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Ist die Entlassungsverhandlung ein wesentlicher Teil der Hauptverhandlung?

Im Zusammenhang mit der der (zeitweisen) Entfernung des Angeklagten aus der Hauptverhandlung (§ 247 StPO) kommt es häufig zu Verfahrensfehlern, die u.a. darauf beruhen, dass in Abwesenheit des Angeklagten außerhalb der Zeugenvernehmung liegende Teile der Hauptverhandlung durchgeführt werden, an denen der Angeklagte dann nicht teilnimmt. Die Rüge in der Revision läuft dann über § 338 Nr. 5 StPO.

In dem Zusammenhang spielt die Frage, was ein „wesentlicher Teil der Hauptverhandlung“ ist, eine wesentliche Rolle. Dazu gibt es eine umfangreiche BGH-Rechtsprechung – bis hin zu Entscheidungen des Großen Senats für Strafsachen. Zuletzt im BGH, Urt. v. 09.02.0211 – 5 StR 387/10, in dem der 5. Strafsenat dargelegt hat, ob und wann die sog. Entlassungsverhandlung „wesentlicher Teil der Hauptverhandlung“ ist. Dort heißt es:

Nach ständiger Rechtsprechung bestimmt sich die Frage der Wesentlichkeit eines Verfahrensteils nach dem Zweck der jeweils betroffenen Vorschriften sowie danach, in welchem Umfang deren sachliche Bedeutung betroffen sein kann; die Entlassungsverhandlung in Anwesenheit des Angeklagten ist danach grundsätzlich als wesentlich anzusehen, weil der von der Entlassungsverhandlung ausgeschlossene Angeklagte unmittelbar nach der Zeugenvernehmung keine Fragen oder Anträge stellen kann, die den Ausgang des Verfahrens zu beeinflussen vermögen (vgl. BGH – GS – aaO S. 2452 mwN). Diese Gedanken treffen jedoch ersichtlich nicht zu, wenn der die Vernehmung über eine Bild-Ton-Übertragung zeitgleich mitverfolgende Angeklagte nach ausdrücklicher Befragung des Vorsitzenden von seinem Fragerecht keinen Gebrauch machen will. Es wäre bloße Förmelei, wenn ihm – gegebenenfalls nach vorheriger Entfernung des Opferzeugen aus dem Gerichtssaal – in Anwesenheit ein weiteres Mal Fragen anheimgegeben werden müssten (vgl. zur Ersetzung der Unterrichtungspflicht nach § 247 Satz 4 StPO durch Bild-Ton-Übertragung auch BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2006 – 1 StR 268/06, BGHSt 51, 180; ferner zum Frageverzicht in solchen Fällen BGH, Urteil vom 27. Januar 2011 – 5 StR 482/10).

Außer Spesen nichts gewesen – der zweite Teil

Wir hatten ja neulich schon unter dem Titel „Außer Spesen nichts gewesen – das haben wir im Revisionsverfahren häufiger“ über den Beschl. des BGH v. 15.09.2010 – 2 StR 281/10 berichtet. Dieser ist noch aus einem weiteren Grund eine Erwähnung wert. Im Verfahren war auch eine Verfahrensrüge erhoben worden; nämlich Rüge des § 338 Nr. 5 StPO – Abwesenheit einer Person bei einem wesentlichen Teil der Hauptverhandlung, deren Anwesenheit in der Hautpverhandlung erforderlich ist. Diese Rüge hat der BGH als unbegründet angesehen und dazu ausgeführt:

Die Verfahrensrüge eines Verstoßes gegen § 247 Satz 1 i.V.m. § 338 Nr. 5 StPO ist unbegründet. Soweit das Landgericht nach Entfernung des Angeklagten während der Vernehmung der Nebenklägerin in seiner Abwesenheit ein mündliches Gutachten des anwesenden Sachverständigen zur Frage deren weiterer Vernehmungsfähigkeit an diesem Tag eingeholt hat, hat es nicht gegen den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO verstoßen, da nur die Abwesenheit bei einem wesentlichen Teil der Hauptverhandlung die Revision begründet. Die Frage der Vernehmungsfähigkeit eines Zeugen unterliegt dem Freibeweisverfahren (vgl. BGHR StPO § 247 Abwesenheit 22; BGH, Beschluss vom 30. Juli 1992 – 1 StR 271/92). Da die Klärung der Vernehmungsfähigkeit damit auch außerhalb der Hauptverhandlung hätte erfolgen können, erstreckte sich die Abwesenheit des Angeklagten nicht auf einen wesentlichen Teil der Hauptverhandlung (vgl. BGHR StPO § 247 Abwesenheit 17, 24). .Auf die von der Revision mit beachtlichen Gründen angezweifelte Wirksamkeit der Protokollberichtigung kommt es damit nicht an.“

Also auch insoweit: Außer Spesen nichts gewesen. Allerdings: Mich würde ja interessieren, warum die offenbar vorgenommene Protokollberichtigung mit „beachtlichen Gründen“ angezweifelt werden konnte. In der Terminologie eines Revisionsgerichts schon ein deutlicher Hinweis.

Teileinstellung, aber dennoch Strafschärfung – Hinweis in der HV wesentliche Förmlichkeit? Ja oder nein?

In der Praxis nicht selten ist die Konstellation, dass Taten nach § 154a StPO eingestellt werden. So auch in dem der Entscheidung des BGH v. 29.06.2010 – 1 StR 157/10 zugrundeliegenden Verfahren. Es ging um Diebstahl, die zugleich auch verwirklichten Sachbeschädigungen werden nach § 154a StPO eingestellt, dann aber dennoch im Urteil strafschärfend berücksichtigt. Der Angeklagte macht geltend, dass er darauf nach dem HV-Protokoll in der HV nicht hingewiesen worden sei. Der BGH führt zum Nachweis des in der HV erteilten Hinweises aus:

„Die Rüge bliebe aber auch sonst erfolglos. Aus dem Protokoll der Hauptverhandlung ergibt sich zu dem Hinweis nichts, im Urteil heißt es, der Vorsitzende habe den Hinweis erteilt. Die Revision ist im Kern darauf gestützt, ein solcher Hinweis sei als wesentliche Verfahrensförmlichkeit gemäß § 274 StPO nur durch das Hauptverhandlungsprotokoll beweisbar (so ohne nähere Begründung auch OLG München NJW 2010, 1826, 1827; OLG Hamm NStZ-RR 2003, 368; Beulke in Löwe/Rosenberg StPO 26. Aufl. § 154 Rdn. 59), nicht aber durch die Urteilsgründe (BGH NJW 1976, 977, 978; Meyer-Goßner StPO 53. Aufl. § 274 Rdn. 3 m.w.N.). Der Senat teilt diese Auffassung nicht. Ein nach Maßgabe des Einzelfalls erforderlicher (vgl. BGH NStZ 2004, 277, 278 m.w.N.) Hinweis auf die beabsichtigte Verwertung von gemäß §§ 154, 154a StPO ausgeschiedenem Verfahrensstoff bei der Beweiswürdigung oder Strafzumessung ist keine wesentliche Verfahrensförmlichkeit. Er betrifft die Tatsachengrundlage des Urteils. Bei einem anderweit erforderlichen Hinweis auf wesentliche Änderungen in tatsächlicher Hinsicht (§ 265 StPO) handelt es sich regelmäßig nicht um eine wesentliche Verfahrensförmlichkeit (vgl. zusammenfassend Stuckenberg in KMR § 265 StPO Rdn. 57, 61 ff. m.w.N.). Für den hier in Rede stehenden, ebenfalls Tatsachen betreffenden Hinweis kann nichts anderes gelten (vgl. Rieß NStZ 1987, 134, 135 <Anm. zu BGH aaO 134>; Schimansky MDR 1986, 283; im Ergebnis ebenso Pelchen JR 1986, 166, 167). Auch wenn die Aufnahme eines solchen Hinweises in das – zur Dokumentation von Verfahrensgeschehen eher als das Urteil geeignete – Hauptverhandlungsprotokoll dennoch zweckmäßig ist (vgl. Schimansky aaO 284), ist dieses also nicht das einzig zulässige Beweismittel. Angesichts der Urteilsgründe ist auch unter Berücksichtigung des Revisionsvorbringens nicht zweifelhaft, dass der Hinweis hier erteilt wurde.“

Na ja :-). Im Übrigen: Obiter dictum, da die Verfahrensrüge schon unzulässig war, da der Verteidiger widersprüchlichen Sachvortrag geliefert hatte.

Au Backe :-), in die Falle wäre ich – glaube ich – auch getappt, oder: Hätten Sie es gewusst?

Ein im Grunde ganz einfacher Fall, der in der Praxis gar nicht selten sein dürfte, führt m.E. zu einer Falle, in die ein Gericht schnell tappt. Jedenfalls war das mein Eindruck, als ich die Entscheidung des BGH v. 13.04.2010 – 3 StR 24/10 gelesen habe.

Sachverhalt wie folgt: Der Vorsitzende der Strafkammer hat die Rechtsanwälte A. und S. zu Verteidigern des Angeklagten bestellt. In der Hauptverhandlung gegen den Angeklagten und den Mitangeklagten A. hat das LG für die Schlussvorträge der Verteidiger Fortsetzungstermin auf den 09.06.2009 bestimmt. In diesem Termin blieb sowohl Rechtsanwalt A. als auch Rechtsanwalt S. aus. Stattdessen erschien Rechtsanwalt Sch. und erklärte, er komme als „Vertreter“ für den erkrankten Rechtsanwalt A., könne aber nicht als Verteidiger des Angeklagten auftreten, da er mit dem Verfahrensstoff nicht vertraut sei. Auf Anregung des Verteidigers des Mitangeklagten beschloss das LG hierauf die Abtrennung des Verfahrens gegen den Angeklagten und bestimmte insoweit Fortsetzungstermin auf den 22.06.2009. Der Hauptverhandlung gegen den Mitangeklagten wurde sodann mit dem Schlussvortrag des Verteidigers und der Verkündung des Urteils gegen diesen fortgesetzt. Gegen den Angeklagten wurde am 22.06.2009 fortgesetzt und das ihn verurteilende Urteil am 26. 6. 2009 verkündet.

Der BGH sagt: Die Verfahrensrüge (§ 338 Nr. 5 StPO) hat Erfolg, weil während der Verhandlung und Entscheidung über die Verfahrenstrennung (09.06.2009) entgegen § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO kein Verteidiger des Angeklagten anwesend war. Der Sch. war nicht Verteidiger und die Abtrennung des Verfahrens gegen den Angeklagten ist wesentliche Förmlichkeit der Hauptverhandlung. Hätte ich – glaube ich – auch übersehen. Was kann die Strafkammer tun? M.E. hat sie nur die Möglichkeit nicht in der HV abzutrennen.

Im Übrigen: Hut ab vor dem Revisionsverteidiger, der das „Loch“ entdeckt hat. Findet man auch nicht jeden Tag.

BGH: Nochmals Absprache/Verständigung – Was nicht im Protokoll ist, ist nicht in der Welt

Ich hatte ja im Blogbeitrag vom 03.05.2010 bereits auf eine Entscheidung des BGH im Zusammenhang mit der Absprache/Verständigung hingewiesen. In der Entscheidung spielte das Protokoll der HV eine Rolle.

Welche große Bedeutung dem Protokoll der Hauptverhandlung im Zusammenhang mit der Absprache zukommt, ergibt sich auch aus einem weiteren Beschluss des BGH (Beschl. v. 31.03.2010 – 2 StR 31/10). Dort hatte der Verteidiger behauptet, dass ein vom Angeklagten erklärter Rechtsmittelverzicht wegen der Neuregelung in § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO unwirksam sei. Der BGH weist darauf hin, dass hinsichtlich der Behauptung des Verteidigers, dem Urteil liege eine Verständigung zu Grunde, durch die Sitzungsniederschrift das Gegenteil bewiesen sei. Der nach § 273 Abs. 1a Satz 3 StPO zwingend vorgeschriebene Vermerk, dass eine Verständigung nach § 257c StPO nicht stattgefunden hat, gehöre zu den wesentlichen Förmlichkeiten im Sinne des § 274 Satz 1 StPO (zur revisionsrechtlichen Bedeutung des „Negativattests“ gem. § 273 Abs. 1a Satz 3 StPO siehe BT-Drs. 16/11736; S. 13). Gegen den diese Förmlichkeiten betreffenden Inhalt des Protokolls sei nur der Nachweis der Fälschung zulässig (§ 274 Satz 2 StPO).

Es ist also darauf zu achten, dass alle mit der Verständigung, insbesondere deren Zustandekommen, in das Protokoll der Hauptverhandlung aufgenommen werden. Was nicht im Protokoll ist, ist nicht in der Welt.