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AE I: Was darf der Verteidiger dem Mandanten aus der Akte mitteilen?, oder: Alles, daher Abfuhr vom OLG

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Und dann geht es auf in die 4. KW, und zwar heute mit Beiträgen zur Akteneinsicht. Montags habe ich zwar an sich in der letzten Zeit meist „Corona-Entscheidungen“ vorgestellt, derzeit habe ich aber nur eine in meinem Ordner und die ist nicht so wichtig, dass ich sie nun heute unbedingt vorstellen müsste. Sie behandelt materielle Fragen und ich kann sie daher auch gut in anderem Zusammenhang vorstellen.

Ich mache heute also Akteneinsicht. Das hat vor allem aber auch folgenden Grund. Mir hat nämlich der Kollege Siebers vor einigen Tagen den OLG Jena, Beschl. v. 18.01.2022 – 1 Ws 487/21 – übersandt. Ergangen ist der Beschluss in einem Verfahren betreffend den Ausschluss einer Verteidigerin aus einem Verfahren mit dem Vorwurf eines Verstoßes gegen das BtMG (§§ 138a ff. StGB), und zwar nach § 138a Abs. 1 Nr. 3 StPO wegen des Vorwurfs der (versuchten) Strafvereitelung. Und den Beschluss möchte ich nun doch alsbald den sicherlich „staunenden“ Lesern vorstellen.

Der der Beschluss zugrunde liegende Sachverhalt/“Vorwurf“ ist ganz einfach: Die betroffene Kollegin verteidigt in einem BtM-Verfahren. In dem fand am 02.06.2021 in der Wohnung des Beschuldigten eine Wohnungsdurchsuchung statt, in deren Zuge u.a. BtM aufgefunden wurde. Mit Verfügung der StA Erfurt vom 07.06.2021 wurde gegen den Beschuldigten beim AG Erfurt der Erlass eines auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützten Haftbefehls beantragt und zugleich angeordnet, dass eine Duploakte erstellt, der Kollegin auf deren Akteneinsichtsgesuch vom 03.06.2021 Akteneinsicht gewährt und hierzu die erstellte Duploakte der Verteidigerin sowie die Originalakte dem AG Erfurt mit dem Antrag, Haftbefehl gemäß einem beiliegendem Haftbefehlsentwurf zu erlassen, übersandt werden sollen. Der Haftbefehl wurde am 07.06.2021 erlassen. Der Kollegin wurden per Post die Duploakten – in denen sich auch der Haftbefehlsentwurf der Staatsanwaltschaft befand – übersandt, die sie am 10.062021 erhielt. Bei einer am 05.10.2021 im Rahmen der Vollstreckung des Haftbefehls in der Wohnung des dort nicht aufhältigen Beschuldigten erfolgten Durchsuchung wurde auf dem Tisch im Wohnzimmer eine – zwei jeweils in der rechten oberen Ecke handschriftlich mit den Seitenzahlen 118 und 119 versehene Seiten umfassende – Kopie des Entwurfes des Haftbefehls des AG Erfurt vom 07.06.2021, vom Richter nicht unterzeichnet, festgestellt.

Die Staatsanwaltschaft Erfurt leitete daraufhin ein Verfahren wegen versuchter Strafvereitelung (§ 258 StGB) gegen die Kollegin ein. Der Beschuldigte befindet sich inzwischen in Untersuchungshaft.

Mit Verfügung vom 09.12.2021 beantragte die Staatsanwaltschaft Erfurt beim AG Erfurt, gemäß § 138a Abs. 1 Nr. 3 StPO die Kollegin als (Pflicht)Verteidigerin von der Mitwirkung im Verfahren auszuschließen. Das AG hat das dann mit Vorlagebeschluss vom 15.12.2021 beantragt und die Akten dem OLG Jena vorgelegt. Die GStA beim OLG Jena ist dem Antrag beigetreten.

Die GStA beim OLG Jena, die StA Erfurt und das AG Erfurt haben sich dann aber beim OLG Jena mit dem OLG Jena, Beschl. v. 18.01.2021 – 1 Ws 487/21 – eine Abfuhr abgeholt, die sich m.E. „gewaschen“ hat:

„Die Vorlage ist bereits unzulässig; weil sie den Ausschließungsgrund schon nicht schlüssig darlegt.

1. Der Inhalt des Ausschließungsantrages nach § 138a StPO muss substantiiert und detailliert alle Tatsachen, aus denen sich im Falle ihres Nachweises das den Ausschluss rechtfertigende Verhalten des Verteidigers ergeben soll, mitteilen und die jeweiligen Beweismittel für die vorgetragenen Tatsachen angeben (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 138c Rdnr. 9 m.w.N.). Dies folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO (vgl. Senatsbeschluss vom 15.01.2009, Az, 1 Ws 21/09)

2. Das in dem Antrag der Staatsanwaltschaft Erfurt sowie dem daraufhin ergangenen Vorlagebeschluss des Amtsgerichts Erfurt – beide gemeinsam bilden die Vorlage und damit die Grundlage für die Senatsentscheidung (Vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 138c Rdnr. 7; Frye, NStZ 2005, 50) – dargelegte Handeln der Verteidigerin, das den objektiven und subjektiven Tatbestand der versuchten‘ Strafvereitelung erfüllen soll, legt einen Tatverdacht in dem nach, § 138a Abs. 1 StPO erforderlichen Maße bereits nicht schlüssig dar.

a) Voraussetzung für die Annahme des – hier allein in Rede stehenden – Ausschließungsgrundes der versuchten Strafvereitelung nach § 138a Abs. 1 ‚Nr. 3 StPO in Verbindung mit 258 Abs. 1 und 4, 22, 23 StGB – auch eine (nur) versuchte Strafvereitelung würde für die Ausschließung genügen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O. § 138a Rdnr. 11 m.w.N.)- ist ein Vorgehen der Verteidigerin, mit welchem sie sich der Begehung einer Tat, die für den Fall der Verurteilung des Beschuldigten versuchte Strafvereitelung wäre, dringend oder aber hinreichend in einem die Eröffnung des. Hauptverfahrens rechtfertigenden Grade verdächtig gemacht hat (vgl. Mey-er-Goßner/Schmitt, a.a.O., §.138a Rdnr. 12), Versuchte Strafvereitelung liegt vor, wenn jemand nach seiner Vorstellung von der Tat unmittelbar dazu ansetzt, absichtlich oder wissentlich ganz oder zum Teil zu vereiteln, dass ein anderer wegen einer rechtswidrigen Tat bestraft wird.

b) Ein entsprechender Tatverdacht in dem nach § 138a Abs. 1 StPO erforderlichen Maße ergibt sich aus dem Antrag der Staatsanwaltschaft sowie dem nachfolgend ergangenen Vorlagebeschluss des Amtsgerichts Erfurt jedoch nicht.

Die Stellung als Verteidiger in einem Strafprozess und das damit verbundene Spannungsverhältnis zwischen Organstellung und Beistandsfunktion erfordert eine besondere Abgrenzung zwischen erlaubtem und unerlaubtem Verhalten. Denn der Beschuldigte hat nach Art. 6 Abs. 3 Buchst. c) MRK Anspruch auf konkrete und wirkliche Verteidigung, der ernsthaft gefährdet wäre, wenn der Verteidiger wegen einer Prozessual zulässigen Verteidigungstätigkeit selbst strafrechtlich verfolgt würde.

Prozessual zulässige Handlungen des Verteidigers können bereits nicht tatbestandsmäßig sein (vgl. Fischer, StGB, 69. Aufl., § 28 Rdnr. 17 m.w.N.). Eine sachgerechte Strafverteidigung setzt dabei voraus, dass der Beschuldigte weiß, worauf sich der gegen ihn erhobene Vorwurf stützt. Der Verteidiger ist deshalb in der Regel auch berechtigt und sogar verpflichtet, dem Beschuldigten zu Verteidigungszwecken mitzuteilen, was er, aus den Akten erfahren hat (vgl. L-R/Jahn, StPO, 27. Aufl., § 147 Rdnr. 141 m.w.N.). Im gleichen Umfang, wie er ihm den Akteninhalt mitteilen darf, ist er prozessual auch berechtigt, den Beschuldigten über das Verfahren zu unterrichten und ihm sogar Aktenauszüge und Abschriften aus den Akten, auszuhändigen (vgl. L-R/Jahn, a.a.O., m.w.N.). Ausnahmen kommen von diesem Grundsatz grundsätzlich nur in Betracht, wenn die Information des Mandanten zu verfahrensfremden Zwecken erfolgt oder der Untersuchungszweck gefährdet würde oder dies zu befürchten ist (vgl. BGHSt 29, 99, 103).

Dies ist aber stets von den. Umständen des Einzelfalles abhängig (so ausdrücklich BGH, a.a.O.), womit sich jegliche generalisierende Betrachtung von vornherein verbietet.

Deshalb wird in der Rechtsprechung zu Recht differenziert; ob der Verteidiger die weiter übermittelte Kenntnis des Bestehens eines von den Ermittlungsbehörden geheim gehaltenen Haftbefehls bzw. Haftbefehlsentwurfs in zulässiger, zufälliger oder unzulässiger Weise erlangt hat (vgl. OLG Hamburg, Beschluss vom 17.02.1987, Az. (33) 28/96 Ns, 51 Js 85/84, bei juris).

c) Anhaltspunkte dafür, dass Rechtsanwältin pp. in objektiv unlauterer Art Lind Weise, bspw. durch Täuschung, sich bei den Strafverfolgungsbehörden Kenntnis von dem Haftbefehlsentwurf verschafft hat, ergeben sich aus der Vorlage aber gerade nicht. Denn die teilt ausdrücklich mit, dass die Duploakten per Post an Rechtsanwältin pp. versandt worden. sind, „versehentlich“ mit dem Antrag der Staatsanwaltschaft Erfurt auf Erlass eines Haftbefehls, weshalb Rechtsanwältin pp. in zulässiger Weise Kenntnis von dem Haftbefehlsentwurf erhalten halt.

Die Auffassung, dass es einem Verteidiger schlechthin verboten ist, seinen Mandanten über drohende Zwangsmaßnahmen zu informieren und ihm etwa auch darauf gerichtete, aus den Akten ersichtliche. Schritte mitzuteilen, findet im Gesetz aber keinen Anhalt. Der Verteidiger ist auch als Organ der Rechtspflege in der Regel nicht gehalten, im Ablauf derartiger Maßnahmen der Staatsanwaltschaft oder dem: Gericht einschließlich seiner Geschäftsstelle unterlaufende Fehler (etwa hinsichtlich eines in den Akten befindlichen Haftbefehls) durch Geheimhaltung ihm durch Akteneinsicht .bekanntgewordener Vorgänge gegenüber seinem Mandanten auszugleichen (vgl. OLG Hamburg, a.a.O., bei juris .= BRAK-Mitt. 3/1987; S. 163 mit zust. Anm. Dahs; vgl. L-R/Jahn. a.a.O., § 147 Rdnr. 143 m.w.N.). Denn dies liefe darauf hinaus, dass der Verteidiger die Beurteilung. der Verfolgungsbehörde zu korrigieren hätte, die ja gegebenenfalls nach § 147 Abs. 2 Satz 1 StPO die Akteneinsicht grundsätzlich hätte verweigern dürfen. Das Gegenargument, die Akteneinsicht werde dem. Verteidiger im Vertrauen auf eine gewisse Solidarität mit der Strafverfolgungsbehörde gewährt, ist schon mit Blick auf die Entstehungsgeschichte nicht haltbar. Die Klausel des § 147 Abs. 2 StPO ist nämlich überhaupt nur deswegen in das Gesetz aufgenommen worden, weil als selbstverständlich untersteht worden ist, dass der Verteidiger seinen Mandanten über den Akteninhalt informieren werde (vgl. L-R/Jahn, a.a.O., § 147.Rdnr. 144 m.w.N.).

d) Selbst wenn – wie aber nach dem Vorgenannten nicht – anzunehmen wäre, dass die (auf das Vorhandensein eines etwaigen Haftbefehlsentwurfs ungeprüfte) Weiterleitung der zur Akteneinsicht übersandten Duploakte mit dem dort enthaltenen Haftbefehlsentwurf der Staatsanwaltschaft an den Beschuldigten die Grenze prozessualer Zulässigkeit – in deren Rahmen schon der objektive Tatbestand des § 258 StGB nicht erfüllt ist – überschritten hätte, wären nach dem im Vorlageantrag und -beschluss mitgeteilten Sachverhalt Feststellungen zur subjektiven Seite des Tatbestands des § 258 Abs. 1 und 4 StGB im Sinne einer Vereitelungsabsicht – an die bei einem Verteidigerhandeln erhöhte Beweisanforderungen zu stellen sind (vgl. BGHSt 46, 53) – nicht zu treffen. Soweit der. Vorlagebeschluss in Bezug auf die Erfüllung des subjektiven Tatbestands der versuchten Strafvereitelung hierzu ausführt, die Verteidigerin habe mit Absicht gehandelt, sie habe durch die – den Untersuchungszweck gefährdende – Weiterleitung .des in der seit 10.06.2021 in ihrem Besitz befindlichen Akte enthaltenen Entwurfs des Haftbefehls, von dessen Erlass sie habe ausgehen können, eine Besserstellung des Beschuldigten (sich der Festnahme für geraume Zeit zu entziehen) erstrebt, sind über die hier lediglich erfolgte Weiterleitung der den Haftbefehlsentwurf enthaltenden Verfahrensakte hinausgehende Tatsachen, aus denen sich eine solche Zielrichtung der Verteidigerin herleiten ließe, aus dem Vorlagebeschluss in Verbindung mit dem Antrag der Staatsanwaltschaft nicht ersichtlich. Abgesehen davon, dass schon nicht festzustellen ist, dass die Verteidigerin bei Weiterleitung Kenntnis von dem in der Duploakte; BI. 118 f., befindlichen Haftbefehlsentwurf gehabt hatte und sie auch nicht gehalten war, die ihr zur Akteneinsicht überlassene Duploakte vor Weiterleitung an den Beschuldigten auf darin ggfls. vorhandene Entscheidungsentwürfe einzusehen bzw. zu kontrollieren, bestehen Anhaltspunkte für eine Vereitelungsabsicht nicht. Denn soweit im Vorlagebeschluss darauf abgestellt wird, für eine solche spreche bereits der Umstand, dass – wie es der Fall war – allein die Kopie des aus zwei Seiten bestehenden Haftbefehlsentwurfs (und nicht auch weitere Aktenbestandteile/Kopien) arn.05.10.2021 in der Wohnung des Beschuldigten aufgefunden wurde, ist die hieraus gezogene Schlussfolgerung, die Verteidigerin habe allein die Kopie des Haftbefehlsentwurfs dem Beschuldigten übergeben/übersandt, keinesfalls zwingend und letztlich auch nicht ausreichend tatsachenbasiert. Denn das Vorbringen lässt die nicht fernliegende Möglichkeit gänzlich unberücksichtigt, dass dem Beschuldigten die komplette Verfahrensakte von Rechtsanwältin pp. elektronisch zur Verfügung gestellt worden ist und er sich selbst den Haftbefehlsantrag ausgedruckt hat.

Wie durch ihren Verteidiger mitgeteilt, erfolgte die Zurverfügungstellung der gesamten Verfahrensakten an den Beschuldigten durch Rechtsanwältin pp. (wie auch- sonst üblich) mittels „Webakte“, dergestalt, dass die Akte in der Kanzlei gescannt und über die Anwaltssoftware dem Beschuldigten an die für diesen hinterlegte Emailadresse gesandt worden ist, mit der sich daraus für diesen ergebenden Möglichkeit, Einsicht in die Akte zu nehmen, sie herunterzuladen und ggfls. auch (einzelne Seiten) auszudrucken.

Vor diesem Hintergrund hätte zur Schlüssigkeit des Ausschlussbegehrens eine nähere Darlegung der Umstände gehört, die der Verteidigerin vorwerfen ließen, außerhalb in ihrer Amtsführung liegender rechtmäßiger Erwägungen mit der Mitteilung des Haftbefehlsantrags an den Beschuldigten auf dessen Flucht im Sinne von § 258 StGB hingewirkt oder ihm dazu verholfen zu haben.“

Das OLG Jena reibt es der GStA, der StA und dem AG dann noch einmal – recht subtil, wie OLGs das können 🙂 , damit es auch jeder merkt,- unter die Nase:

„3. Der Senat hat entgegen dem im Übrigen obligatorischen § 138d Abs. 1 StPO ohne mündliche Verhandlung entschieden, was möglich ist, wenn – wie hier- die Vorlage mangels Schlüssigkeit bereits unzulässig ist (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 138d Rdnr. 1. m.w.N.).“

Also unzulässig. Deutlicher kann m.E. die Abfuhr kaum noch nicht ausfallen.

Man fragt sich dann, was GStA, StA und AG „geritten“ haben, die entschiedene Frage zum OLG zu tragen. Das ist ein nicht nur alter, sondern ein uralter Hut: Der Verteidiger darf Informationen aus der Akte an den Mandanten weitergeben. In den Fällen, in denen die Informationen „unredlich“ erlangt sind, mag etwas anderes gelten, aber das war hier nicht der Fall. Sondern: Es war die Dusseligkeit der StA, dass der Haftbefehlsentwurf der StA in der Akte geblieben ist, als man die der Kollegin übersandt hat. Anstatt sich dann verschämt in die Ecke zu stellen und lieber das Mäntelchen des Schweigens über den „Faux pas“ zu decken, hat man sich offenbar gedacht: Angriff ist der beste Weg der Verteidigung, machen wir doch aus dem ganzen ein „Verteidigerausschlussverfahren“.

Aber eben nicht mit dem OLG Jena, das sehr schön, die – seit langem vorliegende Rechtsprechung und Literatur zu der Frage zitiert und der GStA, der StA und dem AG „unter die Nase reibt“. Man fragt sich wirklich, ob man bei GStA, der StA und dem AG nichts anderes zu tun, als solche Anträge zu schreiben.

Also ganz klar: Daumen nach unten.

Allerdings geht dann doch ein herzliches Dankeschön an GStA, StA und AG. Denn sie haben durch ihre „unzulässige“ Vorlage dafür gesorgt, dass es mal wieder einen aktuellen Beschluss zu dieser Frage gibt. Nötig war der allerdings wegen der bisher schon einhelligen Meinung in Rechtsprechung und Literatur zu der Fallgestaltung nicht.

OWi I: Die Einsicht in die gesamte Messreihe, oder: OLG Stuttgart, AGe Bad Saulgau, Friedberg, Heiligenstadt

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Urheber Jepessen

Und dann heute vor dem Gebührentag am morgigen Freitag noch ein paar OWi-Entscheidungen.

Ich starte mit einem Posting zu Entscheidungen betreffend (Akten)Einsicht in Messdaten. Und da habe ich = stelle ich vor den OLG Stuttgart, Beschl. v. 12.10.2021 – 4 Rb Ss 25 Ss 1023/21 -, den mir der Kollege Gratz vom Verkehrsrechtsblog geschickt hat. Das OLG bejaht ein Einsichtsrecht:

„2. Die Rüge der Verletzung des fairen Verfahrens ist vorliegend erfolgreich. Die nicht gewährte Einsichtsmöglichkeit in die nicht bei den Akten befindliche gesamte Messreihe des Messtages an dem fraglichen Messort durch das Amtsgericht ist basierend auf der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit dem Recht auf ein faires Verfahren nicht vereinbar (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18, Rn. 51; Kammerbeschluss vom 4. Mai 2021 – 2 BvR 868/20, juris Rn. 5; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 16. Juli 2019 – 1 Rb 10 Ss 291/19, juris Rn. 28; Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 17. März 2021 – 1 OLG 331 SsBs 23/20, juris Rn. 15 mwN; Senat, Beschl. v. 3. August 2021 — 4Rb 12 Ss 1094/20 – juris).

Das Amtsgericht hat zu Unrecht den Antrag des Betroffenen auf Aussetzung der Hauptverhandlung und Verpflichtung der Verwaltungsbehörde zur Verfügungsstellung der Daten der gesamten Messreihe, die er für die Prüfung des Tatvorwurfs benötigt, durch Beschluss zurückgewiesen bzw. in der Hauptverhandlung nicht mehr beschieden und damit die Verteidigung unzulässig gemäß § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i. V. mit § 338 Nr. 8 StPO beschränkt.

Der Betroffene ist durch die Vorenthaltung der mit seiner verfahrensgegenständlichen Messung in Zusammenhang stehenden Messreihe in seinem Recht auf eine faire Verfahrensgestaltung (Art. 2 Abs. 1 GG i. V. mit Art. 20 Abs. 3 GG) verletzt worden. Aus diesem Recht ergibt sich für den Betroffenen ein Anspruch auf Zugang zu den nicht bei der Bußgeldakte befindlichen, aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen zu dem ihn betreffenden Messvorgang. Das Recht gewährleistet es dem Betroffenen, prozessuale Rechte und Möglichkeiten mit der erforderlichen Sachkunde selbständig wahrzunehmen, um Übergriffe staatlicher Stellen angemessen abwehren zu können (vgl. BVerfG NVZ 2021, S. 43). Er darf nicht zum bloßen Objekt eines Verfahrens gemacht werden, sondern muss die Möglichkeit haben, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen (BVerfGE 65, 171-174). Dazu gehört das Recht auf möglichst frühen und umfassenden Zugang zu Ermittlungsvorgängen und Beweismitteln, die zum Zwecke der Untersuchung anlässlich des Verfahrens entstanden sind, jedoch nicht zur Akte genommen worden sind und deren Beiziehung unter Aufklärungsgesichtspunkten vom Tatgericht nicht für erforderlich erachtet wurde. Dabei kann der Betroffene eines Bußgeldverfahrens gegenüber der Verwaltungsbehörde auch ohne Vorliegen konkreter Anhaltspunkte für Messfehler verlangen, Einsicht in bei ihr existierende weitere Unterlagen zur eigenen Überprüfung der Messung zu erhalten, da er ohne diese nicht beurteilen kann, ob – gerade im standardisierten Messverfahren – Beweisanträge zu stellen sind. Dass nach Auffassung der Physikalisch-Technischen-Prüfbehörde der Erkenntniswert durch die Statistikdatei, die gesamte Messreihe sowie die Annullationsrate in der amtlichen Geschwindigkeitsüberwachung gering sei, (vgl.https://www.ptb.de/cms/fileadminfinternet/fachabteilungen/abteilung_1/1.3_ki-nematik/1.31/downloads/PTB Stellungnahme_Statistikdatei_DOLpdf), trifft in dieser Allgemeinheit nicht zu, da bestimmte Auffälligkeiten der Messungen für einen Betroffenen bzw. den von diesem beauftragten Sachverständigen nur bei Betrachtung aller Aufnahmen und Daten ermittelbar sind (vgl. Cierniak, ZfS 2012, 664, 772). Im Übrigen unterliegt es allein der Einschätzung des Betroffenen und seiner Verteidigung, ob bestimmte Informationen für seine Recherchen von Bedeutung sein könnten (Thüringer OLG, aaO Rn. 21). Erst nach deren Erlangung kann er entscheiden, ob er seinen Einspruch gegen den Bußgeldbescheid aufrechterhalten und die weiteren Kosten und Gebühren des gerichtlichen Verfahrens einschließlich anwaltlichen Beistands auf sich nehmen will.

b) Soweit Bedenken bestehen, dass bei einer Einsicht in die gesamte Messreihe des Messtages Daten Dritter betroffen sind, kann dem durch eine Anonymisierung der Daten Rechnung getragen werden. Außerdem werden diese Messdaten lediglich an den Verteidiger als Organ der Rechtspflege sowie einen von diesem beauftragten Sachverständigen herausgegeben und damit datenschutzrechtliche Bedenken weiter verringert, da zu erwarten ist, dass die diesen übermittelten Daten nicht an Dritte weitergegeben werden. Daher muss bei dieser Verfahrensweise das Interesse der in den Falldateien der Messreihe er-fassten weiteren Verkehrsteilnehmer gegenüber dem aus dem fair-trial-Anspruch begründeten Einsichtsrecht des Betroffenen zurückstehen (vgl. zum Ganzen auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. Januar 1983 – 2 BvR 864/81, zitiert nach juris; OLG Karlsruhe, aaO Rn. 28; Thüringer Oberlandesgericht, aaO Rn. 25). Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass lediglich Foto und Kennzeichen, nicht aber die Fahrer- oder Halteranschrift der anderen Verkehrsteilnehmer übermittelt werden.“

Und dann habe ich noch:

Der Verteidiger hat als Vertreter des Betroffenen einen Anspruch auf Zugang zu den am Tattag an der ihn betreffenden Messstelle generierten Falldateien anderer Verkehrsteilnehmer. Diese Messreihe hat die Verwaltung an den Verteidiger zum Abruf über eine Internetverbindung bereitzustellen.

1. Eine unterlassene Beweismittelvervollständigung ist keine Maßnahme einer Behörde, die von dem Rechtsbehelf des § 62 OWiG umfasst wäre.

2. Ein Anspruch auf Herausgabe der gesamten Messreihe besteht nicht, da diese nicht aufgrund des konkreten Ermittlungsverfahrens entstanden ist.

Der Verteidiger des Betroffenen hat ein Recht auf Akteneinsicht, das sich auf alle Akten, Aktenteile und weitere Unterlagen oder Datenträger bezieht; auf die der Vorwurf in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht gestützt wird, aus denen sich der Schuldvorwurf ergeben soll und die möglicherwelse auch der Entlastung des Betroffenen dienen können. Das umfassende Akteneinsichtsrecht der Verteidigung ist außerdem auf dem Grundsatz des fairen Verfahrens begründet.

Akteneinsicht III: AE im Auslieferungsverfahren, oder: Reicht Akteneinsicht erst in Polen nach Überstellung?

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Das dritte Posting des Tages betrifft den OLG Celle, Beschl. v. 23.06.2021 – 2 AR (Ausl) 12/21. Der Beschluss ist im Auslieferungsverfahren ergangen. Es geht um die Frage, ob ein Auslieferungshindernis gemäß § 73 Satz 2 IRG vorliegt, wenn dem Verfolgten Akteneinsicht erst nach seiner Überstellung und seiner sich daran unverzüglich anschließenden Vernehmung im ersuchenden Staat – hier war es Polen –  gewährt werden soll. Das OLG sagt: Nein:

„bb) Der beantragten Zulässigkeitserklärung steht auch das Rechtshilfeverbot des § 73 IRG nicht entgegen.

(1) Grundsätzlich kann § 73 IRG der Zulässigkeit einer Auslieferung allerdings entgegenstehen, wenn der ersuchende Staat dem Verfolgten Akteneinsicht vollständig verweigert (vgl. BVerfG, Beschluss vom 4. Dezember 2019, 2 BvR 1832/19; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 27. November 2020, Ausl 301 AR 104/19, juris). Denn der Zugang zu den Ermittlungsakten ist eine Voraussetzung dafür, eine sachgerechte Verteidigung vorzubereiten und eine „Waffengleichheit“ im Strafverfahren zu ermöglichen; seine Verweigerung kann deshalb eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und 3 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) begründen (EGMR, Urteil vom 17.02.1997, NStZ 1998, 429). Ein solcher Verstoß würde zugleich eine Verletzung der Verteidigungsrechte des Beschuldigten aus Art. 48 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GrCh) darstellen, denn die Auslegung des Art. 6 EMRK ist gemäß Art. 52 Abs. 3 GrCh auch zur Bestimmung der Gewährleistung von Art. 48 GrCh heranzuziehen (vgl. EuGH, Urteil vom 06. November 2012, C-199/11).

Durch die Richtlinie 2012/13/EU wurden die mit Art. 6 EMRK und Art. 48 Abs. 2 GrCh garantierten Verteidigungsrechte durch detailliertere Bestimmungen konkretisiert (vgl. Erwägungsgrund 8 zur RL 2012/13/EU). Artikel 7 Abs. 1 dieser Richtlinie verpflichtet die Mitgliedsstaaten, einem Beschuldigten im Falle seiner Inhaftierung alle für die Anfechtung der Haft wesentlichen Unterlagen zur Verfügung zu stellen. Artikel 7 Abs. 2 und 3 der Richtlinie bestimmen ferner, dass dem Beschuldigten zur Vorbereitung seiner Verteidigung rechtzeitig Einsicht in die Beweismittel zu gewähren ist, spätestens mit Einreichung der Anklageschrift.

(2) Ein Verstoß gegen diese Verteidigungsrechte des Verfolgten liegt im vorliegenden Fall nicht vor.

Es ist im Lichte der europarechtlichen Regelungen nicht zu beanstanden, dass die p. Behörden dem Verfolgten während der Auslieferungshaft keine Einsicht in die Ermittlungsakten gewährt haben. Denn nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes gilt das Recht aus Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13/EU nicht für Personen, die zum Zwecke der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls festgenommen werden (EuGH, Urteil vom 28.01.2021, C-649/19).

Ein entsprechender Anspruch kann auch nicht unmittelbar aus Art. 6 EMRK oder Art. 48 Abs. 2 GrCh abgeleitet werden, denn diese stellen selbst – ebenso wenig wie Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13/EU – keine Vorgaben dazu auf, zu welchem Zeitpunkt dem Beschuldigten die Unterlagen zur Verfügung zu stellen sind. Auch der Europäische Gerichtshof geht deshalb davon aus, dass das Recht eines Beschuldigten auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz nicht allein deshalb verletzt ist, weil er erst nach seiner Übergabe an die zuständigen Behörden des um Auslieferung ersuchenden Staates Einsicht in die Verfahrensakte nehmen kann (EuGH, Urteil vom 28.01.2021, C-649/19).

(3) Eine Verletzung der Verteidigungsrechte des Verfolgten, die das Rechtshilfeverbot des § 73 Satz 2 IRG auslösen würde, ist auch in der Zeit nach seiner Übergabe an die p. Behörden nicht zu erwarten.

Denn die p. Behörden haben auf Nachfrage des Senats mitgeteilt, dass der Verfolgte in P. unverzüglich vernommen werden und ihm anschließend – unabhängig von seinem Aussageverhalten – Akteneinsicht gewährt werden wird. Nach der Erklärung der p. Behörden werden dabei alle möglichen Handlungen unternommen, um den Zeitraum bis zur Vernehmung möglichst kurz zu halten. Abhängig vom Ort der Überstellung, der Terminvereinbarung mit seinem Verteidiger und möglicher Infektionsschutzmaßnahmen solle dies nicht länger als 14 Tage dauern.

Dieses Vorgehen der p. Behörden begegnet zwar noch insoweit Bedenken, als dem Verfolgten auch während der in P. zu vollziehenden Untersuchungshaft zumindest bis zu seiner Vernehmung weiterhin keine Akteneinsicht gewährt werden soll und dadurch das in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13/EU vorgesehene Recht des Verfolgten berührt sein könnte.

Allerdings rechtfertigt nicht jeder Verstoß gegen Beschuldigtenrechte die Ablehnung von Rechtshilfe gemäß § 73 Satz 2 IRG. Im Rahmen einer europarechtskonformen Auslegung des Rechtshilfeverbots ist vielmehr die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zu berücksichtigen, der für die Ablehnung einer Auslieferung aufgrund eines Europäischen Haftbefehls verlangt, dass das Grundrecht auf ein faires Verfahren in seinem Wesensgehalt verletzt wird (EuGH, Urteil vom 25.07.2018, C-216/18; vgl. zu diesem Maßstab KG, Beschluss vom 03. April 2020, (4) 151 AuslA 201/19 (234/19), juris; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 14. Juni 2019, 4 AR 38/19, juris; OLG Bremen, Beschluss vom 07. September 2018, 1 Ausl A 31/18, juris).

Diese Rechtsprechung steht im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach Verstöße gegen Art. 6 EMRK nur ausnahmsweise von Verfassungs wegen ein Auslieferungshindernis begründen, namentlich wenn diese einer Zerstörung des Wesensgehalts des durch Art. 6 EMRK garantierten Rechts gleichkommen (BVerfG, Beschluss vom 26. Februar 2018, 2 BvR 107/18; BVerfG, Beschluss vom 04. Dezember 2019, 2 BvR 1832/19). Im Hinblick auf die Beschränkung von Akteneinsicht hat das Bundesverfassungsgericht dies im Falle einer vollständigen Verweigerung von Akteneinsicht in einem Strafverfahren für möglich gehalten (BVerfG, Beschluss vom 04. Dezember 2019, 2 BvR 1832/19).

Hieran gemessen kann das von den p. Behörden angekündigte Vorgehen ein Rechtshilfeverbot gemäß § 73 Satz 2 IRG nicht begründen. Denn sie beabsichtigen nicht, dem Verfolgten die Akteneinsicht vollständig zu verweigern. Absehbar ist vielmehr eine um höchstens zwei Wochen verzögerte Gewährung von Akteneinsicht. Eine solche Verzögerung verletzt selbst dann, wenn sie gegen Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13/EU verstößt, nicht den Wesensgehalt der Verfahrensrechte des Verfolgten aus Art. 6 EMRK und Art. 48 Abs. 2 GrCh. Denn der Verfolgte behält trotz der Verzögerung die Gelegenheit, seine Verteidigung vor Beginn des Hauptverfahrens aufgrund einer vollständigen Akteneinsicht vorzubereiten, und damit sein in Art. 7 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2012/13/EU konkretisiertes bedeutsames Verteidigungsrecht. Der von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13/EU konkretisierte Teilaspekt seines Verteidigungsrechts, gegen die Haftanordnung vorzugehen, kann durch das absehbare Vorgehen demgegenüber zwar in zeitlicher Hinsicht beeinträchtigt sein. Die kurze Dauer des bis zur Vernehmung des Verfolgten vergehenden Zeitraums spricht dabei aber dagegen, dies als wesentliche Beeinträchtigung seines über diesen Gesichtspunkt deutlich hinausgehenden Rechts aus Art. 6 EMRK und Art. 48 Abs. 2 GrCh anzusehen. Dies gilt umso mehr, als die p. Behörden um eine Beschleunigung bemüht sind und der Vernehmungstermin maßgeblich von Umständen außerhalb des behördlichen Einflussbereichs mitbestimmt wird. Da zudem die Akteneinsicht nach Mitteilung der p. Behörden auch unabhängig vom Aussageverhalten des Verfolgten gewährt wird, ist eine den Wesensgehalt seiner Verteidigungsrechte berührende Verschlechterung seiner Stellung infolge der Verzögerung insgesamt nicht anzunehmen.“

Akteneinsicht II: 4 x zur AE im Bußgeldverfahren, oder: Umfang, Einstellung, Umformatierung, Rohmessdaten

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Vor ein paar Jahren habe ich  bald wöchentlich über Fragen der Akteneinsicht im Bußgeldverfahren berichtet. Inzwischen haben sich manche Probleme zu dem Themenkreis erledigt, andere sind hinzu gekommen. Insgesamt steht das Thema nicht mehr so im Vordergrund, wenn auch die OLG weitgehend nach wie vor mauern und versuchen, die Rechtsprechung der VerfG zu umgehen. In dem Zusammenhang warten alle auf die vom BVerfG angekündigte zweite Entscheidung (2 BvR 1167/20).

Ich habe hier heute dann mal wieder einige AG-Entscheidungen, die mir Kollegen zu der Problematik in der letzten Zeit geschickt haben. Die stelle ich der Vollständigkeit halber, aber auch, um mal wieder das Problem zu erinnern, vor:

Dem Betroffenen steht aus dem Recht auf faire Verfahrensgestaltung ein Anspruch auf Einsicht in die Messserie des Tattages sowie in die gegenständliche xml-Datei nebst Überlassung von Passwort und Token zu.

Ermöglicht es die Verwaltungsbehörde dem Gericht für die Dauer des Verfahrens nicht die Bedienungsanleitung des Gerätes ausreichend zur Kenntnis zu nehmen, sie zur Akte zu nehmen und untersagt sie auch ein Kopieren, so ist die Messung nicht prüfbar. Das Verfahren kann nach § 47 OWiG eingestellt werden.

Dem Akteneinsichtsrecht im Bußgeldverfahren wird damit genüge getan, dass die Verwaltungsbehörde der Verteidigung eine Kopie des gesamten Originalmessfilms im sbt-Format zur Verfügung stellt. Es existiert weder ein Recht noch eine Verpflichtung der Verwaltungsbehörde, die sich bei den Akten befindlichen Datenträger bzw. die darauf befindlichen Daten durch eine Umformatierung abzuändern.

Auch unter Beachtung der Entscheidung des BVerfG vom 12.11.2020 (2 BvR 1616/18) steht dem Betroffenen ein Recht auf Zugang zu, außerhalb der Akte befindlichen Informationen, insbesondere der vollständigen Rohmessdaten der Messreihe nicht zu.

Akteneinsicht I: Akteneinsicht für die Nebenklägerin?, oder: Umfang der Akteneinsicht und rechtliches Gehör

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Heute dann mal ein Tag der „Akteneinsichtsentscheidungen“, und zwar quer Beet, also Straf-, Bußgeld- und Auslieferungsverfahren.

Ich beginne mit dem Strafverfahren und stelle zunächst drei Entscheidungen zur Akteneinsicht des Nebenklägers/Verletzten vor, und zwar:

Beim AG Tiergarten ist ein Verfahren mit dem Vorwurf der Vergewaltigung anhängig. In dem hat das AG mit dem AG Tiergarten, Beschl. v. 11.10.2021 – (255 Ls) 284 Js 4525/19 – der Nebenklägerin in einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation vollständige Akteneinsicht gewährt. Dagegen die Beschwerde des Angeklagten. Das LG gewährt dann mit dem LG, Beschl. v. 03.11.2021 – 538 Qs 131/21 – nur beschränkte Akteneinsicht:

„Gemäß § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO kann dem durch eine Straftat Verletzten, die Akteneinsicht unter anderem dann versagt werden, wenn und soweit der Untersuchungszweck gefährdet erscheint. Dies ist grundsätzlich auch nach Erhebung der öffentlichen Klage möglich (vgl: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Auflage 2019, § 406e Rn. 11).

Die Möglichkeit, dass durch die Aktenkenntnis des Verletzten eine. auf den Akteninhalt präparierte Zeugenaussage folgt, reicht für die Annahme einer Gefährdung des Untersuchungszwecks noch nicht aus, Bei Aussage gegen Aussage Konstellationen ist jedoch durch die Aktenkenntnis des Verletzten regelmäßig eine Beeinträchtigung der gerichtlichen Sachaufklärung (§ 244 Abs, 2 StPO) zu besorgen, weil die Kenntnis des Verletzten vom Akteninhalt die Zuverlässigkeit und den Wahrheitsgehalt der Zeugenaussage beeinträchtigen kann (vgl. Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Beschluss vom 22. Juli 2015 — 1 Ws 88/15 —) und die Beurteilung im Hinblick auf die Konstanz der Aussage als wesentliches Glaubhaftigkeitskriterium erschwert. In diesen Fällen ist jedenfalls eine unbeschränkte Akteneinsicht des Verletzten mit der gerichtlichen Pflicht zur bestmöglichen Sachaufklärung unvereinbar (vgl. Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg a.a.O.).

Jedoch bedeutet dies nicht, dass der Nebenklägerin die Akteneinsicht gänzlich zu versagen ist. Mildere Mittel, die diese Besorgnis hinreichend ausräumen, sind vorrangig zu prüfen. Insoweit genügt es, die Versagung der Akteneinsicht lediglich. auf die Protokolle der Vernehmung der Nebenklägerin zu beschränken (vgl. Kammergericht, Beschluss vom 5. Oktober 2016 -. 3 Ws 517/16 — m.w.N.).

Die unbeschränkte Akteneinsicht ist daher im derzeitigen Verfahrensstadium zu versagen, bleibt aber zu einem späteren Zeitpunkt (nach Abschluss der Vernehmung der Nebenklägerin im gerichtlichen Verfahren) unbenommen.“

Zu dieser ganzen Problematik gibt es ja auch eine umfangreiche Rechtsprechung des BVerfG, das sich jetzt gerade erst im BVerfG, Beschl. v. 08.10.2021 – 1 BvR 2192/21 – noch einmal geäußert hat, allerdings „nur“ im Rahmen einer Entscheidung über den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Das BVerfG weist aber schon in dieser Entscheidu ng auf seine bisherige Rechtsprechung hin, so dass nach wie vor folgendern Leitsatz gilt:

„Die Gewährung von Akteneinsicht nach § 406e Abs. 1 StPO ist regelmäßig mit einem Eingriff in Grundrechtspositionen des Beschuldigten, namentlich in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gemäß Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG, verbunden. Die Staatsanwaltschaft ist vor Gewährung der Akteneinsicht deshalb zu einer Anhörung des von dem Einsichtsersuchen betroffenen Beschuldigten verpflichtet. Die unterlassene Anhörung stellt einen schwerwiegenden Verfahrensfehler dar, der durch die Durchführung des Verfahrens auf gerichtliche Entscheidung nicht geheilt werden kann.