Archiv für den Monat: Mai 2022

StPO II: Beteiligung an „Blutrache-Messerattacke?, oder: Die (abgelehnte) Ladung des Auslandszeugen

In der zweiten Entscheidung, dem BGH, Beschl. v. 16.02.2022 – 4 StR 392/20 – hat der BGh noch einmal zum Auslandzeugen Stellung genommen. Ergangen ist der Beschluss in einem Verfahren, in dem dem Angeklagten ein versuchter Mord zur Last gelegt worden ist. Der Angeklagte hat dann mit seiner Verfahrensrüge in der Revision die fehlerhafte Ablehnung von zwei Beweisanträgen gerügt und dazu folgende Verfahrensgeschehen vorgetragen:

Der Angeklagte hatte in der Hauptverhandlung bestritten, sich an dem ihm zur Last gelegten (Messer)Angriff, bei dem es vermutlich um Blutrache ging, beteiligt zu haben. Er sei zwar am Tattag in Bielefeld, dem Tatort gewesen, habe die von ihm verlangte Beteiligung aber u.a. gegenüber einem Onkel F. abgelehnt und sich vom späteren Tatort entfernt.

Die Verteidigerin des Angeklagten hat in der Hauptverhandlung beantragt, den mit einer Anschrift in der Türkei benannten F. „unter Zusicherung freien Geleits“ als Zeugen zu vernehmen. Der Antrag hatte unter anderem die Beweisbehauptung zum Gegenstand, der Angeklagte habe sich an der Tat nicht beteiligt. Bereits zuvor hatte das LG ein Rechtshilfeersuchen an die türkischen Polizeibehörden gestellt, um die Anschrift des F. in der Türkei zu ermitteln und um ihn befragen zu lassen, ob er „zu einer Aussage bereit sei“. Auf dieses Ersuchen teilte die türkische Polizei die Anschrift des Zeugen sowie das Protokoll einer Vernehmung mit, demzufolge der Zeuge auf die Frage nach seiner Aussagebereitschaft erklärt habe, dass „er in dieser Angelegenheit nicht als Zeuge antreten möchte“.

Das LG lehnte den Beweisantrag nach § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO ab. Dagegen die Revision, die Erfolg hatte:

„2. Die nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO zulässig ausgeführte Verfahrensrüge ist begründet. Das Landgericht hat die Beweisanträge mit rechtsfehlerhafter Begründung abgelehnt.

a) Bei der Ablehnung eines Beweisantrags auf Vernehmung eines Zeugen, dessen Ladung im Ausland zu bewirken wäre, ist das Gericht von dem Verbot der Beweisantizipation befreit und darf seine Entscheidung davon abhängig machen, welche Ergebnisse von der beantragten Beweisaufnahme zu erwarten sind und wie diese zu erwartenden Ergebnisse zu würdigen wären. Kommt es unter Berücksichtigung sowohl des Vorbringens zur Begründung des Beweisantrags, als auch der in der bisherigen Beweisaufnahme angefallenen Erkenntnisse zu dem Ergebnis, dass ein Einfluss auf seine Überzeugung auch dann sicher ausgeschlossen ist, wenn der benannte Zeuge die in sein Wissen gestellte Behauptung bestätigen werde, ist eine Ablehnung des Beweisantrags rechtlich nicht zu beanstanden (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 12. Juli 2018 – 3 StR 144/18; Urteil vom 13. März 2014 – 4 StR 445/13; Urteil vom 18. Januar 1994 – 1 StR 745/93, BGHSt 40, 60, 62; einschränkend Frister in SK-StPO, 5. Aufl., § 244 Rn. 240). In dem hierfür erforderlichen Gerichtsbeschluss (§ 244 Abs. 6 Satz 1 StPO) müssen die maßgeblichen Erwägungen so umfassend dargelegt werden, dass es dem Antragsteller möglich wird, seine Verteidigung auf die neue Verfahrenslage einzustellen und das Revisionsgericht überprüfen kann, ob die Antragsablehnung auf einer rational nachvollziehbaren, die wesentlichen Gesichtspunkte des Einzelfalles erkennbar berücksichtigenden Argumentation beruht (BGH, Beschluss vom 12. Juli 2018 – 3 StR 144/18; Urteil vom 13. März 2014 – 4 StR 445/13; Urteil vom 18. Januar 1994 – 1 StR 745/93, BGHSt 40, 60, 63; Becker in Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 244 Rn. 359).

Ob das Gebot des § 244 Abs. 2 StPO, die Beweisaufnahme zur Erforschung der Wahrheit auf alle entscheidungsrelevanten Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, es gebietet, dem Beweisantrag auf Vernehmung eines Auslandszeugen nachzukommen, kann nur unter Berücksichtigung der jeweiligen Besonderheiten des Einzelfalles beurteilt werden. Allgemein gilt lediglich der Grundsatz, dass bei einem durch die bisherige Beweisaufnahme gesicherten Beweisergebnis auf breiter Beweisgrundlage eher von der Vernehmung des Auslandszeugen abgesehen werden kann. Dagegen wird die Vernehmung des Auslandszeugen umso eher notwendig sein, je ungesicherter das bisherige Beweisergebnis erscheint, je größer die Unwägbarkeiten sind und je mehr Zweifel hinsichtlich des Werts der bisher erhobenen Beweise überwunden werden müssen; dies gilt insbesondere dann, wenn der Auslandszeuge Vorgänge bekunden soll, die für den Schuldvorwurf von zentraler Bedeutung sind (BGH, Beschluss vom 12. Juli 2018 – 3 StR 144/18; Urteil vom 13. März 2014 – 4 StR 445/13; Beschluss vom 26. Oktober 2006 – 3 StR 374/06; Becker in Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 244 Rn. 357).

Die Möglichkeit, nach § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO einen Beweisantrag auf Vernehmung eines Auslandszeugen abzulehnen, erfasst nicht nur Fälle der voraussichtlichen Unergiebigkeit der Zeugenaussage oder der Unerreichbarkeit des Zeugen, sondern – als Unterfall der Unerreichbarkeit – grundsätzlich auch solche Fallgestaltungen, in denen der Aufenthalt eines Zeugen zwar bekannt, aber damit zu rechnen ist, dass er entweder einer Ladung nicht folgen oder im Falle seines Erscheinens keine Angaben zur Sache machen werde. Dies gilt insbesondere für Zeugen, die der Beteiligung an der Tat verdächtig sind und denen deswegen ein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO zusteht (BGH, Beschluss vom 23. Oktober 2013 – 5 StR 401/13; Beschluss vom 25. April 2002 – 3 StR 506/01; Becker in Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 244 Rn. 357).

b) Diesen Maßstäben entsprechen die Ablehnungsbeschlüsse schon deshalb nicht, weil sie bereits im Ausgangspunkt die erforderliche Gesamtwürdigung vermissen lassen, ob die Aufklärungspflicht gemäß § 244 Abs. 2 StPO die beantragte Vernehmung des Zeugen gebot. Das Landgericht hat seine Prüfung ausschließlich auf einen einzigen Gesichtspunkt, nämlich die mutmaßliche Aussagebereitschaft des Zeugen bezogen. Dadurch hat es sich den Blick für die Frage verstellt, welches Gewicht seiner Aussage in der Beweiswürdigung gegebenenfalls zuzumessen wäre und welche Anstrengungen demnach zu unternehmen waren, um seine Vernehmung herbeizuführen. Für ein erhebliches Gewicht der Aussage sprach, dass der Angeklagte die Tatbeteiligung bestritt und unmittelbare Tatzeugen ihn nicht als Täter identifizieren konnten. Der Beweis seiner Täterschaft stützte sich allein auf – allerdings ihrerseits gewichtige – Indizien, namentlich auf seine Anwesenheit in Bielefeld zur Tatzeit, das von der Polizei aufgezeichnete Telefonat mit seinem Vater und das Motiv der Rache für die Ermordung seines Bruders. Damit konnte die Aussage des F. als eines mutmaßlichen, am Tatort handelnden Mittäters für eine Belastung oder Entlastung des Angeklagten von zentraler Bedeutung sein, da sie möglicherweise geeignet war, seine Täterschaft zu beweisen oder die für seine Täterschaft sprechenden Indizien zu entkräften, etwa die Existenz oder die Anwesenheit des unbekannt gebliebenen „A. “ am Tatort.

Soweit das Landgericht die Ablehnung der Vernehmung allein damit begründet hat, der Zeuge habe bei der türkischen Polizei angegeben, er wolle „in dieser Angelegenheit nicht als Zeuge antreten“, ist dies auch für sich genommen ermessensfehlerhaft, da das Landgericht aus der Erklärung des Zeugen zu weit gehende Schlussfolgerungen gezogen hat und damit bei seiner Entscheidung von einer falschen Voraussetzung ausgegangen ist. Es hat zu Unrecht angenommen, der Zeuge sei unter keinen Umständen bereit, vernommen zu werden, und damit unerreichbar. Denn der herangezogenen Erklärung des Zeugen gegenüber der türkischen Polizei im Rahmen des Rechtshilfeersuchens ließ sich ein derart weitreichender Bedeutungsgehalt nicht entnehmen. Der Zeuge war auf Ersuchen des Landgerichts lediglich pauschal nach seiner Aussagebereitschaft gefragt worden, ohne über die rechtlichen Bedingungen einer Zeugenaussage aufgeklärt worden zu sein. Insbesondere war er weder über die Möglichkeit freien Geleits gemäß Art. 12 Abs. 1 des Europäischen Rechtshilfeübereinkommens (EuRHÜbk) unterrichtet worden, noch über Auskunfts- und Zeugnisverweigerungsrechte. Angesichts der an ihn gerichteten unspezifischen Frage nach der Bereitschaft, als Zeuge auszusagen, ließ die Antwort offen, ob der Zeuge sich als mutmaßlicher Mittäter auf ein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO oder mit Blick auf seine Verwandtschaft zum Angeklagten und zum Mitangeklagten S. auf ein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 Abs. 1 Nr. 3 StPO berufen wollte, oder ob er – nicht fernliegend – zu einer Zeugenaussage in Deutschland deshalb nicht bereit war, weil er in Unkenntnis des Rechtsinstituts des freien Geleits damit rechnete, bei der Einreise verhaftet zu werden.

c) Das Urteil beruht auf dem Rechtsfehler. Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Landgericht zu einer anderen Würdigung der Beweise gelangt wäre, wenn der Zeuge die in sein Wissen gestellten Umstände bestätigt hätte. Er hebt das angefochtene Urteil daher auf.“

StPO I: Die DNA-Mischspur als Beweisanzeichen, oder: Anforderungen an die Urteilsgründe

Ich stelle heute dann seit längerem mal wieder StPO-Entscheidungen vor.

An der Spitze hier dann zunächst der schon etwas ältere BGH, Beschl. v. 20.01.2022 – 5 StR 410/21 -, der noch einmal zu den Anforderungen an die Urteilsgründe Stellung nimmt, wenn die Feststellungen u.a. auf eine sog. DNA-Mischspur gestützt werden. Das LG hat den Angeklagten wegen gemeinschaftlichen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt. Dagegen das Rechtsmittel des Angeklagten, das mit der Sachrüge Erfolg hatte:

„Die Strafkammer hat sich von der (Mit-)Täterschaft des diese bestreitenden Angeklagten unter anderem aufgrund von in der Bunkerwohnung gefundenen übereinstimmenden DNA-Mischspuren überzeugt. Diese wurden an einem Koffer und an einer Plastiktüte festgestellt, in denen sich jeweils Betäubungsmittel befanden. Die Darstellung der Ergebnisse der molekulargenetischen Gutachten entspricht jedoch nicht den Anforderungen, die der Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung daran stellt.

Insoweit gilt: Während bei Einzelspuren jedenfalls das Gutachtenergebnis in Form einer numerischen biostatistischen Wahrscheinlichkeitsaussage mitgeteilt werden muss, ist bei Mischspuren hingegen grundsätzlich darzulegen, wie viele Systeme untersucht wurden, ob und inwieweit sich Übereinstimmungen in den untersuchten Systemen ergeben haben und mit welcher Wahrscheinlichkeit die festgestellte Merkmalskombination bei einer anderen Person zu erwarten ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 28. August 2018 – 5 StR 50/17, BGHSt 63, 187; vom 9. November 2021 – 4 StR 262/21; vom 18. August 2021 – 5 StR 217/21; vom 12. August 2021 – 2 StR 325/20; vom 14. Juli 2021 – 6 StR 303/21, jeweils mwN). Daran fehlt es jeweils.

Der Senat kann angesichts der Bedeutung, die das Landgericht diesen Beweisanzeichen beigemessen hat, nicht ausschließen, dass das Urteil auf dem Rechtsfehler beruht. Denn ungeachtet der im Übrigen für eine Täterschaft des Angeklagten streitenden Indizien (wie etwa die Anmietung der Wohnung und Besitz eines zugehörigen Schlüssels, die DNA-Einzelspuren an Gummihandschuhen, die von Zeugen beschriebenen Verkaufsgeschäfte, das Notizbuch mit Schuldnerlisten, die Behandlungsunterlagen) hat das Landgericht im Rahmen seiner Beweiswürdigung zur Tatherrschaft maßgeblich darauf abgestellt, dass der Angeklagte Mitverursacher der Mischspuren an Koffer und Plastiktüte sei, was seinen Zugriff auf die in der Wohnung gefundenen Betäubungsmittel belege.“

Pflichti III: Spätere Umbeiordnung/Auswechselung, oder: „Bekanntmachung“ und „Belehrung“ erfolgt?

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Und als letzte Entscheidung des Tages zum Komplex „Pflichtverteidigung“ dann noch der LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 09.03.2022 – 13 Qs 16/22, den mir der Kollege Lößel aus Alsdorf geschickt hat. Es geht um eine Umbeiordnung/Entpflichtung des anlässlich eines Vorführungstermin beigeordneten Rechtsanwalt.

Das AG hat die Entpflichtung und die Beiordnung des Kollegen Lößel abgelehnt. Auf die Beschwerde sieht das LG das anders und äußert sich zu zwei Fragen, nämlich zum Beginn der Frist des § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StPO und dazu, dass hier diese Frist überhaupt noch nicht zu laufen begonnen hatte wegen des Verstoßes gegen die Belehrungspflicht im Hinblick auf die Auswechslungsmöglichkeit und die Frist. In dem Zusammenhang positioniert sich die Kamamer gegen die Auffassung des Ermittlungsrichters beim BGH:

„(2) Jedoch handelt es sich bei den Anträgen des Angeklagten vom 19.01.2022 und 01.02.2022 durch Rechtsanwalt pp. um Anträge auf Auswechslung des Pflichtverteidigers im hiesigen Verfahren.

Diese sind im Ergebnis fristgerecht i.S.d § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO gestellt.

(a) Die Frist des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO beginnt mit der Bekanntgabe der Bestellung des Pflichtverteidigers.

Zwar wurde Rechtsanwalt pp. am 27.12.2021 durch Verfügung des Amtsgerichts Nürnberg im schriftlichen Verfahren bestellt, sodass der Angeklagte spätestens im Termin zur Anhörung nach vorläufiger Festnahme davon Kenntnis erlangte.

Maßgeblich für den Fristbeginn nach § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO ist jedoch nicht die tatsächliche Kenntnis, sondern die „Bekanntmachung“. Mit diesem Begriff wird ausweislich des Gesetzesentwurfs der Bundesregierung zum „Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019″ auf § 35 StPO Bezug genommen, der die Bekanntgabe regelt (BT-Drs. 19/13829, S. 47, wobei hier noch von einer zweiwöchigen Frist ausgegangen wird).

Ausweislich § 35 Abs. 1 StPO werden Entscheidungen, die in Anwesenheit der davon betroffenen Person ergehen, durch Verkündung bekannt gemacht und auf Verlangen eine Abschrift erteilt, und andere Entscheidungen gem. § 35 Abs. 2 StPO durch Zustellung bekannt gemacht, wobei nur dann eine formlose Mitteilung genügt, wenn die Bekanntmachung der Entscheidung keine Frist in Lauf setzt.

(b) Die Verfügung des Ermittlungsrichters vorn 27.12.2021, mit der Rechtsanwalt pp. zum Pflichtverteidiger bestellt wurde, wurde dem Angeklagten und Rechtsanwalt pp. formlos mitgeteilt. Eine Verkündung der Entscheidung im Anhörungstermin am 27.12.2021 erfolgte nicht. Ausweislich des Protokolls wurde lediglich festgestellt, dass der Angeklagte einen Verteidiger hat.

Da die Bekanntgabe der Pflichtverteidigerbestellung jedoch die Frist des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO in Gang setzt, wäre eine Zustellung der Entscheidung gem. § 35 Abs. 2 S. 1 StPO erforderlich gewesen (so auch OLG Koblenz, Beschluss vom 28.10.2020 – 4 Ws 639/20; im Übrigen heißt es auch im Gesetzesentwurf der Bundesregierung bereits wörtlich: „Mit dem Begriff der Bekanntmachung wird auf § 35 StPO Bezug genommen, so dass sowohl Verkündungen als auch — wegen des lnlaufsetzens der Frist zur Stellung des Antrags künftig erforderliche — Zustellungen hiervon erfasst sind.“).

Für dieses Zustellungserfordernis streitet nach Auffassung der Kammer auch noch ein weiterer Gesichtspunkt.

Unstreitig sind gem. § 35 Abs. 2 StPO insbesondere solche Beschlüsse zuzustellen, die mit der sofortigen Beschwerde angefochten werden können (vgl. MüKoStPOValerius, 1. Aufl. 2014, StPO, § 35 Rn. 25). § 142 Abs. 7 S. 1 StPO regelt die Anfechtbarkeit von gerichtlichen Entscheidungen über die Bestellung eines Pflichtverteidigers mit der sofortigen Beschwerde. § 142 Abs. 7 S. 2 StPO schließt dabei die sofortige Beschwerde aus, wenn der Beschuldigte einen Antrag nach § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO stellen kann.

Die Möglichkeit zur Stellung eines solchen Antrages lässt also die grundsätzlich bestehende Möglichkeit der sofortigen Beschwerde entfallen. Die gerichtliche Entscheidung ist mit dem Ziel der Auswechslung des Pflichtverteidigers nach Maßgabe des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO nicht mehr mit der sofortigen Beschwerde anfechtbar, das Ziel der Auswechslung des Pflichtverteidigers kann in diesem Fall (nur) durch den Antrag gem. § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO, der ebenfalls fristgebunden ist, erreicht werden. Aus diesem Ausschlussverhältnis zwischen sofortiger Beschwerde und Antrag nach § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO ist nach Auffassung der Kammer ebenfalls zu folgem, dass die Entscheidung über die Pflichtverteidigerbestellung gleichermaßen wie bei der Anfechtbarkeit mit der sofortigen Beschwerde gem. § 35 Abs. 2 StPO zuzustellen ist, wenn als einzige Korrekturmöglichkeit der Antrag nach § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO statthaft ist.

Bereits aus diesem Grund begann in Ermangelung einer fristauslösenden Zustellung die Drei-Wochen-Frist bislang nicht zu laufen.

(c) Überdies begann die Drei-Wochen-Frist des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO deshalb nicht zu laufen, weil der Angeklagte nicht auf die Möglichkeit der Auswechslung des Pflichtverteidigers und die dabei einzuhaltende Frist hingewiesen wurde.

Die Pflicht, auf dieses Recht hinzuweisen, ergibt sich für die Kammer aus einer entsprechenden Anwendung des § 35a Abs. 1 StPO, die auf gesetzessystematischen Erwägungen beruht.

Aus dem oben dargestellten Verhältnis der sofortigen Beschwerde nach § 142 Abs. 7 S. 1 StPO und dem Antrag nach § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO folgt, dass einem Beschuldigten statt der Möglichkeit eines Rechtsmittels mit Devolutiveffekt die Möglichkeit gegeben wird, instanzwahrend einen Antrag auf Auswechslung des Pflichtverteidigers zu stellen. Wenn aber über die Möglichkeit eines befristeten Rechtsmittels gem. § 35a S. 1 StPO belehrt werden muss, dann muss dies auch für den dieses Rechtsmittel ausschließenden, instanzwahrenden befristeten Antrag gem. § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO gelten. Denn nur dann, wenn er den entsprechenden Antrag und seine Frist kennt, kann es gerechtfertigt sein, dem Beschuldigten die grundsätzlich bestehende Möglichkeit eines Rechtsmittels zu verwehren (im Ergebnis auch OLG Koblenz, Beschluss vom 28.10.2020 – 4 Ws 639/20, Rn. 15-18).

Demgegenüber kann die Begründung des Ermittlungsrichters am BGH im Beschluss vom 14.09.2020 – Az. 2 BGs 619/20, nicht überzeugen, soweit dieser im Rahmen der Ablehnung eines Antrags auf Wiedereinsetzung in die Frist des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO ausführt, es entstünde bei Ablauf der Frist des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO insoweit kein Rechtsnachteil für den Beschuldigten, als er weiterhin über § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StPO die Auswechslung verlangen könne.

Dies erscheint bereits deshalb unzutreffend, weil § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StPO die substantiierte Darlegung von Tatsachen für das zerrüttete Vertrauensverhältnis/die Unmöglichkeit einer angemessenen Verteidigung zwischen Beschuldigtem und Verteidiger und ggf. deren Glaubhaftmachung erfordert (vgl. BeckOK StPO/Krawczyk, 42. Ed. 1.1.2022, StPO § 143a Rn. 22) und damit deutlich andere und strengere Voraussetzungen hat als der lediglich an den zeitlichen Ablauf bzw. die Benennung eines anderen als den bestellten Pflichtverteidiger anknüpfende § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO.

Zudem entfällt mit der Möglichkeit, einen Antrag nach § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO zu stellen, auch die Beschwerdemöglichkeit nach § 142 Abs. 7 S. 2 StPO, sodass bei Versäumung der Antragsfrist bereits hierin ein Rechtsnachteil für den Beschuldigten liegt.“

Pflichti II: Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, oder: Vollstreckung, stationäre Therapie, Einziehung

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Im zweiten Posting zu Pflichtverteidigungsentscheidungen dann hier drei Entscheidungen zu den Bestellungsvoraussetzung, und zwar:

    1. Das „Gebot bestmöglicher Sachaufklärung“ (BVerfG, Beschluss vom 8. November 2006 – 2 BvR 578/02) erhebt die gerichtliche Verpflichtung zur Einholung eines kriminalprognostisch-psychiatrischen Sachverständigengutachtens in § 454 Abs. 2 Satz 1 StPO zum gesetzlichen Regelfall und indiziert damit zugleich eine besondere Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage im Sinne von § 140 Abs. 2 StPO.
    2. Die Verneinung des „Erwägens“ einer Strafaussetzung in § 454 Abs. 2Satz 1 StPO kommt nur dann in Betracht, wenn die Möglichkeit einer Aussetzung der Vollstreckung völlig fernliegend ist und als ernsthafte Alternative zur Fortdauer der Strafhaft von vornherein ausgeschlossen erscheint (Festhalten an Senat, Beschluss vom 13. Juli 2009 – 2 Ws 291/09, NJW 2009, 3315 m.w.N.).
    3. Ob eine solche Ausnahme im konkreten Einzelfall vorliegt, stellt eine im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO schwer zu beurteilende Sachfrage dar, die regelmäßig nicht allein nach Aktenlage, sondern erst nach der durch § 454 Abs. 1 Satz 3 StPO ausdrücklich vorgeschriebenen und aufgrund der Gesetzessystematik vorbehaltlich Satz 4 der Bestimmung grundsätzlich zuvor durchzuführenden mündlichen Anhörung des Verurteilten beantwortet werden kann.
    1. Zu der Anstaltsunterbringung im Sinne des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO gehören insbesondere die verschiedenen Formen der Haft sowie die Unterbringung nach §§ 63, 64 StGB, ebenso indes auch – in analoger Anwendung – die stationäre Behandlung in einer Drogentherapieeinrichtung nach § 35 BtMG sowie ein die persönliche Freiheit erheblich einschränkender Aufenthalt in einer stationären Alkoholentzugsbehandlung.
    2. Die Regelung des § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO ist sowohl ihrem Wortlaut als auch ihrer systematischen Stellung nach lediglich auf Fälle der Pflichtverteidigerbestellung von Amts wegen nach § 141 Abs. 2 StPO anzuwenden, nicht jedoch auf Fälle der Bestellung auf Antrag des Beschuldigten nach § 141 Abs. 1 StPO.

Auch wenn es sich bei der Einziehung nach §§ 73 ff. StGB nicht um eine Nebenstrafe handelt, sondern um eine Maßnahme im Sinne von § 11 Abs. 1 Nr. 8 StGB eigener Art, ist sie als sonstige Rechtsfolge, die einem Angeklagten ggf. im Fall seiner Verurteilung droht, bei der Beurteilung der „Schwere der Rechtsfolge“ i.S. des § 140 Abs. 2 StPO zu berücksichtigen.

 

 

Pflichti I: Vorliegen der Bestellungsvoraussetzungen?, oder: Zeitpunkt der Antragstellung maßgeblich

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Heute dann der nächste Tag mit Pflichtverteidigungsentscheidungen.

Ich beginne mit einem Beschluss des AG Erfurt zur „rückwirkenden Beiordnung“. Gegen die Beschuldigte bestand aufgrund einer Anzeige des Geschädigten vom 18.04.2019 der Verdacht des Diebstahls in einem besonders schweren Fall (Tatzeit 17.01.2019, Schaden ca. 23.000,00 EUR). Das Verfahren wurde mit Verfügung der Staatsanwaltschaft Erfurt vom 19.03.2021 gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt.

Bereits am 04.09.2020 hatte die Kollegin Klein, die mir den AG Erfurt, Beschl. v. 27.04.2022 – 30 Gs 962/22 – geschickt hat, gegenüber der ermittelnden Polizeiinspektion Weimar die Verteidigung angezeigt, Akteneinsicht sowie Ihre Beiordnung als Pflichtverteidigerin beantragt. Das Schreiben befand sich zum Zeitpunkt der Einstellungsverfügung nicht in der Akte, wurde also offenbar nicht an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet. Im Nachgang erinnerte die Kollegin mehrfach an die Bearbeitung ihres Anliegens, wobei sie auf Aufforderung der Staatsanwaltschaft Erfurt vom 07.03.2022 die entsprechenden Anträge nochmals übersandte.

Die Staatsanwaltschaft Erfurt übersendete die Akte dem AG Erfurt und beantragte, den Antrag abzulehnen, da die Voraussetzungen für eine Pflichtverteidigerbestellung nicht vorlägen. Weiterhin wurden nach weiterer Aufforderung die Protokolle aus dem Verfahren 880 Js 8857/19 übersandt, da dieses Verfahren in der näheren Begründung des Pflichtverteidigerantrags der Kollegin explizit erwähnt wurde. Aus den Protokollen ergab sich folgendes:

Das Verfahren 880 Js 8857/19 war zunächst am AG Weimar -Strafrichter- anhängig. Nach mündlicher Verhandlung am 07.05.2020 wurde das Verfahren an das AG Weimar – Schöffengericht – verwiesen, da sich der Anfangsverdacht eines Verbrechens nach § 244 StGB (Wohnungseinbruchsdiebstahl) ergab. Am 11.01.2021 wurde das Verfahren vor dem Schöffengericht Weimar verhandelt und schließlich nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellt.

Das AG hat die „rückwirkende Bestellung“ beschlossen, wobe es sich mit dem Hin und Her in der Rechtsprechung nicht weiter befasst, sondern:

„Ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO liegt vor, weil wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint.

Hinsichtlich der Beurteilung ist auf den Zeitpunkt der Antragstellung abzustellen. Weiterhin hat das Gericht eine Prognose hinsichtlich der zu erwartenden Rechtsfolgen anzustellen, wobei die Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung i.d.R. dann zu bejahen sind, wenn die zu erwartende Rechtsfolge eine Freiheitsstrafe von 1 Jahr übersteigt, wobei dies nicht als starre Grenze an-zusehen ist. In die Gesamtbetrachtung sind auch weitere anhängige und möglicherweise gesamtstrafenfähige Verfahren mit einzubeziehen.

Zum Zeitpunkt der Antragstellung durch Rechtsanwältin K. war die mündliche Verhandlung im Verfahren 880 Js 8857/19 vor dem Amtsgericht Weimar -Strafrichter- bereits durchgeführt und das Verfahren an das Amtsgericht Weimar – Schöffengericht – verwiesen. Die dortige Hauptverhandlung war noch nicht durchgeführt. Die Verweisung eines Verfahrens an das Schöffengericht begründet für sich genommen bereits die Annahme der Erwartung einer Freiheitsstrafe von über einem Jahr. Die hiesige Tat wäre zudem noch gesamtstrafenfähig gewesen, sodass diese Erwartung erst recht bestand.

Dass das Verfahren 880 Js 8857/19 letztlich – ebenso wie hiesiges Verfahren – eingestellt wurde, ändert an dieser Bewertung nichts, denn die jeweilige Einstellung erfolgte weit nach Antragstellung von Rechtsanwältin K. Die Grundsätze der effektiven Verteidigung gebieten indes eine Abstellung auf den Zeitpunkt der Antragstellung. Zu diesem Zeitpunkt (04.09.2020) lagen die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO vor, sodass die Bestellung rückwirkend vorzunehmen war.“

Geht doch.