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Akteneinsicht III: AE im Auslieferungsverfahren, oder: Reicht Akteneinsicht erst in Polen nach Überstellung?

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Das dritte Posting des Tages betrifft den OLG Celle, Beschl. v. 23.06.2021 – 2 AR (Ausl) 12/21. Der Beschluss ist im Auslieferungsverfahren ergangen. Es geht um die Frage, ob ein Auslieferungshindernis gemäß § 73 Satz 2 IRG vorliegt, wenn dem Verfolgten Akteneinsicht erst nach seiner Überstellung und seiner sich daran unverzüglich anschließenden Vernehmung im ersuchenden Staat – hier war es Polen –  gewährt werden soll. Das OLG sagt: Nein:

„bb) Der beantragten Zulässigkeitserklärung steht auch das Rechtshilfeverbot des § 73 IRG nicht entgegen.

(1) Grundsätzlich kann § 73 IRG der Zulässigkeit einer Auslieferung allerdings entgegenstehen, wenn der ersuchende Staat dem Verfolgten Akteneinsicht vollständig verweigert (vgl. BVerfG, Beschluss vom 4. Dezember 2019, 2 BvR 1832/19; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 27. November 2020, Ausl 301 AR 104/19, juris). Denn der Zugang zu den Ermittlungsakten ist eine Voraussetzung dafür, eine sachgerechte Verteidigung vorzubereiten und eine „Waffengleichheit“ im Strafverfahren zu ermöglichen; seine Verweigerung kann deshalb eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und 3 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) begründen (EGMR, Urteil vom 17.02.1997, NStZ 1998, 429). Ein solcher Verstoß würde zugleich eine Verletzung der Verteidigungsrechte des Beschuldigten aus Art. 48 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GrCh) darstellen, denn die Auslegung des Art. 6 EMRK ist gemäß Art. 52 Abs. 3 GrCh auch zur Bestimmung der Gewährleistung von Art. 48 GrCh heranzuziehen (vgl. EuGH, Urteil vom 06. November 2012, C-199/11).

Durch die Richtlinie 2012/13/EU wurden die mit Art. 6 EMRK und Art. 48 Abs. 2 GrCh garantierten Verteidigungsrechte durch detailliertere Bestimmungen konkretisiert (vgl. Erwägungsgrund 8 zur RL 2012/13/EU). Artikel 7 Abs. 1 dieser Richtlinie verpflichtet die Mitgliedsstaaten, einem Beschuldigten im Falle seiner Inhaftierung alle für die Anfechtung der Haft wesentlichen Unterlagen zur Verfügung zu stellen. Artikel 7 Abs. 2 und 3 der Richtlinie bestimmen ferner, dass dem Beschuldigten zur Vorbereitung seiner Verteidigung rechtzeitig Einsicht in die Beweismittel zu gewähren ist, spätestens mit Einreichung der Anklageschrift.

(2) Ein Verstoß gegen diese Verteidigungsrechte des Verfolgten liegt im vorliegenden Fall nicht vor.

Es ist im Lichte der europarechtlichen Regelungen nicht zu beanstanden, dass die p. Behörden dem Verfolgten während der Auslieferungshaft keine Einsicht in die Ermittlungsakten gewährt haben. Denn nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes gilt das Recht aus Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13/EU nicht für Personen, die zum Zwecke der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls festgenommen werden (EuGH, Urteil vom 28.01.2021, C-649/19).

Ein entsprechender Anspruch kann auch nicht unmittelbar aus Art. 6 EMRK oder Art. 48 Abs. 2 GrCh abgeleitet werden, denn diese stellen selbst – ebenso wenig wie Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13/EU – keine Vorgaben dazu auf, zu welchem Zeitpunkt dem Beschuldigten die Unterlagen zur Verfügung zu stellen sind. Auch der Europäische Gerichtshof geht deshalb davon aus, dass das Recht eines Beschuldigten auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz nicht allein deshalb verletzt ist, weil er erst nach seiner Übergabe an die zuständigen Behörden des um Auslieferung ersuchenden Staates Einsicht in die Verfahrensakte nehmen kann (EuGH, Urteil vom 28.01.2021, C-649/19).

(3) Eine Verletzung der Verteidigungsrechte des Verfolgten, die das Rechtshilfeverbot des § 73 Satz 2 IRG auslösen würde, ist auch in der Zeit nach seiner Übergabe an die p. Behörden nicht zu erwarten.

Denn die p. Behörden haben auf Nachfrage des Senats mitgeteilt, dass der Verfolgte in P. unverzüglich vernommen werden und ihm anschließend – unabhängig von seinem Aussageverhalten – Akteneinsicht gewährt werden wird. Nach der Erklärung der p. Behörden werden dabei alle möglichen Handlungen unternommen, um den Zeitraum bis zur Vernehmung möglichst kurz zu halten. Abhängig vom Ort der Überstellung, der Terminvereinbarung mit seinem Verteidiger und möglicher Infektionsschutzmaßnahmen solle dies nicht länger als 14 Tage dauern.

Dieses Vorgehen der p. Behörden begegnet zwar noch insoweit Bedenken, als dem Verfolgten auch während der in P. zu vollziehenden Untersuchungshaft zumindest bis zu seiner Vernehmung weiterhin keine Akteneinsicht gewährt werden soll und dadurch das in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13/EU vorgesehene Recht des Verfolgten berührt sein könnte.

Allerdings rechtfertigt nicht jeder Verstoß gegen Beschuldigtenrechte die Ablehnung von Rechtshilfe gemäß § 73 Satz 2 IRG. Im Rahmen einer europarechtskonformen Auslegung des Rechtshilfeverbots ist vielmehr die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zu berücksichtigen, der für die Ablehnung einer Auslieferung aufgrund eines Europäischen Haftbefehls verlangt, dass das Grundrecht auf ein faires Verfahren in seinem Wesensgehalt verletzt wird (EuGH, Urteil vom 25.07.2018, C-216/18; vgl. zu diesem Maßstab KG, Beschluss vom 03. April 2020, (4) 151 AuslA 201/19 (234/19), juris; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 14. Juni 2019, 4 AR 38/19, juris; OLG Bremen, Beschluss vom 07. September 2018, 1 Ausl A 31/18, juris).

Diese Rechtsprechung steht im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach Verstöße gegen Art. 6 EMRK nur ausnahmsweise von Verfassungs wegen ein Auslieferungshindernis begründen, namentlich wenn diese einer Zerstörung des Wesensgehalts des durch Art. 6 EMRK garantierten Rechts gleichkommen (BVerfG, Beschluss vom 26. Februar 2018, 2 BvR 107/18; BVerfG, Beschluss vom 04. Dezember 2019, 2 BvR 1832/19). Im Hinblick auf die Beschränkung von Akteneinsicht hat das Bundesverfassungsgericht dies im Falle einer vollständigen Verweigerung von Akteneinsicht in einem Strafverfahren für möglich gehalten (BVerfG, Beschluss vom 04. Dezember 2019, 2 BvR 1832/19).

Hieran gemessen kann das von den p. Behörden angekündigte Vorgehen ein Rechtshilfeverbot gemäß § 73 Satz 2 IRG nicht begründen. Denn sie beabsichtigen nicht, dem Verfolgten die Akteneinsicht vollständig zu verweigern. Absehbar ist vielmehr eine um höchstens zwei Wochen verzögerte Gewährung von Akteneinsicht. Eine solche Verzögerung verletzt selbst dann, wenn sie gegen Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13/EU verstößt, nicht den Wesensgehalt der Verfahrensrechte des Verfolgten aus Art. 6 EMRK und Art. 48 Abs. 2 GrCh. Denn der Verfolgte behält trotz der Verzögerung die Gelegenheit, seine Verteidigung vor Beginn des Hauptverfahrens aufgrund einer vollständigen Akteneinsicht vorzubereiten, und damit sein in Art. 7 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2012/13/EU konkretisiertes bedeutsames Verteidigungsrecht. Der von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13/EU konkretisierte Teilaspekt seines Verteidigungsrechts, gegen die Haftanordnung vorzugehen, kann durch das absehbare Vorgehen demgegenüber zwar in zeitlicher Hinsicht beeinträchtigt sein. Die kurze Dauer des bis zur Vernehmung des Verfolgten vergehenden Zeitraums spricht dabei aber dagegen, dies als wesentliche Beeinträchtigung seines über diesen Gesichtspunkt deutlich hinausgehenden Rechts aus Art. 6 EMRK und Art. 48 Abs. 2 GrCh anzusehen. Dies gilt umso mehr, als die p. Behörden um eine Beschleunigung bemüht sind und der Vernehmungstermin maßgeblich von Umständen außerhalb des behördlichen Einflussbereichs mitbestimmt wird. Da zudem die Akteneinsicht nach Mitteilung der p. Behörden auch unabhängig vom Aussageverhalten des Verfolgten gewährt wird, ist eine den Wesensgehalt seiner Verteidigungsrechte berührende Verschlechterung seiner Stellung infolge der Verzögerung insgesamt nicht anzunehmen.“

StPO I: Befangeheitsantrag des Angeklagten, oder: Nach dem letzten Wort absolut ausgeschlossen

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Heute dann Entscheidungen zum (Straf)Verfahren, also zur StPO.

Ich beginne mit dem BGH, Beschl. v. 25.05.2021 – 5 StR 482/20. Der BGH nimmt in dem Beschluss (noch einmal) zum spätesten Zeitpunkt für eine Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit Stellung:

„3. Die von beiden Angeklagten erhobene Rüge der Verletzung von § 338 Nr. 3 StPO, die auf ein nach der mündlichen Urteilsverkündung außerhalb der Hauptverhandlung gestelltes, gegen die Berufsrichter und die Schöffen gerichtetes Befangenheitsgesuch des Angeklagten B. gestützt wird, dem sich die Verteidigung des Angeklagten S. angeschlossen hatte, geht fehl.

Die Beschwerdeführer haben das Befangenheitsgesuch damit zu begründen gesucht, dass die von der Vorsitzenden der Strafkammer in der Urteilsbegründung geäußerte Einschätzung, „der Zoll habe alles sehr gut gemacht“ und „sich professionell verhalten“, sich als „objektiv und subjektiv willkürlich“ darstelle und deshalb die Besorgnis begründe, „die abgelehnten Richterinnen hätten die erforderliche Distanz, Neutralität und Unparteilichkeit auch sonst vermissen lassen.“ Dieses Befangenheitsgesuch hat die Strafkammer – unter Mitwirkung der abgelehnten Berufsrichterinnen – in der außerhalb der Hauptverhandlung zuständigen Kammerbesetzung zu Recht ohne Sachprüfung verworfen, weil Befangenheitsgesuche nach dem letzten Wort des Angeklagten absolut ausgeschlossen und damit unzulässig sind (§ 25 Abs. 2 Satz 2 StPO, vgl. KKStPO/Scheuten, 8. Aufl., § 25 Rn. 11 mwN).

Soweit in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs vereinzelt erwogen worden ist, ob es in Fällen einer deutlich zu Tage getretenen Voreingenommenheit möglich sei, von diesem Grundsatz durch eine einschränkende Auslegung der Vorschrift abzuweichen, wenn Ablehnungsgründe erst nach dem letzten Wort entstanden oder bekannt geworden seien und anders „unerträgliche Ergebnisse“ nicht vermieden werden könnten (BGH, Urteil vom 7. September 2006 – 3 StR 277/06, bei Cierniak, NStZ-RR 2009, 1, 2), liegen – ungeachtet der Frage ob eine solche einschränkende Auslegung angesichts des eindeutigen entgegenstehenden Wortlauts von § 25 Abs. 2 Satz 2 StPO überhaupt in Betracht kommen kann – die in der zitierten Entscheidung skizzierten Voraussetzungen nicht ansatzweise vor: Die Beschwerdeführer begründen ihre Ablehnung im Kern mit der von der Strafkammer im Urteil vorgenommenen Beweiswürdigung. Diese kann denknotwendig keine „Voreingenommenheit“ der an der Urteilsfindung beteiligten Richter zum Ausdruck bringen, ist es doch gerade die Aufgabe des Tatgerichts, über das Ergebnis der Beweisaufnahme nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung geschöpften – und folglich zwingend spätestens in der Urteilsberatung zu bildenden – Überzeugung zu entscheiden (§ 261 StPO). Der Ort für die Darlegung dieser Überzeugungsbildung ist das Urteil (§ 267 Abs. 1 StPO), der Zeitpunkt dafür ist derjenige der Urteilsverkündung (§ 268 Abs. 2 StPO). Das Landgericht hat mithin seine ihm von der Strafprozessordnung aufgegebene Verpflichtung erfüllt, indem es die Beweise im Urteil gewürdigt hat, ohne dass – auch nach deren Vorbringen – etwa unnötige oder sachlich unzutreffende Werturteile über die Beschwerdeführer in der Begründung enthalten gewesen wären (vgl. dazu Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 24 Rn. 13a mwN). Anhaltspunkte, die die Besorgnis der Befangenheit begründen könnten, sind deshalb unter keinem denkbaren rechtlichen Gesichtspunkt ersichtlich. Dass die Angeklagten sich ein anderes Ergebnis gewünscht haben mögen bzw. die Beweise anders gewürdigt hätten, ändert daran nichts.

Aus den genannten Gründen wäre das Befangenheitsgesuch im Übrigen auch nach § 26a Abs. 1 Nr. 2 StPO unzulässig, weil die Begründung – auch eingedenk des dabei anzuwendenden strengen Maßstabs – aus zwingenden rechtlichen Gründen völlig ungeeignet ist, was dem vollständigen Fehlen einer Begründung gleichsteht (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 26a Rn. 4a mwN).“

Verzögerungsrüge, oder: Auch bei mehr als vier Jahre Dauer des Berufungsverfahrens feilscht man noch

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Im „Kessel Buntes“ stelle ich dann zunächst das BGH, Urt. v. 26.11.2020 – III ZR 61/20 – vor. Schon etwas älter, aber erst jetzt veröffentlicht.

Gegenstand des Verfahrens war eine Entschädigung nach den §§ 198, 199 GVG, also nach bzw. in Zusammenhang mit einer Verzögerungsrüge. Geltend gemacht wurde die wegen überlanger Dauer eines zivilrechtlichen Berufungsverfahrens.

Die Klägerin hatte im Jahr 2015 einen Zivilrechtsstreit vor dem LG Hamburg geführt, das ihr mit Urteil vom 02.09.2015 einen Betrag von 55.000 EUR nebst Zinsen zusprach. Dagegen legte der damalige Beklagte Berufung beim OLG Hamburg ein, die er mit Schriftsatz vom 09.11.2015 mit dem Ziel einer vollständigen Klageabweisung begründete. Die Klägerin erwiderte unter dem 14.12.2015 auf das Berufungsvorbringen. Mit Schriftsatz vom 29.02.2016 bat sie unter Hinweis auf das Datum der Berufungserwiderung um einen Sachstandsbericht. Daraufhin teilte das Berufungsgericht ihr mit richterlicher Verfügung vom 02.03.2016 mit, dass wegen zeitlich vorrangig zu bearbeitender Eilverfahren und älterer Verfahren mit einer Förderung der Sache vor dem vierten Quartal 2017 nicht gerechnet werden könne. Der Senat sei jedoch bemüht, die Bearbeitung schon vorher in Angriff zu nehmen.

Unter dem 22.12.2016 übersandte die Klägerin die Kopie einer Anklageschrift gegen den damaligen Beklagten und bat um eine möglichst zeitnahe Terminierung. Da auch nach Ablauf des vierten Quartals 2017 eine Förderung des Verfahrens durch das Berufungsgericht nicht feststellbar war, wies die Klägerin mit Schriftsatz vom 22.05.2018 unter Bezugnahme auf die am 29.08.2017 erfolgte endgültige Einstellung des Strafverfahrens gegen den Beklagten nach Zahlung einer Geldauflage auf die Entscheidungsreife des Berufungsverfahrens und dessen „enorme Verfahrensdauer“ hin. Dabei verband sie die Spiegelstrichauflistung des bisherigen Verfahrensgangs mit der erneuten Bitte um eine zeitnahe Terminierung.

Mit Verfügung vom 06.08.2018, die sich mit einer weiteren Sachstandsanfrage der Klägerin unter dem 09.08.2018 überschnitt, erteilte das Berufungsgericht den Parteien den Hinweis, dass der Senat beabsichtige, die Berufung des Beklagten (des Ausgangsverfahrens) durch einstimmigen Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil das Rechtsmittel offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg habe. Die dem Berufungskläger eingeräumte Stellungnahmefrist bis zum 24.08.2018 ließ dieser ungenutzt verstreichen.

Da eine mit Schriftsatz der Klägerin vom 09.10.2018 vorgetragene dringende Bitte um kurzfristigen Abschluss des Verfahrens fruchtlos blieb, rügte die Klägerin unter dem 28.03.2019 mit ausführlicher Begründung die dreieinhalbjährige Dauer des Berufungsverfahrens gemäß § 198 Abs. 3 Satz 1 GVG und behielt sich einen Entschädigungsanspruch nach § 198 GVG ausdrücklich vor. Mit Beschluss vom 02.12.2019 wies das Oberlandesgericht schließlich die Berufung des Beklagten gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurück.

Die Klägerin ist der Auffassung, dass das Berufungsverfahren jedenfalls seit Oktober 2017 unangemessen verzögert worden sei und ihr deshalb eine Entschädigung für immaterielle Nachteile in Höhe von mindestens 2.300 € (nebst Zinsen) zustehe.

Die Beklagte ist dem entgegengetreten. Die geltend gemachte Entschädigungsforderung scheitere daran, dass die Verzögerungsrüge vom 28.032019 keine Rückwirkung bis Oktober 2017 entfalten könne (Hinweis auf BFHE 253, 205).

Das Oberlandesgericht hat die Beklagte unter Klageabweisung im Übrigen zur Zahlung von 2.200 € (nebst Zinsen) verurteilt und die Revision zugelassen. Die Beklagte verfolgt mit der Revision ihren Klageabweisungsantrag weiter, soweit sie zur Zahlung eines Betrages von mehr als 800 € (nebst Zinsen) verurteilt worden ist.

Die Revision beim BGH hatte keinen Erfolg.

Der BGH verwendet auf die Frage der Unangemessenheit der Dauer des Berufungsverfahrens in seinem Urteil nicht viel Platz und führt  nur kurz – und zutreffend – aus, dass „diese Verfahrensweise (objektiv) nicht mehr verständlich.“ M.E. noch nett. Man hätte auch schreiben können: „unverschämt“.

Im Übrigen nimmt er zu den Anforderungen an die Verzögerungsrüge wie folgt Stellung:

1. § 198 Abs. 3 Satz 1 GVG stellt keine besonderen Anforderungen an die Form oder den Mindestinhalt einer Verzögerungsrüge, sondern verlangt lediglich, dass die „Dauer des Verfahrens gerügt“ wird. Daraus folgt, dass auch eine nicht ausdrücklich als „Verzögerungsrüge“ bezeichnete Äußerung eines Verfahrensbeteiligten im Wege der Auslegung als Verzögerungsrüge anzusehen ist, wenn sich ihr nur entnehmen lässt, dass der Beteiligte die Dauer des Verfahrens beanstandet oder in sonstiger Weise zum Ausdruck bringt, mit der Verfahrensdauer nicht einverstanden zu sein.

2. Ein Anlass zur Besorgnis im Sinne des § 198 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 1 GVG ist gegeben, wenn ein Betroffener erstmals Anhaltspunkte dafür hat, dass das Ausgangsverfahren keinen angemessen zügigen Fortgang nimmt. Auf ein rein subjektives Empfinden des Verfahrensbeteiligten kommt es hierbei nicht an. Vielmehr müssen objektiveGründe vorliegen, die bei vernünftiger Betrachtungsweise geeignet sind, zu einer unangemessenen Verfahrensdauer zu führen, ohne dass ein allzu strenger Maßstab angelegt werden darf (Bestätigung und Fortführung des Senatsurteils vom 21.05.2014 III ZR 355/13, NJW 2014, 2443).

Und: Bei einer wirksam gegenüber dem mit der Sache befassten Ausgangsgericht erhobenen Verzögerungsrüge ist auch der vor dem Rügezeitpunkt liegende Zeitraum in die Entschädigungsprüfung einzubeziehent. Daran ändert auch der Umstand nichts zu ändern, dass die Verzögerungsrüge später – hier erst rund acht Monate nach Eintritt der Überlänge des Verfahrens – erhoben worden ist.

Mich wundert immer, warum und wieso eigentlich die Justizverwaltungen bei solchen Verfahrensabläufen – Entscheidung im Berufungsverfahren mehr als vier Jahre nach dem erstinstanzlichen Urteil – noch um die Entschädigung feilschen müssen. Auch das ist peinlich.

OWi III: Beschlussverfahren, oder: War der Widerspruch gegen das Beschlussverfahren rechtzeitig?

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Und die dritte und letzte Entscheidung des Tages kommt auch aus Bayern. Im BayObLG, Beschl. v. 10.11.2020 – 201 ObOWi 1369/20 – geht es mal wieder um das Beschlussverfahren (§ 72 OWiG), und zwar um den richtigen Zeitpunkt.

Das AG hat den Betroffenen wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung durch Urteil verurteilt. Der Betroffene macht dagegen geltend, die Voraussetzungen für eine Entscheidung ohne Hauptverhandlung hätten nicht vorgelegen, da er einem solchen Verfahren rechtzeitig widersprochen habe. Das BayObLG sieht das auch so:

„Die gemäß § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Nr. 5 OWiG statthafte und im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde des Betroffenen hat – zumindest vorläufig – Erfolg. Die in noch zulässiger Weise angebrachte Rüge, das Amtsgericht habe durch Beschluss entschieden, obwohl der Betroffene diesem Verfahren rechtzeitig widersprochen habe, (§ 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 OWiG), trifft zu. Das Amtsgericht hat ohne Hauptverhandlung entschieden, obwohl die gesetzlichen Voraussetzungen für das Beschlussverfahren nicht vorgelegen haben.

1. Nach § 72 Abs. 1 Satz 1 OWiG kann das Gericht, wenn es eine Hauptverhandlung nicht für erforderlich hält, durch Beschluss entscheiden, wenn der Betroffene und die Staatsanwaltschaft diesem Verfahren nicht widersprechen. Allerdings hatte der Betroffene bereits mit Einlegung des Einspruchs durch Schriftsatz seines Verteidigers vom 07.01.2020 einer Entscheidung im Beschlusswege ausdrücklich widersprochen. Die von dem Amtsgericht gewählte Verfahrensart verstößt damit gegen § 72 Abs. 1 Satz 1 OWiG, sodass die angefochtene Entscheidung keinen Bestand haben kann.

2. Der Betroffene musste auf die Verfügung des Amtsgerichts vom 07.07.2020 auch nicht erneut widersprechen. Nach einhelliger obergerichtlicher Rechtsprechung wird ein bereits vor dem Hinweis nach § 72 Abs.1 Satz 2 OWiG ausdrücklich oder schlüssig erklärter Widerspruch gegen eine Entscheidung ohne Hauptverhandlung nicht dadurch gegenstandslos, dass der Betroffene auf den späteren Hinweis schweigt oder die ausdrückliche Anfrage des Gerichts, ob dem schriftlichen Verfahren widersprochen werde, unbeantwortet lässt (vgl. u.a. OLG Bremen Beschl. v. 04.09.2014 – 1 SsBs 42/14 = BeckRS 2014, 23000; OLG Hamm, Beschl. v. 10.06.2013 – 1 RBs 57/13 = ZfSch 2013, 653; OLG Schleswig, Beschl. v. 09.02.2004 – 1 Ss OWi 26/04 = NJW 2004, 3133 = StraFo 2004, 390 = NZV 2005, 110 = NStZ 2004, 701; OLG Jena, Beschl. v. 20.01.2006 – 1 Ss 298/05 = VRS 111, 143; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 06.03.1989 – 1 Ss 42/89 = VRS 76 [1989], 449 = MDR 1989, 936 = ZfSch 1990, 324 sowie BayObLG, Beschl. v. 27.07.1994 – 2 ObOWi 351/94 = BayObLGSt 1994, 128 = NZV 1994, 492 = VRS 88 [1995], 61). Insbesondere kann der Widerspruch auch bereits gegenüber der Verwaltungsbehörde – etwa mit dem Einspruch gegen den Bußgeldbescheid – wirksam erklärt werden, wobei er seine Sperrwirkung gegen das schriftliche Verfahren erst mit Eingang bei Gericht entfaltet (OLG Bremen a.a.O.).

3. Auch die Tatsache, dass sich der Betroffene persönlich nach Fassung des Beschlusses vom 30.07.2020, der am 31.07.2020 hinausgegeben wurde, mit am 31.07.2020 eingegangenem Schreiben mit der Entscheidung im Beschlussverfahren einverstanden erklärt hat, ändert nichts an der Unzulässigkeit der Entscheidung im Beschlusswege. Zwar verzichtet der Widerspruchsberechtigte mit Rücknahme des Widerspruchs auf das Widerspruchsrecht. Die Rücknahme ist auch an keine Form und Frist gebunden. Allerdings ist die Rücknahme nach Beschlussfassung wirkungslos.

Das Amtsgericht hätte somit nicht ohne mündliche Hauptverhandlung entscheiden dürfen.“

Grundgebühr mit Haftzuschlag?, oder: Egal, wann der Mandant inhaftiert war?

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Die zweite Entscheidung, die ich vorstelle, der AG Nürnberg, Beschl. v. 13.07.2020 – 403 Ds 604 Js 58985/15 – verhält sich zum Haftzuschlag (Vorbem. 4 Abs. 4 VV RVG) bei der Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG. Um den hat der Kollege Peisl aus Nürnberg, der mir den Beschluss geschickt hat, mit der Staatskasse gestritten. Der Kollege hat dann beim Amtsrichter „gewonnen“. Der hat den Haftzuschlag gewährt. Begründung:

„Laut Ziffer 4100 VV RVG entsteht die Grundgebühr gemäß dessen Unterabschnitt 1 neben der Verfahrensgebühr für die erstmalige Einarbeitung in den Rechtsfall nur einmal, unabhängig davon, in welchem Verfahrensabschnitt sie erfolgt.

Unstreitig lagen hier Zuschlagsvoraussetzungen in der Weise vor, dass der Angeklagte sich im Verfahren in Haft befand. Fraglich ist einzig und allein, ob trotz vorheriger Einarbeitung des Verteidigers, als sich der Angeklagte noch nicht in Haft befand, sondern auf freiem Fuß war, der Zuschlag auch dann anfällt, wenn der Angeklagte sich zu einem späteren Zeitpunkt des Verfahrens als zur Zeit der Einarbeitung des Verteidigers in Haft befand.

Nach Auffassung des Gerichts ist dies der Fall. Hierfür spricht bereits der Wortlaut von Ziffer 4100 VV RVG Unterabschnitt 1, der für die Grundkonstellation die Entstehung der Verfahrensgebühr als einmalig für die erstmalige Einarbeitung definiert, und zwar unabhängig davon, in welchem Verfahrensabschnitt sie erfolgt. Spiegelbildlich dazu kann nach der Systematik des Gesetzes für den Zuschlag im Sinne der Ziffer 4101 VV RVG nichts anderes gelten – auch diese fällt an, und zwar unabhängig davon, in welchem Verfahrensabschnitt sie erfolgt. Mithin ist es nicht erforderlich, dass die Zuschlagsvoraussetzungen zeitgleich zum Zeitpunkt der Einarbeitung vorgelegen haben, sondern nur, dass diese in irgendeinem Verfahrensabschnitt gegeben waren. Nur so ergibt der Zuschlag Sinn. Denn der Aufwand bei Bearbeitung einer Haftsache ist ungleich höher als er einer Nicht-Haftsache; es kann daher nicht von rein zufälligen zeitlichen Konstellationen abhängen, ob der Zuschlag gewährt wird. Genau dies sagt im Grundsatz schon Ziffer 4100 VV RVG aus, indem deren Unterabschnitt 1 gerade unabhängig von der zeitlichen Einordnung die Grundgebühr auslöst. Ziffer 4101 VV RVG ist genau in diesem Lichte zu lesen, weshalb es gerechtfertigt ist, dass ein etwaiger Mehraufwand, der einen Zuschlag rechtfertigt, unabhängig von seiner zeitlichen Komponente rechtlich immer als Teil der Ersteinarbeitung zählt.

Das ist hier der Fall, sodass die Grundgebühr im Sinne der Ziffer 4101 VV RVG mit 192,00 Euro anfiel und nicht wie im Ausgangsbeschluss mit nur 160,00 Euro.

Im Übrigen ist die Berechnung im Antrag des Verteidigers vom 21.01.2020 zutreffend, so dass auf diesen Bezug genommen werden kann, weshalb im Ergebnis insgesamt 415,31 Euro an Vergütung zuzusprechen waren.2

Wie gesagt: M.E. nicht richtig, denn: Befand sich der Angeklagte/Mandant zu dem Zeitpunkt, zu dem der Verteidiger sich „eingearbeitet“ hat – das ist der Abgeltungsbereich der Grundgebühr – (noch) nicht in Haft, ist die Grundgebühr ohne Haftzuschlag entstanden. Dass der Mandant später inhaftiert wurde hat keinen Einfluss mehr auf bereits abgeschlossene Gebührentatbestände. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Grundgebühr „neben“ der Verfahrensgebühr entsteht. Das AG irrt, wenn es meint, dass die „Zuschlagsvoraussetzungen“ nicht zeitgleich zum Zeitpunkt der Einarbeitung vorgelegen haben müssen. Doch. Müssen sie, sonst passt der Zuschlag nicht. Wäre die Auffassung des AG richtig, würde die Grundgebühr ja immer (nachträglich) mit Zuschlag entstehen, wenn der Mandant irgendwann im Laufe des Verfahrens inhaftiert würde. Das ist aber nicht der Fall.