StPO II: Beteiligung an „Blutrache-Messerattacke?, oder: Die (abgelehnte) Ladung des Auslandszeugen

In der zweiten Entscheidung, dem BGH, Beschl. v. 16.02.2022 – 4 StR 392/20 – hat der BGh noch einmal zum Auslandzeugen Stellung genommen. Ergangen ist der Beschluss in einem Verfahren, in dem dem Angeklagten ein versuchter Mord zur Last gelegt worden ist. Der Angeklagte hat dann mit seiner Verfahrensrüge in der Revision die fehlerhafte Ablehnung von zwei Beweisanträgen gerügt und dazu folgende Verfahrensgeschehen vorgetragen:

Der Angeklagte hatte in der Hauptverhandlung bestritten, sich an dem ihm zur Last gelegten (Messer)Angriff, bei dem es vermutlich um Blutrache ging, beteiligt zu haben. Er sei zwar am Tattag in Bielefeld, dem Tatort gewesen, habe die von ihm verlangte Beteiligung aber u.a. gegenüber einem Onkel F. abgelehnt und sich vom späteren Tatort entfernt.

Die Verteidigerin des Angeklagten hat in der Hauptverhandlung beantragt, den mit einer Anschrift in der Türkei benannten F. „unter Zusicherung freien Geleits“ als Zeugen zu vernehmen. Der Antrag hatte unter anderem die Beweisbehauptung zum Gegenstand, der Angeklagte habe sich an der Tat nicht beteiligt. Bereits zuvor hatte das LG ein Rechtshilfeersuchen an die türkischen Polizeibehörden gestellt, um die Anschrift des F. in der Türkei zu ermitteln und um ihn befragen zu lassen, ob er „zu einer Aussage bereit sei“. Auf dieses Ersuchen teilte die türkische Polizei die Anschrift des Zeugen sowie das Protokoll einer Vernehmung mit, demzufolge der Zeuge auf die Frage nach seiner Aussagebereitschaft erklärt habe, dass „er in dieser Angelegenheit nicht als Zeuge antreten möchte“.

Das LG lehnte den Beweisantrag nach § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO ab. Dagegen die Revision, die Erfolg hatte:

„2. Die nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO zulässig ausgeführte Verfahrensrüge ist begründet. Das Landgericht hat die Beweisanträge mit rechtsfehlerhafter Begründung abgelehnt.

a) Bei der Ablehnung eines Beweisantrags auf Vernehmung eines Zeugen, dessen Ladung im Ausland zu bewirken wäre, ist das Gericht von dem Verbot der Beweisantizipation befreit und darf seine Entscheidung davon abhängig machen, welche Ergebnisse von der beantragten Beweisaufnahme zu erwarten sind und wie diese zu erwartenden Ergebnisse zu würdigen wären. Kommt es unter Berücksichtigung sowohl des Vorbringens zur Begründung des Beweisantrags, als auch der in der bisherigen Beweisaufnahme angefallenen Erkenntnisse zu dem Ergebnis, dass ein Einfluss auf seine Überzeugung auch dann sicher ausgeschlossen ist, wenn der benannte Zeuge die in sein Wissen gestellte Behauptung bestätigen werde, ist eine Ablehnung des Beweisantrags rechtlich nicht zu beanstanden (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 12. Juli 2018 – 3 StR 144/18; Urteil vom 13. März 2014 – 4 StR 445/13; Urteil vom 18. Januar 1994 – 1 StR 745/93, BGHSt 40, 60, 62; einschränkend Frister in SK-StPO, 5. Aufl., § 244 Rn. 240). In dem hierfür erforderlichen Gerichtsbeschluss (§ 244 Abs. 6 Satz 1 StPO) müssen die maßgeblichen Erwägungen so umfassend dargelegt werden, dass es dem Antragsteller möglich wird, seine Verteidigung auf die neue Verfahrenslage einzustellen und das Revisionsgericht überprüfen kann, ob die Antragsablehnung auf einer rational nachvollziehbaren, die wesentlichen Gesichtspunkte des Einzelfalles erkennbar berücksichtigenden Argumentation beruht (BGH, Beschluss vom 12. Juli 2018 – 3 StR 144/18; Urteil vom 13. März 2014 – 4 StR 445/13; Urteil vom 18. Januar 1994 – 1 StR 745/93, BGHSt 40, 60, 63; Becker in Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 244 Rn. 359).

Ob das Gebot des § 244 Abs. 2 StPO, die Beweisaufnahme zur Erforschung der Wahrheit auf alle entscheidungsrelevanten Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, es gebietet, dem Beweisantrag auf Vernehmung eines Auslandszeugen nachzukommen, kann nur unter Berücksichtigung der jeweiligen Besonderheiten des Einzelfalles beurteilt werden. Allgemein gilt lediglich der Grundsatz, dass bei einem durch die bisherige Beweisaufnahme gesicherten Beweisergebnis auf breiter Beweisgrundlage eher von der Vernehmung des Auslandszeugen abgesehen werden kann. Dagegen wird die Vernehmung des Auslandszeugen umso eher notwendig sein, je ungesicherter das bisherige Beweisergebnis erscheint, je größer die Unwägbarkeiten sind und je mehr Zweifel hinsichtlich des Werts der bisher erhobenen Beweise überwunden werden müssen; dies gilt insbesondere dann, wenn der Auslandszeuge Vorgänge bekunden soll, die für den Schuldvorwurf von zentraler Bedeutung sind (BGH, Beschluss vom 12. Juli 2018 – 3 StR 144/18; Urteil vom 13. März 2014 – 4 StR 445/13; Beschluss vom 26. Oktober 2006 – 3 StR 374/06; Becker in Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 244 Rn. 357).

Die Möglichkeit, nach § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO einen Beweisantrag auf Vernehmung eines Auslandszeugen abzulehnen, erfasst nicht nur Fälle der voraussichtlichen Unergiebigkeit der Zeugenaussage oder der Unerreichbarkeit des Zeugen, sondern – als Unterfall der Unerreichbarkeit – grundsätzlich auch solche Fallgestaltungen, in denen der Aufenthalt eines Zeugen zwar bekannt, aber damit zu rechnen ist, dass er entweder einer Ladung nicht folgen oder im Falle seines Erscheinens keine Angaben zur Sache machen werde. Dies gilt insbesondere für Zeugen, die der Beteiligung an der Tat verdächtig sind und denen deswegen ein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO zusteht (BGH, Beschluss vom 23. Oktober 2013 – 5 StR 401/13; Beschluss vom 25. April 2002 – 3 StR 506/01; Becker in Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 244 Rn. 357).

b) Diesen Maßstäben entsprechen die Ablehnungsbeschlüsse schon deshalb nicht, weil sie bereits im Ausgangspunkt die erforderliche Gesamtwürdigung vermissen lassen, ob die Aufklärungspflicht gemäß § 244 Abs. 2 StPO die beantragte Vernehmung des Zeugen gebot. Das Landgericht hat seine Prüfung ausschließlich auf einen einzigen Gesichtspunkt, nämlich die mutmaßliche Aussagebereitschaft des Zeugen bezogen. Dadurch hat es sich den Blick für die Frage verstellt, welches Gewicht seiner Aussage in der Beweiswürdigung gegebenenfalls zuzumessen wäre und welche Anstrengungen demnach zu unternehmen waren, um seine Vernehmung herbeizuführen. Für ein erhebliches Gewicht der Aussage sprach, dass der Angeklagte die Tatbeteiligung bestritt und unmittelbare Tatzeugen ihn nicht als Täter identifizieren konnten. Der Beweis seiner Täterschaft stützte sich allein auf – allerdings ihrerseits gewichtige – Indizien, namentlich auf seine Anwesenheit in Bielefeld zur Tatzeit, das von der Polizei aufgezeichnete Telefonat mit seinem Vater und das Motiv der Rache für die Ermordung seines Bruders. Damit konnte die Aussage des F. als eines mutmaßlichen, am Tatort handelnden Mittäters für eine Belastung oder Entlastung des Angeklagten von zentraler Bedeutung sein, da sie möglicherweise geeignet war, seine Täterschaft zu beweisen oder die für seine Täterschaft sprechenden Indizien zu entkräften, etwa die Existenz oder die Anwesenheit des unbekannt gebliebenen „A. “ am Tatort.

Soweit das Landgericht die Ablehnung der Vernehmung allein damit begründet hat, der Zeuge habe bei der türkischen Polizei angegeben, er wolle „in dieser Angelegenheit nicht als Zeuge antreten“, ist dies auch für sich genommen ermessensfehlerhaft, da das Landgericht aus der Erklärung des Zeugen zu weit gehende Schlussfolgerungen gezogen hat und damit bei seiner Entscheidung von einer falschen Voraussetzung ausgegangen ist. Es hat zu Unrecht angenommen, der Zeuge sei unter keinen Umständen bereit, vernommen zu werden, und damit unerreichbar. Denn der herangezogenen Erklärung des Zeugen gegenüber der türkischen Polizei im Rahmen des Rechtshilfeersuchens ließ sich ein derart weitreichender Bedeutungsgehalt nicht entnehmen. Der Zeuge war auf Ersuchen des Landgerichts lediglich pauschal nach seiner Aussagebereitschaft gefragt worden, ohne über die rechtlichen Bedingungen einer Zeugenaussage aufgeklärt worden zu sein. Insbesondere war er weder über die Möglichkeit freien Geleits gemäß Art. 12 Abs. 1 des Europäischen Rechtshilfeübereinkommens (EuRHÜbk) unterrichtet worden, noch über Auskunfts- und Zeugnisverweigerungsrechte. Angesichts der an ihn gerichteten unspezifischen Frage nach der Bereitschaft, als Zeuge auszusagen, ließ die Antwort offen, ob der Zeuge sich als mutmaßlicher Mittäter auf ein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO oder mit Blick auf seine Verwandtschaft zum Angeklagten und zum Mitangeklagten S. auf ein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 Abs. 1 Nr. 3 StPO berufen wollte, oder ob er – nicht fernliegend – zu einer Zeugenaussage in Deutschland deshalb nicht bereit war, weil er in Unkenntnis des Rechtsinstituts des freien Geleits damit rechnete, bei der Einreise verhaftet zu werden.

c) Das Urteil beruht auf dem Rechtsfehler. Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Landgericht zu einer anderen Würdigung der Beweise gelangt wäre, wenn der Zeuge die in sein Wissen gestellten Umstände bestätigt hätte. Er hebt das angefochtene Urteil daher auf.“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert