Bestellung zulässig ist, was zutreffend ist. Anders sieht es dann das AG Frankfurt, Beschl. v. 19.2.2024 – 4831 Ls 204532/24 – 931 Gs -, was m.E. nicht zutreffend ist. Das AG meint außerdem, die Beiordnung komme auch deshlab nicht in Betracht, weil die Verteidigerin das Wahlmandat nicht niedergelegt habe. Ich empfehle dazu, dass das AG mal in einem gängigen StPO-Kommentar nachschauen sollte, wo es dann – vielleicht überrascht – feststellt, dass das nach überwiegender Meinung nicht erforderlich ist für die Bestellung. Warum tun AG das eigentlich nicht sofort?

Pflichti III: Aufhebung der „Pflichti-Bestellung“, oder: Wahlverteidiger dauerhaft zur Übernahme bereit?

Bild von Peggy und Marco Lachmann-Anke auf Pixabay

Und zur Abrundung des Tagesprogramms dann noch der BGH, Beschl. v. 02.08.2023 – 3 StR 499/22 – zur Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung. Der Angeklagte hatte das beantragt, der Vorsitzende des 3. Strafsenats lehnt es ab:

„Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main hat im erstinstanzlichen Verfahren dem Angeklagten die Rechtsanwälte H. und S. aus M. sowie Rechtsanwalt P. aus F. als Pflichtverteidiger beigeordnet. Am 15. Juli 2022 hat es den Angeklagten wegen der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat und weiterer Delikte zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Gegen dieses Urteil haben seine Verteidiger namens und im Auftrag des Angeklagten jeweils Revision eingelegt und diese teilweise begründet. Nach Zustellung des Urteils an den Angeklagten haben sich die Rechtsanwälte V. aus Ha. und Dr. Si. aus F. als Wahlverteidiger für den Angeklagten im Revisionsverfahren gemeldet und ebenfalls die Revision begründet.

Mit Schreiben vom 15. Mai 2023 hat der Angeklagte durch den Verteidiger Dr. Si. beantragt, die Beiordnung der Rechtsanwälte H. und S. aufzuheben, da der Angeklagte mittlerweile von mindestens zwei Wahlverteidigern verteidigt werde.

II.

Der Antrag bleibt ohne Erfolg. Die weitere ordnungsgemäße Verteidigung des Angeklagten ist nur unter Beibehaltung der Beiordnung der bestellten Pflichtverteidiger gewährleistet.

Zwar ist die Bestellung eines Pflichtverteidigers gemäß § 143a Abs. 1 Satz 1 StPO aufzuheben, wenn der Beschuldigte einen anderen Verteidiger gewählt und dieser die Wahl angenommen hat. Jedoch kommt nach § 143a Abs. 1 Satz 2 Alternative 2, § 144 StPO die Aufhebung der Bestellung nicht in Betracht, wenn ihre Aufrechterhaltung zur Sicherung des Verfahrens erforderlich ist. Die Aufhebung der Bestellung zum Pflichtverteidiger setzt deshalb unter anderem voraus, dass der Wahlverteidiger dauerhaft zur Übernahme der Verteidigung des Angeklagten bereit und in der Lage ist. Dies ist hier nicht ersichtlich. Rechtsanwalt Dr. Si. und Rechtsanwalt V. haben sich jeweils ausdrücklich nur für die Verteidigung des Angeklagten im Revisionsverfahren gemeldet. Eine gegebenenfalls erforderliche, darüber hinausgehende Sicherung des Verfahrens kann somit nicht angenommen werden.

Ein weiterer Grund für eine Entpflichtung ist weder dargetan noch sonst ersichtlich.“

Rückwirkende Aufhebung der “Pflichtibestellung”, oder: OLG Nürnberg sagt dem LG Amberg, wie es geht

Bild von OpenClipart-Vectors auf Pixabay

Und dann noch RVG-Entscheidungen. Heute stelle ich dann mal – auch das gibt es – positive Entscheidungen vor. Beide Entscheidungen sind Rechtsmittelentscheidungen zu Beschlüssen, die hier auch Gegenstand der Berichterstattung gewesen sind. Einmal hat das Rechtsmittelgericht eine falsche Entscheidung eines LG repariert, in der anderen Entscheidung, die heute Mittag kommt, hat das LG eine richtige Entscheidung eines AG bestätigt.

Ich beginne mit dem „Reparaturbeschluss“. Das ist der OLG Nürnberg, Beschl. v. 18.07.2023 – Ws 133/23 . Der „repariert“ den falschen LG Amberg, Beschl. v. 05.12.2022 – 11 Qs 79/22 (dazu Rückwirkende Aufhebung der “Pflichtibestellung”, oder: Das LG Amberg kann es auch nicht und den falschen AG Amberg, Beschl. v. 12.10.2022 – 6 Gs 398/21).

Ich erinnere an den Sachverhalt: Der Kollege Jendricke, der „Betroffener“ war, war Verteidiger des Beschuldigten in einem Verfahren mit dem Vorwurf des Verbreitens jugendpornographischer Schriften. Er erhielt Akteneinsicht und wurde danach als Pflichtverteidiger beigeordnet. Die StA hat das Verfahren dann eingestellt. Der Kollege hat die Festsetzung seiner Vergütung beantragt. AG und LG haben die nicht gewährt. Der Kollege hat gegen den LG-Beschluss dann weitere Beschwerde eingelegt und hatte damit jetzt beim OLG Nürnberg Erfolg:

„1. Der Beschwerdeführer wurde mit Beschluss des Amtsgerichts Amberg vom 08.03.2021 wirksam als Pflichtverteidiger gemäß § 142 Abs. 2 StPO bestellt.

a) Für die Wirksamkeit der Bestellung kommt es nicht darauf an, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für die Bestellung vorliegen. Wird die Bestellung angeordnet, ist diese, jedenfalls zunächst, wirksam.

b) Mit der Bestellung wird eine öffentlich-rechtliche Pflicht des Verteidigers zur sachgerechten Mitwirkung am Strafverfahren begründet (KK-StPO/Willnow, 9. Aufl. 2023, StPO § 142 Rn. 18), und zwar unabhängig davon, ob die Bestellungsentscheidung rechtskräftig wird. § 307 Abs. 1 StPO ordnet an, dass durch Einlegung der Beschwerde der Vollzug der angefochtenen Entscheidung nicht gehemmt wird. Es liegt auch kein Fall vor, in dem gesetzlich ausnahmsweise die aufschiebende Wirkung angeordnet wird.

Dies entspricht im Übrigen auch den Praxisanforderungen bei der Pflichtverteidigerbestellung: Nach §§ 141, 141a StPO ist in den Fällen der notwendigen Verteidigung bei verschiedenen Maßnahmen die oftmals kurzfristige Bestellung eines Pflichtverteidigers erforderlich, deren Rechtskraft nicht abgewartet werden kann. Entsprechend darf der Pflichtverteidiger darauf vertrauen, für solche Tätigkeiten auch vergütet zu werden.

2. Die spätere Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft führt nicht dazu, dass die Bestellung von Anfang an entfällt. Vielmehr tritt diese Wirkung erst zu dem Zeitpunkt der Aufhebungsentscheidung ein.

Grundsätzlich hat die Aufhebung einer angefochtenen Entscheidung durch das Rechtsmittelgericht zur Folge, dass diese seit dem Zeitpunkt ihres Erlasses, also rückwirkend, keine Wirkung entfaltet. Zwar hat der Gesetzgeber in § 142 Abs. 7 StPO keine davon abweichende Regelung für den Fall getroffen, dass die Bestellung eines Pflichtverteidigers auf ein Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft aufgehoben wird. Nach dem Sinn und Zweck der in § 141 Abs. 1 und 2 StPO angeordneten unverzüglichen oder kurzfristigen Verpflichtung zur Bestellung eines Pflichtverteidigers und der Regelung in § 307 Abs. 1 StPO, dass durch Einlegung der Beschwerde der Vollzug der angefochtenen Entscheidung nicht gehemmt wird, ist § 142 Abs. 7 StPO aber ergänzend dahingehend auszulegen, dass der wirksam, aber nicht rechtskräftig bestellte Pflichtverteidiger erst zu dem Zeitpunkt der Aufhebungsentscheidung durch das Beschwerdegericht entpflichtet wird. So besteht zum einen kein Zweifel an der Wirksamkeit der bis dahin vorgenommenen Handlungen des Pflichtverteidigers und zum anderen wird so das Vertrauen des Pflichtverteidigers in seine Bestellung und damit die Begründung eines Vergütungsanspruchs gegen die Staatskasse geschützt (vgl. Burhoff/Volpert, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 6. Auflage, Teil A Vergütungs-ABC Rn 2400).

b) Diese Auslegung ist nicht auf die Fälle beschränkt, in denen der Pflichtverteidiger im Vertrauen auf die Bestellung tatsächlich tätig wird. Auch wenn der Pflichtverteidiger zwischen Bestellung und Entpflichtung durch das Beschwerdegericht nicht tätig wird, liegt für diesen Zeitraum eine wirksame Bestellung vor.

3. Damit hat der Beschwerdeführer gemäß § 45 Abs. 3 S. 1 RVG Anspruch auf Vergütung seiner Tätigkeit aus der Landeskasse mit der Konsequenz, dass gemäß § 48 Abs. 6 S. 1 RVG auch die Tätigkeiten vor seiner Bestellung zu vergüten sind. Dies ist Folge der wirksamen Pflichtverteidigerbestellung durch das Amtsgericht, ohne dass es darauf ankommt, ob diese geboten war.

4. Zur Höhe der festzusetzenden Gebühren….“

Dazu muss man m.E. nicht viel sagen, außer: Die Entscheidung ist richtig. Die richtige Lösung der Frage lag auf der Hand. Man fragt sich allerdings, warum man für das Problem – das keins ist/war – bis zum OLG muss und warum AG/LG das nicht gleich richtig machen konnten. Ein Gutes hat der Marathon aber: Jetzt gibt es zumindest mal eine OLG-Entscheidung zu der „Problematik“. Das erleichtert den Bezirksrevisoren die Arbeit 🙂 .