Archiv für den Monat: September 2023

Pflichti I: Schwere der Tat bei mehreren Verfahren, oder: Bestellung eines Betreuers

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Heute dann mal wieder ein Pflichti-Tag. Ein paar Entscheidungen haben sich angesammelt.

Ich beginne den Reigen mit zwei LG-Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, und zwar:

Ein geringfügiges Delikt rechtfertigt nicht schon dann die Bejahung des Merkmals der „Schwere der Tat“ im Sinne von § 140 Abs. 2 StPO, weil später voraussichtlich eine Freiheitsstrafe/ (Einheits-) Jugendstrafe von mehr als einem Jahr unter Berücksichtigung des hiesigen geringfügigen Delikts zu erwarten ist. Vielmehr ist eine Prüfung im Einfall erforderlich, ob das andere Verfahren und die Erwartung einer späteren Gesamtstrafe/Einheitsjugendstrafe das Gewicht des abzuurteilenden Falles tatsächlich so erhöht, dass die Mitwirkung des Verteidigers geboten ist.

Es macht nicht jede Bestellung eines Betreuers – auch nicht für den Aufgabenkreis Vertretung gegenüber Behörden – die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erforderlich, sondern es ist jeweils eine Einzelfallprüfung vorzunehmen. Ist aber die Betreuung mit einem weiten Aufgabenkreis eingerichtet worden und besteht sogar ein Einwilligungsvorbehalt für Vermögensangelegenheiten ist ein Pflichtverteidiger zu bestellen.

Verkehrsrecht III: Geschwindigkeitsüberschreitung, oder: Dichtes Auffahren des Hintermannes

Und als dritte Entscheidung dann der KG, Beschl. v. 02.08.2023 – 3 ORbs 158/23 – 122 Ss 71/23. Am Aktenzeichen erkennt man, dass die Entscheidung ein OWi-Verfahren betrifft.

Es geht um eine Geschwindigkeitsüberschreitung. Die Polizei Berlin hat mit Bußgeldbescheid v gegen den Betroffenen wegen einer innerörtlich begangenen Geschwindigkeitsüberschreitung um 38 km/h (erlaubt: 50 km/h) eine Geldbuße von 260 Euro verhängt und ein einmonatiges Fahrverbot angeordnet. Dagegen der Einspruch. Das AG hat dann in seinem Urteil nur eine Geschwindigkeitsüberschreitung von 25 km/ für erwiesen angesehen. In der Beweiswürdigung heißt es insoweit:

„Auf dem Tatvideo ist zu erkennen, dass der Betroffene zunächst gleichbleibend mit einer Geschwindigkeit von etwa 75 Stundenkilometern auf der äußerst rechten Fahrspur fährt, als ein in der mittleren Fahrspur fahrendes Klein-fahrzeug in dem Moment in die rechte Fahrspur wechseln wollte, als sich der Betroffene mit seinem Fahrzeug auf Höhe dieses Fahrzeugs befand, musste das Kleinfahrzeug ruckartig in die mittlere Fahrspur zurücklenken und der Betroffene sein Fahrzeug kurz abbremsen. Dabei ist zu erkennen, dass das messende Polizeifahrzeug so dicht auf den vom Betroffenen geführten PKW auffährt, dass zwar noch das Kennzeichen zu erkennen ist, nicht jedoch der untere hintere Karosserieabschluss des Fahrzeugs des Betroffenen. Nach einem Abbremsen beschleunigte der Betroffene dann das Fahrzeug und fährt über die mittlere in die äußerst linke Fahrspur ein, wobei er das Fahrzeug stark beschleunigt. Ebenfalls ist auf dem Tatvideo zu erkennen, dass die Beschleunigung vom Messwert 1.540 bis 1.600 Meter andauert und der Betroffene sodann die von ihm gefahrene Geschwindigkeit verringert, ohne das Fahrzeug abzubremsen. Während des Spurwechsels von der äußerst rechten in die äußerst linke Fahrspur und eine kurze Fahrtstrecke auf der äußerst linken Fahrspur verringert sich der Abstand des hinterherfahrenden Fahrzeugs nicht. Erst als der Betroffene das Fahrzeug ohne Abbremsung des Fahrzeugs die Geschwindigkeit verringert und schließlich in die äußerste rechte Fahrbahn wechselt, wird der Abstand zum Polizeifahrzeug deutlich größer.“

Dagegen die Rechtsbeschwerder der Amtsanwaltschaft, die beim KG Erfolg hatte:

„1. Die Feststellungen des angefochtenen Urteils enthalten keinerlei Ausführungen zur inneren Tatseite. Ob sich dies im hier gegebenen Fall einer innerorts fahrlässig begangenen Geschwindigkeitsüberschreitung bereits als durchgreifender und zur Aufhebung des Urteils führender Rechtsfehler erweist, kann offenbleiben. Denn auch die Beweiswürdigung ist unzureichend.

2. So stehen die Feststellungen im Widerspruch zu den erhobenen Beweisen. Während es bei den Feststellungen heißt, der Betroffene habe die zulässige Geschwindigkeit „um 25 Stundenkilometer“ überschritten, heißt es bei der Beweiswürdigung, der Betroffene habe, ausgehend von einer Geschwindigkeit von 75 km/h, noch „weiter beschleunigt“ (UA S. 3). Bei den Feststellungen, jedenfalls aber bei der Beweis-würdigung, müsste sich somit der über 75 km/h liegende Wert finden, den das Amtsgericht für objektiv erwiesen erachtet. Dies gilt auch für den Fall, dass das Amtsgericht diesen Wert für „nicht vorwerfbar“ (UA S. 4) hält. Denn nur, wenn die vom Betroffenen tatsächlich gefahrene Geschwindigkeit mitgeteilt wird, kann das Rechtsbeschwerdegericht die Würdigung des Tatrichters überprüfen, ob der Wert auch „vorwerfbar“ ist.

3. Auch bleibt gänzlich unklar, auf welcher Grundlage das Amtsgericht zum Ergebnis gekommen ist, dass der Betroffene die zulässige Geschwindigkeit um – nur – 25 km/h überschritten hat. Aus der Beweiswürdigung ergibt sich, dass der Betroffene von einem Polizeifahrzeug verfolgt worden ist; offenbar ist die Geschwindigkeit also durch Nachfahren bestimmt worden.

a) Das Amtsgericht teilt nicht mit und nimmt für seine schriftlichen Urteilsgründe da-mit nicht in Anspruch, dass die Geschwindigkeit durch ein zugelassenes und geeichtes Messgerät bestimmt worden ist. Dem Urteil ist weder die Bezeichnung eines bestimmten Messverfahrens zu entnehmen noch die Veranschlagung eines bei diesem Messverfahren angezeigten Toleranzabzugs. Die Beweiswürdigung kann damit auch die Vereinfachungen, die für standardisierte Messverfahren gelten (vgl. zuletzt BVerfG, Beschluss vom 20. Juni 2023 – 2 BvR 1167/20 – [juris]), nicht beanspruchen. Die Beweise müssen somit in einer Weise dargelegt und gewürdigt werden, die es dem Rechtsbeschwerdegericht erlaubt, die Überzeugungsbildung des Tatgerichts nachvollziehen (vgl. Senat DAR 2015, 99). Dies ist hier nicht geschehen.

b) Die Beweiswürdigung enthält schon keine Angaben zur Messstrecke. Zwar ist der rechtlichen Würdigung zu entnehmen, dass es eine „Gesamtmessstrecke von ca. 1.600 Metern“ (UA S. 4) gegeben habe. Allerdings enthält das Urteil keine konsistenten Angaben zu dem vom verfolgenden Polizeifahrzeug während des gesamten Messvorgangs eingehaltenen Abstand (vgl. zum sog. Verfolgungsabstand grundlegend Senat DAR 2015, 99). Die Beweiswürdigung enthält lediglich eine kurze Sequenz dazu, dass das Polizeifahrzeug einmal dicht aufgefahren sei und dass sich der Abstand später „nicht verringert“ habe (UA S. 3). Zur Höhe des festgestellten Bruttowerts, also dem auf dem Tachometer des Polizeifahrzeugs abgelesenen Wert, verhält sich das Urteil ebenso wenig wie zum abgezogenen Toleranzwert. Auch ver-schweigt das Urteil, ob der Tacho des verfolgenden Fahrzeugs geeicht war, was in aller Regel von Bedeutung für den zu veranschlagenden Toleranzabzug ist. Die An-forderungen an einen durch Nachfahren gewonnen Nachweis der Geschwindigkeit verfehlt das Urteil damit auf ganzer Linie.

4. Fehl geht auch die im Rahmen der rechtlichen Würdigung dargestellte Überlegung, eine – möglicherweise tatsächlich festgestellte, aber im Urteil nicht belegte – Geschwindigkeitsüberschreitung von 38 km/h sei dem Betroffenen „nicht vorzuwerfen“, weil „diese lediglich über eine Geschwindigkeit [gemeint offenbar: Strecke] von nicht einmal 200 Metern bei einer Gesamtmessstrecke von ca. 1600 Metern andauerte“ und der Betroffene sich bedrängt gefühlt habe (UA S. 5). Möchte das Amtsgericht hier andeuten, der Betroffene sei mit der erheblichen Geschwindigkeitsüberschreitung um 38 km/h wegen dichten Auffahrens des nachfolgenden Polizeifahr-zeugs gerechtfertigt oder entschuldigt, so hat es nicht nur das äußere Geschehen aufzuklären und darzustellen, sondern auch die subjektive Seite mitzuteilen und zu erörtern. Denn einen Rechtssatz, eine Annäherung des nachfolgenden Fahrzeugs erlaube eine – zumal drastische – Missachtung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit, gibt es nicht. Hält das Amtsgericht eine Geschwindigkeitsüberschreitung gleich-wohl für „nicht vorwerfbar“, so hat es die konkreten Umstände in tatsächlicher Hin-sicht darzustellen und in rechtlicher Hinsicht einzuordnen. Dies gilt umso mehr, als hier wohl die Überschreitung um 25 km/h für „vorwerfbar“ gehalten wird, nicht aber die überschießenden 13 km/h. Im Übrigen lassen weder die Feststellungen noch die Beweiswürdigung einen örtlichen, zeitlichen oder gar inneren Zusammenhang zwischen einem „dichten“ Auffahren des Polizeifahrzeugs und der erheblichen Geschwindigkeit des Betroffenen erkennen.“

Und dann – unschön für den Betroffenen – noch:

„5. Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben, und die Sache ist zu neuer Ver-handlung und Entscheidung an das Amtsgericht zurückzuverweisen. Informatorisch teilt der Senat mit, dass die Messung hier offenbar mit einem als standardisiert anerkannten Messverfahren (ProVida mit Auswertung durch ViDistA, vgl. Senat VRR 2022, Nr. 3 [Volltext bei juris]) vorgenommen wurde und die festgestellte Durchschnittsgeschwindigkeit über 271 Meter 88 km/h betrug. Bereits bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung von 40% kommt, sofern nicht besondere Umstände eine ab-weichende Wertung veranlassen, regelmäßig nur Vorsatz in Betracht (ständige Rspr. des Senats, vgl. zuletzt VRR 2019, Nr. 8 [Volltext bei juris] m. Anm. Krenberger, jurisPR-VerkR 2/2020 Anm. 5).“

Verkehrsrecht II: Trunkenheitsfahrt mit E-Scooter, oder: Ist die Entziehung der Fahrerlaubnis die Regel?

entnommen wikimedia.org – gemeinfrei

Vor gut drei Wochen ist in der Presse und auch im Internet über das LG Osnabrück, Urt. v. 17.08.2023 – 5 NBs 59/23 – berichtet worden. Thematik der Entscheidung: Entziehung der Fahrerlaubnis nach einer Trunkenheitsfahrt mit einem E-Scooter. Darüber habe ich hier ja auch schon öfters berichtet, und zwar zuletzt über den LG Lüneburg, Beschl. v. 27.06.2023 – 111 Qs 42/23 und das OLG Frankfurt am Main, Urt. v. 08.05.2023 – 1 Ss 276/22.

Nun also noch/auch das LG Osnabrück. Ich habe mir die Entscheidung besorgt und kann daher heuer über den Volltext berichten. Ich habe gern erst den Volltext, bevor ich hier berichte.

Zur Sache: Das AG hatte nach einer Trunkenheitsfahrt mit dem E-Scooter die Fahrerlaubnis nicht entzogen. Dagegen die Berufung der Staatsanwaltschaft, die keinen Erfolg hatte:

„Auch, wenn E-Scooter nach der Rechtsprechung des BGH wie Autos zu behandeln sind, ist damit gleichwohl der Anwendungsbereich des ausnahmsweisen Absehens von Maßregeln nach §§ 69, 69 a StGB bei Nicht-Vorliegen eines „Regelfalls“ eröffnet. Neben den bereits vom Amtsgericht angeführten Umständen ist in der Berufungsinstanz noch weiter in den Blick zu nehmen, dass der Angeklagte mittlerweile ganz alkoholabstinent lebt und dies für den Zeitraum Februar bis Juli 2023 mit entsprechenden Haarprobenanalysen belegt hat. Überdies hat er auch an zwei verkehrspädagogischen Maßnahmen im Juni und Juli 2023 teilgenommen.“

Man sieht, steht nicht viel drin in der Entscheidung. Es handelt sich ja auch um ein wegen der Rechtskräft abgekürztes Urteil. In der vom LG zu der Entscheidung herausgegebenen Pressemitteilung heißt es noch:

„Eine Ausnahme sah das LG in dem hier zu entscheidenden Fall: Der Mann habe lediglich beabsichtigt, 150 Meter mit dem E-Scooter zu fahren. Zudem bereue er die Tat, er habe sich entschuldigt und an einem verkehrspädagogischen Seminar teilgenommen. Auch habe er nachgewiesen, dass er die vergangenen Monate keinen Alkohol getrunken habe. Das LG befand damit die vom Amtsgericht in erster Instanz verhängte Geldstrafe in Verbindung mit einem Fahrverbot von fünf Monaten für ausreichend.“

Das sind dann wohl die „vom Amtsgericht angeführten Umstände“, auf die sich das LG auch bezogen hat. Die stehen aber eben nicht in der LG-Entscheidung. Und darum habe ich lieber immer erstmal den Volltext 🙂 .

 

Verkehrsrecht I: Straßenverkehrsgefährdung, oder: Grob rücksichtlos und grob verkehrswidrig

Überholen Verkehrs

Heute stelle ich drei Entscheidungen mit verkehrsrechtlichem Einschlag vor.

Den Opener mache ich mit dem OLG Koblenz, Beschl. v. 20.07.2023 – 4 ORs 4 Ss 16/23. Der ist schon einmal Gegenstand der Berichterstattung gewesen, und zwar wegen der vom OLG entschiedenen verfahrensrechtlichen Fragen (siehe hier: StPO III: Zustandekommen einer Verständigung, oder: Mitteilungs- und Belehrungspflicht). Heute stelle ich den Beschluss vor wegen der Segelanweisung die das OLG im Hinblick auf die angeklagten Taten gegeben hat, darunter auch ein Verstoß gegen § 315c StGB:

„5. Für die erneut durchzuführende Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:

a) Im Fall eines erneuten Schuldspruches wegen des Delikts des § 315c Abs. 1 Nr. 2 b) StGB bedarf es einer intensiveren Auseinandersetzung mit gleich mehreren Tatbestandsmerkmalen der Vorschrift. Der neue Tatrichter hat insoweit entsprechende – ausführlichere Feststellungen zu treffen und deren Vorliegen im Rahmen der Beweiswürdigung tragend zu begründen.

aa) So verhält sich grob rücksichtslos, wer sich aus eigensüchtigen Gründen über die ihm bewusste Pflicht zur Vermeidung unnötiger Gefährdung anderer (§ 1 StVO) hinwegsetzt oder aus Gleichgültigkeit Bedenken gegen sein Verhalten von vornherein nicht aufkommen lässt (vgl. BGH, Urt. 4 StR 796/53 v. 25.02.1954; BayObLG, Urt. RReg 1 St 101/86 v. 22.08.1986 – jew. n. juris).

Als subjektives Merkmal kann Rücksichtslosigkeit nicht schlechthin aus dem äußeren Tathergang gefolgert werden. Die Umschreibung, dass der Angeklagte zum Zwecke des schnelleren Fortkommens überholen wollte, reicht nicht aus. Jeder, der überholt, will schneller sein Fahrtziel erreichen. Es hat vielmehr eine Auseinandersetzung damit zu erfolgen, aus welchen Motiven der Angeklagte schneller vorankommen wollte.

bb) Gleiches gilt für das Merkmal des grob verkehrswidrigen Verhaltens. Grob verkehrswidrig ist ein nach Sachlage besonders gefährliches Abweichen vom pflichtgemäßen Verhalten (BeckOK-StGB/v. Heintschel-Heinegg, 57. Ed. § 315c Rn. 39). Zwar kann ein Autofahrer, der mit hoher Geschwindigkeit auf ein vorausfahrendes Fahrzeug auffährt, rechts überholt und sodann wieder einschwenkt und abbremst, sich dabei grob verkehrswidrig verhalten. Es bedarf jedoch tatrichterlicher Feststellungen zur Fahrtgeschwindigkeit des Angeklagten, des vorausfahrenden Fahrzeugs, der Anzahl der Fahrspuren der Autobahn sowie der Verkehrsdichte.

cc) Eine konkrete Gefährdung liegt vor, wenn das Gefährdungsobjekt so in den Wirkbereich der schadensträchtigen Tathandlung gelangt ist, dass der Eintritt eines Schadens nicht mehr gezielt abgewendet werden kann und sein Ausbleiben folglich nur noch von bloßen Zufälligkeiten abhängt; es muss also ein sog. „Beinaheunfall“ vorliegen, bei dem es rückblickend nur „gerade noch einmal gut gegangen“ ist (BGH, Beschl. 4 StR 375/68 v. 05.03.1969; 4 StR 667/11 v. 25.04.2012; 4 StR 725/94 v. 30.03.1995 -jew. n. juris). Letzteres ist anhand der konkreten Umstände mit Angaben etwa zu den gefahrenen Geschwindigkeiten, zur Intensität der Gefahrenbremsungen sowie dazu, inwieweit im Fall einer Kollision auch Leib und Leben der gefährdeten Person oder einer fremden Sache von bedeutendem Wert bedroht gewesen wären, darzulegen (vgl. BGH, Beschl. 4 StR 324/13 v. 24.09.2013 -BeckRS 2013, 18828; 4 StR 188/15 v. 30.06.2015 – BeckRS 2015, 13519).

dd) Darüber hinaus bedürfte im Falle erneuter Annahme des Vorliegens eines bedingten Vorsatzes hinsichtlich der Gefährdung derselbe eingehenderer Begründung sowie einer Abgrenzung zumindest zur bewussten Fahrlässigkeit.

b) Im Falle einer erneuten Verurteilung hat der Urteilstenor die Schuldform auszuweisen, da das Delikt ausweislich § 315c Abs. 3 Nr. 2 StGB sowohl vorsätzlich als auch fahrlässig begangen werden kann. Gleiches gilt hinsichtlich der konkreten Gefährdung, § 315c Abs. 3 StGB.

c) Die neuen schriftlichen Urteilsgründe haben sich, ausführlicher als bislang geschehen, mit der Einlassung des Angeklagten auseinanderzusetzen, die jedenfalls ihrem wesentlichen Inhalt nach wiederzugeben ist. Dies gilt auch in Fällen, in denen der Angeklagte ein Geständnis ablegt, denn ein Geständnis enthebt den Tatrichter nicht von der Pflicht, dieses einer kritischen Prüfung auf Plausibilität und Tragfähigkeit hin zu unterziehen und zu den sonstigen Beweismitteln in Beziehung zu setzen. Diese Maßstäbe gelten auch in Fällen, in denen der Angeklagte im Rahmen einer Verfahrensverständigung ein Geständnis ablegt (vgl. BGH, Beschl. 2 StR 75/14 v. 21.07.2015 – juris). Die Verständigung über den Strafrahmen darf gerade nicht dazu führen, dass ein Geständnis dem Schuldspruch zugrunde gelegt wird, ohne dass sich der Tatrichter von dessen Richtigkeit überzeugt (BVerfG, Urt. 2 BvR 2628/10 v. 19.03.2013, 2 BvR 2883/10 v. 21.06.2012 – jew. n. juris).“

Nichts Neues, aber die Ausführungen zeigen noch einmal, worauf es ankommt.

StPO III: Die Begründung der sog. Inbegriffsrüge, oder: Was muss auf jeden Fall vorgetragen werden?

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Und zum „krönenden“ Abschluss des Tages hier dann noch der OLG Naumburg, Beschl. v. 22.05.2023  – 1 ORs 64/23 – zur Zulässigkeit und zur Begründetheit einer sog. Inbegriffsrüge. Die Entscheidung war übrigens neulich Gegenstand der Fortbildung bei den 4. Erfurter Strafrechtsgesprächen

Folgender Sachverhalt: Das AG verurteilt den Angeklagten wegen Diebstahls von Baumaschinen. Dagegen zunächst die Berufung. Der Verteidiger wechselt dann, als er die Begründung des AG gelesen hat 🙂 , zur Sprungrevision und begründet diese mit mehreren Verfahrensrügen und der Rüge materiellen Rechts näher. Und der Kollege Siebers aus Braunschweig, der mir den Beschluss geschickt hat, hat mit dem Rechtsmittel Erfolg:

„Die (Sprung-)Revision hat auch in der Sache – zumindest vorläufig – Erfolg und führt schon auf die erhobene Verfahrensrüge einer Verletzung des § 261 StPO (Inbegriffsrüge) zur Aufhebung des angefochtenen Urteils. Eines Eingehens auf die weiter erhobenen Rügen bedarf es daher nicht mehr.

Die Inbegriffsrüge, mit welcher der Angeklagte beanstandet, dass die im angefochtenen Urteil enthaltenen Feststellungen zur Schadenshöhe, zu Folgen der Tat auf den Ablaufplan und die Organisation der Baustelle, zu Mehrkosten verursachenden Verzögerungen des Baufortschritts, zum Verbleib des Schadens bei der geschädigten Firma und zur Frage der Spontanität des Tatentschlusses nicht durch die in der Hauptverhandlung verwendeten Beweismittel gewonnen worden sind, ist in zulässiger Weise erhoben. Die Revision trägt vor, dass außer der über seinen Verteidiger vorgebrachten Einlassung des Angeklagten, mit der der Tatvorwurf bis auf die Schadenshöhe eingeräumt wurde, keinerlei Beweise in der Hauptverhandlung erhoben wurden, was durch das in der Revisionsbegründung mitgeteilte Hauptverhandlungsprotokoll bewiesen wird (§ 274 Abs. 1 StPO). Weiter trägt die Revision ¬wie erforderlich – vor, dass die Feststellungen auch nicht durch andere Vorgänge, die zum Inbegriff der Hauptverhandlung gehören, gewonnen worden sind.

Die Verfahrensrüge ist begründet, da das Gericht seine Überzeugung von den Folgen der Tat für die geschädigte Firma unter Verstoß gegen § 261 StPO gewonnen hat, wonach die Überzeugungsbildung aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung zu schöpfen ist. Es ist nicht ersichtlich, worauf das Gericht seine Überzeugung,

–  der Wiederbeschaffungswert der entwendeten Werkzeuge und Baumaschinen betrage 42.000,00 €,

– durch die Tat des Angeklagten sei der Ablaufplan und die Organisation der Baustelle massiv und empfindlich gestört worden,

– es sei davon auszugehen, dass der Baufortschritt der Baustelle sich erheblich verzögert habe. was mit erheblichen Mehrkosten verbunden sei

– der Schaden sei bei der geschädigten Firma verblieben,

stützt. Der Einlassung des Angeklagten sind diese Ausführungen nicht zu entnehmen. Weitere Beweise wurden nicht erhoben. Die Verzögerung des Baufortschritts oder der Verbleib des Schadens bei der geschädigten Firma sind auch nicht zwingende Folgen eines Diebstahls von Bauwerkzeugen, da die Möglichkeit der Verfügbarkeit von Ersatzgeräten beziehungsweise des Eintritts einer Versicherung besteht.

Auf der Verletzung des § 261 StPO beruht das Urteil, da das Amtsgericht den o.g. Feststellungen bei seiner Strafzumessung zum Nachteil des Angeklagten Relevanz beigemessen hat. Darüber hinaus liegt ein Verstoß gegen den Anspruch des Angeklagten auf rechtliches Gehör vor. Gründet das Gericht seine Überzeugung nämlich auch auf Tatsachen, die nicht Gegenstand der Hauptverhandlung waren, zu denen sich also der Angeklagte dem erkennenden Gericht gegenüber nicht abschließend äußern könnte, so verstößt das Verfahren nicht nur gegen § 261 StPO, sondern zugleich auch gegen den in § 261 StPO zum Ausdruck kommenden Grundsatz des rechtlichen Gehörs (BGH, 2 StR 433/15 v. 21.01.2016, NStZ 2017, 375, beck-online; KG, 3 Ws 282/17122 Ss 174/17 v. 14.09.2017).“

Alles richtig gemacht. Vor allem hat die Revisionsbegründung den wichtigen Satz enthalten, „dass die Feststellungen auch nicht durch andere Vorgänge, die zum Inbegriff der Hauptverhandlung gehören, gewonnen worden sind“. Ohne den wird die sog. Inbegriffsrüge keinen Erfolg haben. Schon gar nicht beim 1. Strafsenat des OLG Naumburg :-).

Im Übrigen auch hier: „zumindest – vorläufig Erfolg„. Die Formulierung ist m.E. – gelinde ausgedrückt – überflüssig, wenn nicht falsch. Denn diese Revision hat nicht nur „vorläufig Erfolg„, sondern endgültig. Das AG-Urteil wird aufgehoben.