Archiv für den Monat: Juni 2010

Nur „fast zynische“ Strafzumessungserwägungen? – oder: Darauf muss man erst mal kommen

Es gibt nichts, was es nicht gibt, habe ich gedacht, als ich den Beschluss des OLG Oldenburg v. 23.04.2010 – 1 Ss 51/10, der gerade über den Newsletter von LexisNexisStrafrecht gelaufen ist, gelesen habe. Da schreibt das LG dem Angeklagten doch tatsächlich in die Strafzumessung:

„Das Landgericht hat bei der Prüfung einer Strafaussetzung u. a. ausgeführt (UA S. 10), die freiheitsentziehende Strafverbüßung werde den Angeklagten in seinen – vagen – Lebensplanungen auch „nicht groß beeinträchtigen“, weil er keine eigenen Einrichtungsgegenstände habe, sondern in einer Wohngemeinschaft lebe und seine Arbeitssituation zur Zeit schlecht sei. seine wohnlichen und beruflichen Verluste hielten sich in Grenzen. familiär sei er nicht so gebunden, dass dort Probleme für die künftige Lebenssituation entstehen würden.“

Ich habe ja schon viel gelesen in Strafzumessungserwägungen, aber so etwas noch nicht. Der Verteidiger hatte m.E. zu recht beanstandet „fast zynisch“, wobei mir das „fast“ zu viel ist. Das OLG hat dann auch recht deutliche Worte gefunden.

„Diese Urteilsformulierung, die von der Verteidigung als „fast zynisch“ angesehen wird, verkennt das in einer Freiheitsstrafe liegende Übel in grundlegender und unvertretbarer Weise. Es geht nicht an, den völligen Verlust der persönlichen Freiheit und die massiven Lebenseinschränkungen, die mit einem Strafvollzug verbunden sind, in Hinblick auf Wohn, Eigentums und Lebensverhältnisse eines Angeklagten als „nicht große“ Beeinträchtigung zu bewerten und so zu bagatellisieren.“

Das ist noch vornehm ausgedrückt. Man hätte auch anders formulieren können…

„Führerscheintourismus“ nach dem 19.01.2009 – Vorsicht

Der Führerscheintourismus“ lässt uns auch nach der 3. Führerscheinrichtlinie und den Gesetzesänderungen zum 19.01.2009 nicht los. Deshalb der Hinweis auf die Entscheidung des OLG Stuttgart v. 26.05.2010 – 2 Ss 269/10.

Eigentlich kein direkter Fall des Führerscheintourismus, aber dennoch wohl eine Entscheidung, die der Verteidiger in der Beratungspraxis im Auge haben sollte. Das OLG hat nämlich eine Verurteilung wegen fahrlässigen Fahrens ohne Fahrerlaubnis nicht beanstandet, wenn ein in Deutschland für die Wiedererteilung einer Fahrerlaubnis gesperrter Bürger eine tschechische EU-Fahrerlaubnis (mit eingetragenem tschechischen Wohnsitz) erwirbt, um ein Kraftfahrzeug im öffentlichen Verkehr in Deutschland zu führen.

Lesens- und beachtenswert.

Der „Fall Kachelmann“ und was man daran zeigen kann/sollte: Präjudiz vermeiden, auch wenn es schwer fällt

Ich will/werde mich jetzt nicht auch noch in die Diskussion im „Fall Kachelmann“ einschalten; darüber wird hier genug hin und her diskutiert. Der Fall ist allerdings exemplarisch und gibt Gelegenheit dann doch auf das ein oder andere hinzuweisen und damit das, worauf auch schon an anderer Stelle , vgl. z.B. auch hier, hingewiesen worden ist, noch einmal verstärken/bekräftigen:

  1. Mitdiskutieren über das Für und Wider der Verteidigung des Kollegen Birkenstock kann man nur, wenn man die Akten genau kennt; so im Ergebnis zutreffend der Kollege Hoenig. Und wer kennt sie denn schon?
  2. In Haftsachen gilt häufig die Devise „Weniger ist mehr“, oder „Gut Ding will Weile haben„, was meint: Ich muss mir als Verteidiger sehr genau überlegen, ob ich in die (weitere) Haftbeschwerde gehe, und eine Beschwerdeentscheidung des LG bzw. des OLG riskiere. Denn damit schaffe ich immer ein Präjudiz. All zu gern wird – vor allem auf eine oberlandesgerichtliche – Beweiswürdigung im weiteren Verfahrensablauf zurückgegriffen, auch wenn sich ggf. die Beweislage geändert bzw. das Gewicht von Beweisen verschoben hat. Dann ist es schwer davon wegzukommen. Deshalb kann es sich – so schwer es auch ist – schon lohnen, auf leisen Sohlen daher zu kommen.
  3. Besser ist m.E. häufiger der Weg über § 116 StPO und der Versuch, eine Außervollzugsetzung des Haftbefehls zu erreichen. Mir ist – auf der Grundlage der zur Verfügung stehenden Informationen (siehe dazu 1) – derzeit unerklärlich, warum der Weg vom AG nicht gegangen wird. Mal abgesehen davon, dass ich mir schon von Anfang an die Frage gestellt habe, ob eigentlich überhaupt „Fluchtgefahr“ bejaht werden kann. Aber auch das ist letztlich ein Problem/eine Frage, die man nur nach Aktenkenntnis beurteilen kann. Und die haben wir alle nicht.

Aber: Angeblich wird ja nun der Weg zum OLG Karlsruhe „beschritten“ . Von da werden wir dann demnächst, hoffentlich alsbald, Neues hören.

Wochenspiegel für die 25. KW – oder wir blicken mal wieder über den Tellerrand

Zu berichten ist über:

  1. Mit der „elektronischen Akteneinsicht“ hat man sich hier beschäftigt.
  2. Der „Drachen in der StVO“ hat hier eine Rolle gespielt.
  3. Mit einem Erlebnis beim Fahrradfahren beschäftigt man sich hier.
  4. Mit einem Problem der Pflichtverteidigung beschäftigt sich der Beitrag „Schönwetterverteidigung“ aber auch hier.
  5. So geht es zu beim AG Borken.
  6. Sind es wirklich „Glanztaten eines zukünftigen Fußgängers„?

Au Backe :-), in die Falle wäre ich – glaube ich – auch getappt, oder: Hätten Sie es gewusst?

Ein im Grunde ganz einfacher Fall, der in der Praxis gar nicht selten sein dürfte, führt m.E. zu einer Falle, in die ein Gericht schnell tappt. Jedenfalls war das mein Eindruck, als ich die Entscheidung des BGH v. 13.04.2010 – 3 StR 24/10 gelesen habe.

Sachverhalt wie folgt: Der Vorsitzende der Strafkammer hat die Rechtsanwälte A. und S. zu Verteidigern des Angeklagten bestellt. In der Hauptverhandlung gegen den Angeklagten und den Mitangeklagten A. hat das LG für die Schlussvorträge der Verteidiger Fortsetzungstermin auf den 09.06.2009 bestimmt. In diesem Termin blieb sowohl Rechtsanwalt A. als auch Rechtsanwalt S. aus. Stattdessen erschien Rechtsanwalt Sch. und erklärte, er komme als „Vertreter“ für den erkrankten Rechtsanwalt A., könne aber nicht als Verteidiger des Angeklagten auftreten, da er mit dem Verfahrensstoff nicht vertraut sei. Auf Anregung des Verteidigers des Mitangeklagten beschloss das LG hierauf die Abtrennung des Verfahrens gegen den Angeklagten und bestimmte insoweit Fortsetzungstermin auf den 22.06.2009. Der Hauptverhandlung gegen den Mitangeklagten wurde sodann mit dem Schlussvortrag des Verteidigers und der Verkündung des Urteils gegen diesen fortgesetzt. Gegen den Angeklagten wurde am 22.06.2009 fortgesetzt und das ihn verurteilende Urteil am 26. 6. 2009 verkündet.

Der BGH sagt: Die Verfahrensrüge (§ 338 Nr. 5 StPO) hat Erfolg, weil während der Verhandlung und Entscheidung über die Verfahrenstrennung (09.06.2009) entgegen § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO kein Verteidiger des Angeklagten anwesend war. Der Sch. war nicht Verteidiger und die Abtrennung des Verfahrens gegen den Angeklagten ist wesentliche Förmlichkeit der Hauptverhandlung. Hätte ich – glaube ich – auch übersehen. Was kann die Strafkammer tun? M.E. hat sie nur die Möglichkeit nicht in der HV abzutrennen.

Im Übrigen: Hut ab vor dem Revisionsverteidiger, der das „Loch“ entdeckt hat. Findet man auch nicht jeden Tag.