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Strafantrag II: Beleidigungen an mehreren Tagen, oder: Strafantrag muss sich auf bestimmte Tat beziehen

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Und als zweite Entscheidung hier der BayObLG, Beschl. v. 10.09.2024 – 203 StRR 326/24.

Die Angeklagte ist von AG und LG wegen Beleidigung in vier tatmehrheitlichen Fällen, in einem Fall rechtlich zusammentreffend mit tätlicher Beleidigung und mit Körperverletzung verurteilt worden. Dagegen wendet sich die Angeklagte mit der allgemeinen Sachrüge. Die hat Erfolg. Dazu führt das BayObLG u.a. aus:

„a) Soweit die Angeklagte wegen einer am 3. Juni 2022 zum Nachteil des Zeugen W. begangenen Beleidigung verurteilt worden ist, wird das Verfahren nach § 206a Abs. 1 StPO eingestellt. Es fehlt an dem nach § 194 Abs. 1 Satz 1 StGB erforderlichen schriftlichen Strafantrag des Verletzten. Das Revisionsgericht prüft das Vorhandensein der Verfahrensvoraussetzungen von Amts wegen im Freibeweisverfahren. Diese Prüfung ergibt, dass der Zeuge W. bezüglich der Tat vom 3. Juni 2022 keinen wirksamen Strafantrag gestellt hat. Der Geschädigte hat bei seiner Aussage am „14“. Juni 2022 bei der Polizei, auf die seine beiden Strafanträge vom „13“. und vom „14“. Juni 2022 (Bl. 16 und Bl. 31 der Akte 1111 Js 8078/22) verwiesen, neben der Tat vom 11. Juni 2022 keine weitere beleidigende Äußerung hinreichend nach Wortlaut und Tatumständen konkretisiert zur Anzeige gebracht, sondern allgemein von Beschimpfungen „in jüngster Vergangenheit vermehrt“ gesprochen. Ein Strafantrag muss sich jedoch auf eine bestimmte Tat beziehen (vgl. Dallmeyer in BeckOK-StGB, 61. Ed., § 77 StGB Rn. 11; BGH, Beschluss vom 20. April 2017 – 2 StR 79/17 –, juris Rn. 23). Da innerhalb der Antragsfrist kein wirksamer Strafantrag gestellt wurde und dieser nach Fristablauf nicht mehr nachgeholt werden kann, darf die Angeklagte nicht mehr wegen dieser Beleidigung bestraft werden.“

Im Übrigen hat das BayObLG die Schuldfähigkeitsprüfung des LG beanstandet. Dazu folgende Leitsätze:

1. Wahnhafte Störungen können sich bei akuten psychotischen Phasen erheblich auf das Einsichtsvermögen auswirken. Aber auch die Steuerungsfähigkeit kann tangiert oder aufgehoben sein. Steuerungsfähigkeit im Sinne von § 20 StGB bedeutet die Fähigkeit, entsprechend der vorhandenen Unrechtseinsicht zu handeln. Die Steuerungsfähigkeit ist betroffen, wenn einem Wahnkranken in Situationen, die durch den Wahn bestimmt sind, Handlungsalternativen praktisch nicht zur Verfügung stehen.

2. Um die revisionsgerichtliche Nachprüfung der Voraussetzungen von §§ 20, 21 StGB zu ermöglichen, hat das Tatgericht die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und Schlussfolgerungen des psychiatrischen Sachverständigen mitzuteilen und sich erkennbar selbst mit ihnen auseinanderzusetzen. Unerlässlich ist eine konkretisierende Darstellung, in welcher Weise sich die näher festgestellte psychische Störung auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf seine Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat. Beurteilungsgrundlage ist das konkrete Tatgeschehen, wobei neben der Art und Weise der Tatausführung auch die Vorgeschichte, der Anlass der Tat, die Motivlage und das Verhalten nach der Tat von Bedeutung sein können. Folgt das Tatgericht einem Sachverständigen, muss es dessen wesentliche Anknüpfungstatsachen und Darlegungen in den schriftlichen Urteilsgründen so wiedergeben, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist. Generalisierende Ausführungen zum Störungsbild, die nicht auf den konkreten Zustand des Angeklagten zum Tatzeitpunkt und eine mögliche direkte Beziehung von Tathandlung zum Wahnthema eingehen, genügen diesen Anforderungen nicht.

Absprache II: Lag ein Verständigungsgespräch vor?, oder: Nochmals Anforderungen an die Mitteilung

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Auch in der zweiten Entscheidung zum Komplex „Verständigung“ geht es um die Verständigungsmitteilung nach § 243 Abs. 4 StPO. Dazu hat der OLG Hamburg, Beschl. v. 19.12.2022 – 2 Rev 28/22 – Stellung genommen.

Der in dem Verfahren erhobenen Verfahrensrüge lag folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

„a) Der Rüge liegt ? soweit für die Entscheidung von Bedeutung ? folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

Zu Beginn der Hauptverhandlung vom 23. Februar 2021 bat der Verteidiger um ein Rechtsgespräch. Dieses fand sodann unter Ausschluss des Angeklagten und der Öffentlichkeit im Beisein des Vorsitzenden, der Schöffen und des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft statt. Der Vorsitzende teilte mit, dass er – entgegen seiner damaligen Einschätzung – angesichts der positiven Entwicklung die Verhängung einer unbedingten Jugendstrafe nicht mehr für erforderlich halte. Ob dies ein Schuldspruch, eine Vorbewährung oder etwas anderes sei, könne er noch nicht sagen. Der Verteidiger schlug eine geständige Einlassung mehrerer Taten vor, welche etwas mehr als zwei Drittel des Gesamtschadens abdeckten; die übrigen Taten sollten dann eingestellt werden. Für diese Einlassung sollte als Rechtsfolge neben der Wiedergutmachung des Schadens Erziehungsmaßregeln ausgeurteilt werden. Weder der Vorsitzende noch der Vertreter der Staatsanwaltschaft stimmten dem zu. Der Vorsitzende erklärte, dass er insbesondere etwas zur Motivation des Angeklagten, wie insbesondere im Jugendstrafrecht üblich, erfahren wolle, um eine geeignete Rechtsfolge zu bestimmen. Eine Verständigung wollte der Vorsitzende – ausweislich seiner vom Senat eingeholten dienstlichen Stellungnahme – nicht treffen und habe dies auch geäußert.

In der am 16. März 2021 durchgeführten Sitzung regte der Verteidiger erneut ein Rechtsgespräch unter Ausschluss des Angeklagten an. Dieses wurde nach Unterbrechung der Hauptverhandlung in Anwesenheit des Vorsitzenden, des Vertreters der Staatsanwaltschaft sowie der Schöffen geführt. Der Vertreter der Staatsanwaltschaft regte aufgrund der nach seiner Auffassung erdrückenden Beweislast eine geständige Einlassung des Angeklagten an, da dies auf seine Beurteilung über das Vorhandensein von schädlichen Neigungen Einfluss haben könnte. Der Vorsitzende gab dazu keine Erklärung ab. Der Verteidiger erklärte, dass er dies mit dem Angeklagten besprechen werde, was er – wie zuvor auch – tat.

Über keines der außerhalb der Hauptverhandlung geführten Gespräche wurde in der Hauptverhandlung berichtet. Vielmehr stellte der Vorsitzende nach Verlesung der Anklageschrift und vor Schluss der Beweisaufnahme fest, dass keine Verständigungsgespräche stattgefunden haben.“

Dem OLG reicht das nicht:

„c) Hiernach erfüllte der Vorsitzende seine verständigungsspezifischen Mitteilungs- und Dokumentationspflichten nicht.

Ein Verständigungsgespräch liegt dann vor, wenn nach seinem Inhalt ausdrücklich oder konkludent die Möglichkeit und die Umstände einer Verfahrensabsprache im Raum steht. Ob dies der Fall ist, ist maßgeblich danach zu beurteilen, ob in dem Gespräch Verfahrensfragen erörtert und zueinander in Beziehung gesetzt werden. Das ist jedenfalls dann der Fall, wenn Fragen des prozessualen Verhaltens in Konnex zum Verfahrensergebnis gebracht werden und damit die Frage nach oder die Äußerung zu einer Straferwartung nahe liegt (vgl. BVerfG, Urteil vom 19. März 2013 – 2 BvR 2628/10; BVerfG NJW 2020, 2461; BGH NStZ-RR 2022, 355; BGH wistra 2022, 384; BGH NStZ 2022, 55). Abzugrenzen sind solche Erörterungen, bei denen ein Verfahrensergebnis einerseits und ein prozessuales Verhalten des Angeklagten andererseits in ein Gegenseitigkeitsverhältnis im Sinne von Leistung und Gegenleistung gesetzt werden, von sonstigen verfahrensfördernden Gesprächen, die nicht auf eine einvernehmliche Verfahrenserledigung abzielen (vgl. BGH NStZ 2020, 237; BGH, Beschluss vom 14. April 2015 – 5 StR 9/15). Auch kann die Abgrenzung zwischen einem reinen Aufzeigen der jeweils eigenen Standpunkte und dem Einstieg, wie diese möglicherweise in Einklang gebracht werden können fließend sein. Im Zweifel ist ein solches Gespräch mitzuteilen (vgl. LR-StPO/Becker, 27. Aufl., § 243 Rdn. 57).

Die Mitteilungspflicht des § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO gehört dabei zu den vom Gesetzgeber zur Absicherung des Verständigungsverfahrens normierten Transparenz- und Dokumentationsregeln, durch die gewährleistet werden soll, dass Erörterungen mit dem Ziel einer Verständigung stets in öffentlicher Hauptverhandlung zur Sprache kommen, so dass für informelles und unkontrollierbares Verhalten unter Umgehung der strafprozessualen Grundsätze kein Raum verbleibt (vgl. BGH StraFo 2022, 436; BGH, Beschluss vom 12. Januar 2022 – 4 StR 209/21; BGH StV 2018, 6; BGHSt 60, 150; LR-StPO/Becker, 27. Aufl., § 243 Rdn. 55).

Nach § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO hat der Vorsitzende daher nach Verlesung des Anklagesatzes über Erörterungen gemäß §§ 202a, 212 StPO zu berichten, die vor der Hauptverhandlung stattgefunden haben und deren Gegenstand die Möglichkeit einer Verständigung (§ 257c StPO) gewesen ist. Kommt es zu solchen Erörterungen außerhalb der Hauptverhandlung, so hat der Vorsitzende nach § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO auch dies bekanntzugeben (vgl. BGH NStZ-RR 2020, 87; BGH StV 2021, 3). Alle Verfahrensbeteiligten und die Öffentlichkeit sollen daher nicht nur darüber informiert werden, dass Erörterungen stattgefunden haben, sondern auch darüber, wer an den Gesprächen teilgenommen hat, welche Standpunkte von den Teilnehmern vertreten wurden, von welcher Seite die Frage einer Verständigung aufgeworfen wurde und ob sie bei anderen Gesprächsteilnehmern auf Zustimmung oder Ablehnung gestoßen ist (vgl. BVerfGE 133, 168; BVerfG NJW 2020, 2461; BGHSt 59, 252; BGH NStZ-RR 2022, 80; BGH NStZ 2021, 506; BGH NStZ-RR 2021, 180; BGH StV 2021, 3). Diese Umstände sind auch im Fall erfolgloser Verständigungsbemühungen mitzuteilen (vgl. BVerfG NJW 2020, 2461; BGHR StPO § 257c Abs. 1 Erörterungen 1; BGH StraFo 2022, 436; BGH NStZ 2020, 751; BGH NStZ 2014, 416; BGH, Beschluss vom 19. Juli 2022 – 4 StR 64/22), und zwar regelmäßig alsbald nach der Fortsetzung der Hauptverhandlung (vgl. BGH NStZ 2022, 761; BGH NStZ 2018, 419; LR-StPO/Becker, 27. Aufl., § 243 Rdn. 56).

An diesen Grundsätzen gemessen traf den Vorsitzenden des Jugendschöffengerichts eine Mitteilungspflicht nach § 243 Abs. 4 Satz 2 i.V.m. Satz 1 StPO. Jedenfalls bei der Unterredung am 23. Februar 2021 wurde durch den Verteidiger eine Verknüpfung zwischen einem möglichen Geständnis, also dem prozessualem Verhalten des Angeklagten, und dem Verfahrensergebnis hergestellt. Die Erörterung ging damit über die bloße Darstellung der eigenen Meinung hinaus und es handelte sich nicht lediglich um „Sondierungsgespräche“ ohne Bezug zu einer einverständlichen Verfahrenserledigung. Dass der Vorsitzende, wie dieser in seiner dienstlichen Stellungnahme dargelegt hat, an keiner Verständigung interessiert war, nimmt dem Begehren des Verteidigers nicht den auf eine Verständigung und damit mitteilungspflichtigen gerichteten Inhalt. Dies gilt auch für den Umstand, dass der Vorsitzende das Gespräch selbst nicht als mitteilungspflichtig eigeschätzt hat.

Auch das Gespräch vom 16. März 2021 war konkludent auf eine Verständigung gerichtet. Der Vertreter der Staatsanwaltschaft verband ein Geständnis mit der Prüfung, ob schädliche Neigungen beim Angeklagten vorgelegen haben und damit mit der zu verhängenden Rechtsfolge. Insbesondere auch im Licht des vorherigen Rechtsgesprächs handelte es sich um eine mitteilungspflichtige Erörterung, auch wenn sich der Vorsitzende zu dem Vorschlag der Staatsanwaltschaft nicht geäußert hat.

d) Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Urteil auf der unzulänglichen Mitteilung nach § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO beruht…..“

Es erscheint möglich, dass der Verstoß gegen die Mitteilungspflicht das Einlassungsverhalten des Angeklagten beeinflusst hat. Darauf, dass dieser von seinem Verteidiger über Äußerungen unterrichtet wurde, kommt es nicht an, weil eine von Verständnis und Wahrnehmung des Verteidigers beeinflusste Information die gesetzlich vorgeschriebene Unterrichtung durch das Gericht nicht ersetzen kann (vgl. BVerfG NJW 2020, 2461; BGHSt 58, 310; BGHSt 59, 252; BGH NStZ 2017, 244).

Zudem darf die Frage des Beruhens des Urteils auf dem Verstoß gegen § 243 Abs. 4 StPO nicht nur unter dem Gesichtspunkt einer Einwirkung auf das Aussageverhalten des Angeklagten beurteilt werden. Hierdurch wird die Bedeutung der Transparenzvorschriften für die Kontrolle des Verständigungsgeschehens durch die Öffentlichkeit, die auch dem Schutz des Angeklagten vor sachfremder Beeinflussung durch das Gericht und damit der Verfahrensfairness dient, ausgeblendet. Der auf die Kontrolle durch die Öffentlichkeit abzielende Schutzgehalt des § 243 Abs. 4 StPO beansprucht unabhängig vom Aussageverhalten des Angeklagten Geltung und muss bei der Beruhensprüfung stets Berücksichtigung finden (vgl. BVerfG NJW 2020, 2461). Auch insoweit liegt hier kein Ausnahmefall vor, bei dem zweifelsfrei ein Einfluss des Verfahrensfehlers auf das Urteil ausgeschlossen werden könnte.

Hiernach konnte dahinstehen, ob auch die verständigungsbezogenen Erörterungen, die am 27. Oktober 2021 ohne den Angeklagten vor der Aussetzung der ursprünglich angesetzten Hauptverhandlung stattgefunden haben, in der neuen Hauptverhandlung mitzuteilen waren (so aber BGH NStZ 2022, 371).

III.

Für die neue Verhandlung und Entscheidung weist der Senat auf Folgendes hin:

1.Im Jugendstrafverfahren sind Verständigungen nur in besonderen Ausnahmenfällen angezeigt, da ihnen die besonderen jugendstrafrechtlichen Strafzumessungsregeln und Aspekte des Erziehungsgedankens in der Regel entgegenstehen werden (vgl. BT-Drs. 16/12310 S. 10; KK-StPO/Moldenhauer/Wenske, 8. Aufl., § 257c Rdn. 12). Für sie war hier angesichts der vorliegenden Beweislage ohnehin kein Raum.

2.Darüber hinaus sollte der Vollstreckungsstand der durch Urteil des Amtsgerichts Hamburg-Wandsbek vom 30. Juli 2019 verhängten Sanktion eindeutig wiedergegeben werden. Zudem sollte unzweifelhaft zu erkennen sein, ob eine – nachträgliche – Einheitsjugendstrafe gebildet wurde.

3. Schließlich wird die Staatsanwaltschaft zu prüfen haben, ob die vorläufig eingestellten Taten wieder aufgenommen werden sollten, um so – im Falle ihrer Erweislichkeit – dem Tatrichter eine insgesamt schuldangemessene Bestrafung zu ermöglichen.

4. Für den Fall, dass sich der neue Tatrichter die Überzeugung von einem strafbaren Verhalten des Angeklagten verschafft, wird er auch die Kompensation etwaiger rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung.

StPO I: Vorlage zum BGH wegen Vertretungsvollmacht, oder: Das OLG Düsseldorf „traut“ sich

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Heute stelle ich drei StPO-Entscheidungen von OLG vor. Einen StPO-Tag hatte ich länger nicht mehr.

Ich beginne mit dem recht aktuellen OLG Düsseldorf, Beschl. v. 08.09.2021 – 2 RVs 60/21. Zu dem passt nun wirklich mal: Das OLG traut sich. Ja, es traut sich zu einer Divergenzvorlage an an den BGH. Das mögen die OLG ja sonst nicht so gern und sie legen ja nicht selten wortreich dar, warum man nicht vorlegen muss. Anders aber hier.

Anlass zu der Vorlage ist die Frage nach den Anforderungen an die Vertretungsvollmacht in der Berufungshauptverhandlung. Das OLG fragt:

Genügt eine Vertretungsvollmacht, durch die dem Verteidiger Vollmacht zur Vertretung, auch im Falle der Abwesenheit des Angeklagten, in allen Instanzen – ohne ausdrückliche Bezugnahme auf die Abwesenheitsvertretung in der Berufungshauptverhandlung – erteilt worden ist, den Anforderungen der in § 329 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 StPO vorausgesetzten Vertretungsvollmacht?

Anlass für die Frage ist ein Berufungsverfahren, in dem die Berufung des nicht erschienenen Angeklagten nach § 329 Abs. 1 StPO verworfen worden ist. Der Verteidiger hat eine von dem Angeklagten unterzeichnete Strafprozessvollmacht vorgelegt, die eingangs dahin lautet, dass dem Verteidiger „Vollmacht zur Verteidigung und Vertretung, auch im Falle meiner Abwesenheit, in allen Instanzen erteilt“ wird. Dem LG hat die Vollmacht mangels ausdrücklicher Bezugnahme auf die Abwesenheitsvertretung in der Berufungshauptverhandlung nicht genügt und hat die Berufung verworfen.

Dagegen nun die Revision, der das OLG stattgeben möchte. Aber:

„Daran sieht sich der Senat durch den Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 24. November 2016 (5 RVs 82/16 bei juris = BeckRS 2016, 111318) gehindert. Gegenstand dieser Entscheidung war eine inhaltsgleiche Vertretungsvollmacht mit folgendem Formulartext:

„Die Vollmacht erstreckt sich auf meine Verteidigung und Vertretung in allen Instanzen sowie im Vorverfahren – ebenfalls für den Fall meiner Abwesenheit in einer Verhandlung – …“

Das Oberlandesgericht Hamm hat diese Vertretungsvollmacht für unzureichend erachtet und verlangt, dass die Vertretungsvollmacht ausdrücklich auch die Abwesenheitsvertretung in der Berufungshauptverhandlung erfassen müsse. Nur dann könne von einer zulässigen Vertretung im Sinne des § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO überhaupt ausgegangen werden. Aus diesem Grund wurde die dortige Revision verworfen.

Diese Auffassung teilt der Senat nicht. Die Möglichkeit der Vertretung des Angeklagten in der Hauptverhandlung ist in Strafsachen in folgenden Konstellationen vorgesehen: im Berufungsverfahren (§ 329 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 StPO), im Strafbefehlsverfahren (§ 411 Abs. 2 StPO), nach Maßgabe des § 234 StPO, im Privatklageverfahren (§ 387 Abs. 1 StPO), im Einziehungsverfahren (§ 428 Abs. 1 Satz 1 StPO) und im Revisionsverfahren (§ 350 Abs. 2 Satz 1 StPO). Eine – wie hier – ohne Einschränkung für alle Instanzen erteilte Vertretungsvollmacht deckt die Vertretung des abwesenden Angeklagten ohne Weiteres in allen strafprozessual zulässigen Vertretungsfällen ab. Der Gesetzgeber hat die Vertretungsvollmacht in den vorgenannten Vorschriften gleich behandelt. Es bedarf im Falle der Berufungshauptverhandlung keiner ausdrücklichen Hervorhebung (vgl. OLG Oldenburg BeckRS 2016, 124738 = StV 2018, 148).

Dass die Vertretung des Angeklagten in der Hauptverhandlung weitrechende Folgen für diesen haben kann, weil der Verteidiger dann berechtigt ist, ihn im Willen und in der Erklärung zu vertreten, stellt keine Besonderheit der Berufungshauptverhandlung dar. Dies gilt auch für die Erwägung, dass es sich um die letzte Tatsacheninstanz handelt. So kann ein nach § 234 StPO zulässiger Vertretungsfall auch in der Hauptverhandlung vor einer großen Strafkammer des Landgerichts (nur eine Tatsacheninstanz) eintreten (vgl. Spitzer NJW 2021, 327, 328).

Zudem war schon vor der Änderung des § 329 StPO anerkannt, dass die im Strafbefehlsverfahren normierte Vertretungsbefugnis (§ 411 Abs. 2 StPO) auch für die Berufungshauptverhandlung gilt (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 329 Rdn. 14 m.w.N.). Es erscheint nicht folgerichtig, nunmehr – jedenfalls in gerichtlichen Strafverfahren nach Anklage – für die Vertretung in der Berufungshaupthandlung eine ausdrücklich hierauf bezogene Vollmacht zu verlangen. Ob das gerichtliche Strafverfahren mit einem Strafbefehl oder einer Anklage begonnen hat, stellt kein taugliches Abgrenzungskriterium dar, zumal die durch einen Strafbefehl festgesetzten Rechtsfolgen bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe (mit Aussetzung zur Bewährung) reichen können.

Ohne dass es entscheidend darauf ankommt, weisen der dem Senat vorliegende Fall und der von dem Oberlandesgericht Hamm entschiedene Fall über den Inhalt der Vertretungsvollmacht hinaus eine weitere Parallele auf. Denn in beiden Strafsachen war die Vertretungsvollmacht erst in dem Berufungsverfahren erteilt worden. Vorliegend ist die Vertretungsvollmacht vom 3. Juli 2020 zusammen mit der Berufungsschrift vom 3. Juli 2020 eingereicht worden. Aus dem Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm geht hervor, dass das erstinstanzliche Urteil vom 3. November 2015 stammt, während die Vertretungsvollmacht vom 3. Februar 2016 datiert.

Bei dieser Sachlage war eine ausdrückliche Bezugnahme auf die Abwesenheitsvertretung in der Berufungshauptverhandlung – nichts anderes stand jeweils bei Erteilung der „in allen Instanzen“ geltenden Vertretungsvollmacht an – erst recht entbehrlich. Aber auch ohne eine solche Besonderheit in der zeitlichen Abfolge ist eine Vertretungsvollmacht, durch die dem Verteidiger Vollmacht zur Vertretung, auch im Falle der Abwesenheit des Angeklagten, „in allen Instanzen“ erteilt worden ist, nach Auffassung des Senats für die Abwesenheitsvertretung in der Berufungshauptverhandlung ausreichend.

Durch drei weitere Entscheidungen anderer Oberlandesgerichte (vgl. KG Berlin BeckRS 2018, 5556; OLG Hamm BeckRS 2019, 5617; OLG Celle BeckRS 2021, 626) sieht sich der Senat wegen anders gelagerter Sachverhalte nicht an der beabsichtigten Entscheidung unter Bejahung der Vorlegungsfrage gehindert.

Denn diese Entscheidungen betreffen jeweils Vertretungsvollmachten, in denen die Vertretungsfälle nach § 411 Abs. 2 StPO und §§ 233 Abs. 1, 234 StPO ausdrücklich angeführt werden, während die Vertretung in der Berufungshauptverhandlung (§ 329 Abs. 1 u. 2 StPO) nicht erwähnt wird. Insoweit bedarf es im Einzelfall der Auslegung, ob es sich um eine abschließende Aufzählung oder lediglich um Beispiele für die Vertretung „in allen Instanzen“ handelt. Dass die Gründe der vorgenannten Entscheidungen tendenziell nicht mit der von dem Senat beabsichtigte Entscheidung in Einklang stehen, stellt noch keinen Vorlegungsgrund dar.“

Mal sehen, wie lange der BGH braucht. Bis dahin wird man m.E. über ggf. anhängige Revisionen, in denen die Frage eine Rolle spielt, nicht entscheiden können. Und auch mit Berufungsverwerfungen wird man „vorsichtig“ sein müssen.

Auf die Entscheidung des BGH werden wir aber mit den Neuauflagen der beiden Handbücher „Ermittlungsverfahren“ und „Hauptverhandlung“ in der 9. oder 10. Auflage nicht warten können 🙂 . Die gehen wie geplant im Oktober bzw. Dezember 2021 an den Start. Zum <<Werbemodus an>> geht es hier. <<Werbemodus aus>>.

Verzögerungsrüge, oder: Auch bei mehr als vier Jahre Dauer des Berufungsverfahrens feilscht man noch

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Im „Kessel Buntes“ stelle ich dann zunächst das BGH, Urt. v. 26.11.2020 – III ZR 61/20 – vor. Schon etwas älter, aber erst jetzt veröffentlicht.

Gegenstand des Verfahrens war eine Entschädigung nach den §§ 198, 199 GVG, also nach bzw. in Zusammenhang mit einer Verzögerungsrüge. Geltend gemacht wurde die wegen überlanger Dauer eines zivilrechtlichen Berufungsverfahrens.

Die Klägerin hatte im Jahr 2015 einen Zivilrechtsstreit vor dem LG Hamburg geführt, das ihr mit Urteil vom 02.09.2015 einen Betrag von 55.000 EUR nebst Zinsen zusprach. Dagegen legte der damalige Beklagte Berufung beim OLG Hamburg ein, die er mit Schriftsatz vom 09.11.2015 mit dem Ziel einer vollständigen Klageabweisung begründete. Die Klägerin erwiderte unter dem 14.12.2015 auf das Berufungsvorbringen. Mit Schriftsatz vom 29.02.2016 bat sie unter Hinweis auf das Datum der Berufungserwiderung um einen Sachstandsbericht. Daraufhin teilte das Berufungsgericht ihr mit richterlicher Verfügung vom 02.03.2016 mit, dass wegen zeitlich vorrangig zu bearbeitender Eilverfahren und älterer Verfahren mit einer Förderung der Sache vor dem vierten Quartal 2017 nicht gerechnet werden könne. Der Senat sei jedoch bemüht, die Bearbeitung schon vorher in Angriff zu nehmen.

Unter dem 22.12.2016 übersandte die Klägerin die Kopie einer Anklageschrift gegen den damaligen Beklagten und bat um eine möglichst zeitnahe Terminierung. Da auch nach Ablauf des vierten Quartals 2017 eine Förderung des Verfahrens durch das Berufungsgericht nicht feststellbar war, wies die Klägerin mit Schriftsatz vom 22.05.2018 unter Bezugnahme auf die am 29.08.2017 erfolgte endgültige Einstellung des Strafverfahrens gegen den Beklagten nach Zahlung einer Geldauflage auf die Entscheidungsreife des Berufungsverfahrens und dessen „enorme Verfahrensdauer“ hin. Dabei verband sie die Spiegelstrichauflistung des bisherigen Verfahrensgangs mit der erneuten Bitte um eine zeitnahe Terminierung.

Mit Verfügung vom 06.08.2018, die sich mit einer weiteren Sachstandsanfrage der Klägerin unter dem 09.08.2018 überschnitt, erteilte das Berufungsgericht den Parteien den Hinweis, dass der Senat beabsichtige, die Berufung des Beklagten (des Ausgangsverfahrens) durch einstimmigen Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil das Rechtsmittel offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg habe. Die dem Berufungskläger eingeräumte Stellungnahmefrist bis zum 24.08.2018 ließ dieser ungenutzt verstreichen.

Da eine mit Schriftsatz der Klägerin vom 09.10.2018 vorgetragene dringende Bitte um kurzfristigen Abschluss des Verfahrens fruchtlos blieb, rügte die Klägerin unter dem 28.03.2019 mit ausführlicher Begründung die dreieinhalbjährige Dauer des Berufungsverfahrens gemäß § 198 Abs. 3 Satz 1 GVG und behielt sich einen Entschädigungsanspruch nach § 198 GVG ausdrücklich vor. Mit Beschluss vom 02.12.2019 wies das Oberlandesgericht schließlich die Berufung des Beklagten gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurück.

Die Klägerin ist der Auffassung, dass das Berufungsverfahren jedenfalls seit Oktober 2017 unangemessen verzögert worden sei und ihr deshalb eine Entschädigung für immaterielle Nachteile in Höhe von mindestens 2.300 € (nebst Zinsen) zustehe.

Die Beklagte ist dem entgegengetreten. Die geltend gemachte Entschädigungsforderung scheitere daran, dass die Verzögerungsrüge vom 28.032019 keine Rückwirkung bis Oktober 2017 entfalten könne (Hinweis auf BFHE 253, 205).

Das Oberlandesgericht hat die Beklagte unter Klageabweisung im Übrigen zur Zahlung von 2.200 € (nebst Zinsen) verurteilt und die Revision zugelassen. Die Beklagte verfolgt mit der Revision ihren Klageabweisungsantrag weiter, soweit sie zur Zahlung eines Betrages von mehr als 800 € (nebst Zinsen) verurteilt worden ist.

Die Revision beim BGH hatte keinen Erfolg.

Der BGH verwendet auf die Frage der Unangemessenheit der Dauer des Berufungsverfahrens in seinem Urteil nicht viel Platz und führt  nur kurz – und zutreffend – aus, dass „diese Verfahrensweise (objektiv) nicht mehr verständlich.“ M.E. noch nett. Man hätte auch schreiben können: „unverschämt“.

Im Übrigen nimmt er zu den Anforderungen an die Verzögerungsrüge wie folgt Stellung:

1. § 198 Abs. 3 Satz 1 GVG stellt keine besonderen Anforderungen an die Form oder den Mindestinhalt einer Verzögerungsrüge, sondern verlangt lediglich, dass die „Dauer des Verfahrens gerügt“ wird. Daraus folgt, dass auch eine nicht ausdrücklich als „Verzögerungsrüge“ bezeichnete Äußerung eines Verfahrensbeteiligten im Wege der Auslegung als Verzögerungsrüge anzusehen ist, wenn sich ihr nur entnehmen lässt, dass der Beteiligte die Dauer des Verfahrens beanstandet oder in sonstiger Weise zum Ausdruck bringt, mit der Verfahrensdauer nicht einverstanden zu sein.

2. Ein Anlass zur Besorgnis im Sinne des § 198 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 1 GVG ist gegeben, wenn ein Betroffener erstmals Anhaltspunkte dafür hat, dass das Ausgangsverfahren keinen angemessen zügigen Fortgang nimmt. Auf ein rein subjektives Empfinden des Verfahrensbeteiligten kommt es hierbei nicht an. Vielmehr müssen objektiveGründe vorliegen, die bei vernünftiger Betrachtungsweise geeignet sind, zu einer unangemessenen Verfahrensdauer zu führen, ohne dass ein allzu strenger Maßstab angelegt werden darf (Bestätigung und Fortführung des Senatsurteils vom 21.05.2014 III ZR 355/13, NJW 2014, 2443).

Und: Bei einer wirksam gegenüber dem mit der Sache befassten Ausgangsgericht erhobenen Verzögerungsrüge ist auch der vor dem Rügezeitpunkt liegende Zeitraum in die Entschädigungsprüfung einzubeziehent. Daran ändert auch der Umstand nichts zu ändern, dass die Verzögerungsrüge später – hier erst rund acht Monate nach Eintritt der Überlänge des Verfahrens – erhoben worden ist.

Mich wundert immer, warum und wieso eigentlich die Justizverwaltungen bei solchen Verfahrensabläufen – Entscheidung im Berufungsverfahren mehr als vier Jahre nach dem erstinstanzlichen Urteil – noch um die Entschädigung feilschen müssen. Auch das ist peinlich.

Vollmacht II: Dauerbrenner Vertretungsvollmacht, oder: Wie muss die formuliert sein?

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Die zweite Vollmachtsentscheidung kommt vom OLG Celle. Das hat im OLG Celle, Beschl. v. 18.01.2021 – 2 Ss 119/20 – noch einmal zur Vertretungsvollmacht Stellung genommen. Auch ein Dauerbrenner, der vor allem Bedeutung bei der Verwerfung der Berufung nach § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO Bedeutung hat.

Der Angeklagte hatte gegen die Verurteilung durch das AG Berufung eingelegt. Diese Berufung hat das LG nach § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO verworfen, weil der Angeklagte im Hauptverhandlungstermin ohne Entschuldigung ausgeblieben und auch nicht in zulässiger Weise vertreten worden sei. Der in der Berufungshauptverhandlung anwesende Verteidiger, der als Pflichtverteidiger beigeordnet worden war, hatte beantragt, die Hauptverhandlung auszusetzen, hilfsweise zu unterbrechen und ein weiteres ärztliches Gutachten zur Frage der Verhandlungsfähigkeit und Vollzugsfähigkeit einzuholen. Der Angeklagte befinde sich seit dem Vortag der Verhandlung im Krankenhaus. Weiter hatte der Verteidiger in der Berufungshauptverhandlung eine von dem Angeklagten unterschriebene Vollmacht, die auf den 6.10.2018 datierte, vorgelegt. In dieser hieß es zu Ziffer 6: „Vertretung und Verteidigung in Strafsachen und Bußgeldsachen (§§ 302, 374 StPO, 73, 43 OWiG) einschließlich der Vorverfahren sowie (für den Fall der Abwesenheit) Vertretung nach § 411 Abs. 2 StPO und mit ausdrücklicher Ermächtigung auch nach § 233 Abs. 1, 234 StPO und Stellung von Straf- und anderen nach der Strafprozessordnung zulässigen Anträgen.“  Die Vollmacht hat dem OLG nicht gereicht:

„Die Verfahrensrüge erweist sich jedoch als unbegründet.

Die dem Verteidiger am 06.10.2018 erteilte Vollmacht berechtigt den Verteidiger nicht zur Vertretung des abwesenden Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung. Das Landgericht hat damit rechtsfehlerfrei festgestellt, dass der Angeklagte nicht in zulässiger Weise vertreten worden ist.

Eine allgemeine Verteidigervollmacht reicht für die Vertretung in der Berufungshauptverhandlung nicht aus, erforderlich ist vielmehr nach allgemeiner Ansicht eine besondere Vertretungsvollmacht im Sinne einer spezifischen Ermächtigung des Verteidigers, für den Angeklagten verbindlich Erklärung abgeben und wirksam für ihn Erklärungen annehmen zu können, also die Rechtsmacht, den Angeklagten im Prozess in Erklärung und Willen zu vertreten (vergleiche BGHSt 9, 356; KG Berlin, Beschluss vom 01.03.2018, Az: 121 Ss 15/18, Rn. 3, zitiert nach juris, Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 234 Rn. 5 m. w. Nw.). Aus der Pflichtverteidigerbestellung als solcher ergibt sich dabei keine besondere Vertretungsmacht des Verteidigers (vgl. OLG Celle, NStZ 2013, 615 m. w. Nw.). Auch der Pflichtverteidiger benötigt als Beistand des Angeklagten eine ausdrückliche Vertretungsvollmacht. Diese ist gegebenenfalls neu zu erteilen, soweit das Wahlmandat durch die Beiordnung als Pflichtverteidiger erloschen ist (vlg. OLG Celle, a. a. O.).

Hier wurde die Vollmacht erst am 06.10.2018 erteilt und damit nach der erfolgten Bestellung des Verteidigers als Pflichtverteidiger.

Streitig ist allerdings, ob eine Vollmacht, die allgemein „zur Verteidigung und Vertretung“ erteilt wird, für eine Vertretung in der Berufungshauptverhandlung ausreicht (bejahend: OLG Oldenburg, Beschluss vom 20.12.2016, Az: 1 Ss 178/16, Rn. 14, zitiert nach juris m. w. Nw.), Insoweit wird angeführt, durch die Forderung einer expliziten Ermächtigung zur Vertretung des Angeklagten „in dessen Abwesenheit“ würde der in dem Erfordernis einer gesonderten Bevollmächtigung zu Grunde liegende Schutzgedanke überspannt (vgl. OLG Oldenburg a. a. O.) Dies trägt allerdings der Bedeutung der Übertragung der Vertretungsrechte durch den Angeklagten an den Verteidiger nicht Rechnung. Denn mit der Erteilung einer Vertretungsvollmacht für den Fall einer Abwesenheitsverhandlung überträgt der Angeklagte wichtige Verfahrensrechte wie Anwesenheit und rechtliches Gehör vollständig auf seinen Verteidiger und muss sich an dessen inhaltlichen Erklärung festhalten lassen, als wenn es seine eigenen wären (vgl. KG Berlin, a. a. O.). Diese Konsequenzen wiegen bezogen auf die Berufungshauptverhandlung besonders schwer, da sie den Abschluss der letzten Tatsacheninstanz bildet. Vor dem Hintergrund dieser weitreichenden Folgen ist es nach Auffassung des Senats erforderlich, dass sich die Vollmacht ausdrücklich auch auf die Abwesenheitsverhandlung in der Berufungshauptverhandlung bezieht (vergleiche KG Berlin, a. a. O., OLG Hamm, a. a. O.; OLG Saarbrücken a. a. O., KK-Paul, StPO, 8. A., § 329 Rn. 6) Dies gilt umso mehr, seitdem durch Inkrafttreten der Neuregelung des § 329 StPO am 25.7.2015 weitreichende Rechte zur Vertretung in Abwesenheit des Angeklagten geschaffen wurden. Dies führt dazu, dass eine Abwesenheitsverhandlung auch in Fällen erfolgen kann, in denen erstinstanzlich eine Vertretung des Angeklagten ausgeschlossen ist, insbesondere ist das Berufungsgericht nur an den Strafrahmen des § 24 Abs. 2 GVG und nicht an den des
§ 233 StPO gebunden (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. A., StPO, § 329 Rn. 37 m. w. Nw.).

Die dem Verteidiger des Angeklagten am 06.10.2018 erteilte Vertretungsvollmacht reicht vor diesem Hintergrund zur Vertretung in der Berufungshauptverhandlung nicht aus.

Die vorgelegte Vollmacht bezieht sich in Ziffer 6 schon im Wortlaut nur auf das Verfahren nach Einspruch gegen einen Strafbefehl (§ 411 Abs. 2 StPO) sowie auf die Vorschriften der
§§ 233 Abs. 1, 234 StPO. Dem Wortlaut nach handelt es sich dabei auch um eine abschließende Aufzählung, in der § 329 StPO nicht genannt wird. Es ist nicht ersichtlich, dass lediglich eine bespielhafte Aufzählung der Möglichkeiten der Vertretung in Abwesenheit erfolgen sollte. Auch der Verweis in Ziffer 6 der Vollmacht auf die Vorschrift des § 234 StPO führt nicht zu einem anderen Ergebnis. Die Vorschrift des § 234 StPO knüpft inhaltlich an die Vorschriften der § 231 ff. StPO an, die in Berufungsverfahren nur Anwendung finden, soweit
§ 329 StPO nicht anwendbar ist (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt,63. A., StPO, § 332 Rn. 1).  Für die Abwesenheitsvertretung in der Berufungshauptverhandlung enthält
§ 329 Abs. 1 und 2 StPO jedoch spezielle Regelungen (vgl. KG Berlin a. a. O.).“