Pflichti I: Vorliegen der Bestellungsvoraussetzungen?, oder: Zeitpunkt der Antragstellung maßgeblich

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Heute dann der nächste Tag mit Pflichtverteidigungsentscheidungen.

Ich beginne mit einem Beschluss des AG Erfurt zur „rückwirkenden Beiordnung“. Gegen die Beschuldigte bestand aufgrund einer Anzeige des Geschädigten vom 18.04.2019 der Verdacht des Diebstahls in einem besonders schweren Fall (Tatzeit 17.01.2019, Schaden ca. 23.000,00 EUR). Das Verfahren wurde mit Verfügung der Staatsanwaltschaft Erfurt vom 19.03.2021 gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt.

Bereits am 04.09.2020 hatte die Kollegin Klein, die mir den AG Erfurt, Beschl. v. 27.04.2022 – 30 Gs 962/22 – geschickt hat, gegenüber der ermittelnden Polizeiinspektion Weimar die Verteidigung angezeigt, Akteneinsicht sowie Ihre Beiordnung als Pflichtverteidigerin beantragt. Das Schreiben befand sich zum Zeitpunkt der Einstellungsverfügung nicht in der Akte, wurde also offenbar nicht an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet. Im Nachgang erinnerte die Kollegin mehrfach an die Bearbeitung ihres Anliegens, wobei sie auf Aufforderung der Staatsanwaltschaft Erfurt vom 07.03.2022 die entsprechenden Anträge nochmals übersandte.

Die Staatsanwaltschaft Erfurt übersendete die Akte dem AG Erfurt und beantragte, den Antrag abzulehnen, da die Voraussetzungen für eine Pflichtverteidigerbestellung nicht vorlägen. Weiterhin wurden nach weiterer Aufforderung die Protokolle aus dem Verfahren 880 Js 8857/19 übersandt, da dieses Verfahren in der näheren Begründung des Pflichtverteidigerantrags der Kollegin explizit erwähnt wurde. Aus den Protokollen ergab sich folgendes:

Das Verfahren 880 Js 8857/19 war zunächst am AG Weimar -Strafrichter- anhängig. Nach mündlicher Verhandlung am 07.05.2020 wurde das Verfahren an das AG Weimar – Schöffengericht – verwiesen, da sich der Anfangsverdacht eines Verbrechens nach § 244 StGB (Wohnungseinbruchsdiebstahl) ergab. Am 11.01.2021 wurde das Verfahren vor dem Schöffengericht Weimar verhandelt und schließlich nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellt.

Das AG hat die „rückwirkende Bestellung“ beschlossen, wobe es sich mit dem Hin und Her in der Rechtsprechung nicht weiter befasst, sondern:

„Ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO liegt vor, weil wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint.

Hinsichtlich der Beurteilung ist auf den Zeitpunkt der Antragstellung abzustellen. Weiterhin hat das Gericht eine Prognose hinsichtlich der zu erwartenden Rechtsfolgen anzustellen, wobei die Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung i.d.R. dann zu bejahen sind, wenn die zu erwartende Rechtsfolge eine Freiheitsstrafe von 1 Jahr übersteigt, wobei dies nicht als starre Grenze an-zusehen ist. In die Gesamtbetrachtung sind auch weitere anhängige und möglicherweise gesamtstrafenfähige Verfahren mit einzubeziehen.

Zum Zeitpunkt der Antragstellung durch Rechtsanwältin K. war die mündliche Verhandlung im Verfahren 880 Js 8857/19 vor dem Amtsgericht Weimar -Strafrichter- bereits durchgeführt und das Verfahren an das Amtsgericht Weimar – Schöffengericht – verwiesen. Die dortige Hauptverhandlung war noch nicht durchgeführt. Die Verweisung eines Verfahrens an das Schöffengericht begründet für sich genommen bereits die Annahme der Erwartung einer Freiheitsstrafe von über einem Jahr. Die hiesige Tat wäre zudem noch gesamtstrafenfähig gewesen, sodass diese Erwartung erst recht bestand.

Dass das Verfahren 880 Js 8857/19 letztlich – ebenso wie hiesiges Verfahren – eingestellt wurde, ändert an dieser Bewertung nichts, denn die jeweilige Einstellung erfolgte weit nach Antragstellung von Rechtsanwältin K. Die Grundsätze der effektiven Verteidigung gebieten indes eine Abstellung auf den Zeitpunkt der Antragstellung. Zu diesem Zeitpunkt (04.09.2020) lagen die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO vor, sodass die Bestellung rückwirkend vorzunehmen war.“

Geht doch.

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