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HV I: Enfernung des Angeklagteaus der HV ok??, oder: Vernehmung und Augenscheinseinnahme der Zeugin

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Urhber: Hichhich – Eigenes Werk

Am heutigen Dienstag gibt es drei StPO-Entscheidungen. Alle drei befassen sich mit Vorgängen aus der Hauptverhandlung bzw. diese betreffend.

Ich beginne mit dem BGH, Beschl. v. 26.03.2025 – 4 StR 29/25 – mal wieder zum Begriff der „Vernehmung“ bei Entfernung des Angeklagten aus der Hauptverhandlung (§ 247 StPO).

Das LG hat den Angeklagten u.a. wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern verurteilt. Mit seiner Revision hat der Angeklagte u.a. einen Verstoß gegen §§ 338 Nr. 5, 247 Satz 2 StPO geltend gemacht. Dieser Abwesenheitsrüge lag folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde: Der Angeklagte hat sich zu Beginn der Hauptverhandlung teilweise geständig zur Sache eingelassen. Eine Kenntnis des Alters der zur Tatzeit 13 Jahre und sechs Monate alten Nebenklägerin hat er bestritten. Auch habe er keine weiteren sexuellen Handlungen an ihr vorgenommen. Im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung wurde die inzwischen 14 Jahre alte Nebenklägerin zeugenschaftlich vernommen. Für die Dauer ihrer Vernehmung wurde der Angeklagte gemäß § 247 Satz 2 StPO aus dem Sitzungssaal entfernt. Dem lag eine fachärztliche Stellungnahme zugrunde, wonach bei der Nebenklägerin im Fall einer Konfrontation mit dem Angeklagten ein hohes Risiko für eine Retraumatisierung bestünde, in deren Folge eine deutliche Verschlechterung ihres Zustands und damit ein erheblicher Nachteil für ihre Gesundheit zu befürchten sei. Der Angeklagte verließ den Sitzungssaal und verfolgte die weitere Verhandlung mittels Videoübertragung. Nach ihrer Aussage wurde die Nebenklägerin förmlich in Augenschein genommen. Diese Beweiserhebung ist protokolliert. Danach wurde die Zeugin unvereidigt entlassen und der Angeklagte nach seiner Rückkehr in den Sitzungssaal gemäß § 247 Satz 4 StPO über den wesentlichen Inhalt der Aussage der Nebenklägerin unterrichtet. Erklärungen nach § 257 StPO wurden nicht abgegeben; die Inaugenscheinnahme der Nebenklägerin wurde nicht wiederholt. Ausweislich der Urteilsgründe hat die Jugendkammer dem äußeren Erscheinungsbild der Nebenklägerin in der Hauptverhandlung indizielle Bedeutung für die Kenntnis des Angeklagten ihres kindlichen Alters zur Tatzeit beigemessen.

Die Revision hatte mit dieser Rüge keinen Erfolg:

„2. Der von der Revision behauptete absolute Revisionsgrund der Verletzung des Anwesenheitsrechts des Angeklagten (§ 338 Nr. 5 i.V.m. § 230 Abs. 1, § 247 Satz 2 StPO) liegt nicht vor, weil sein Ausschluss von der Zeugenvernehmung der Nebenklägerin nach § 247 Satz 2 StPO auch die Augenscheinseinnahme ihrer äußeren Erscheinung mit umfasste.

a) Dem Recht des Angeklagten auf Anwesenheit in der Hauptverhandlung, das ihm aufgrund seines Anspruchs auf rechtliches Gehör und angemessene Verteidigung in Art. 103 Abs. 1 GG sowie durch Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK garantiert wird, kommt eine hohe Bedeutung zu (vgl. BGH, Beschluss vom 21. April 2010 – GSSt 1/09, BGHSt 55, 87 Rn. 14; Urteil vom 22. August 2017 – 1 StR 216/17, NStZ 2018, 156, 157; jew. mwN). Es kann daher nur in eng begrenzten Ausnahmefällen, in denen andere gewichtige Belange entgegenstehen und eine Einschränkung seiner grundsätzlich zu gewährleistenden Anwesenheit verlangen, eingeschränkt werden. Eine solche Ausnahme enthält § 247 Satz 2 StPO. Diese Vorschrift – von der die Jugendkammer vorliegend Gebrauch gemacht hat – regelt den Ausschluss des Angeklagten während der Vernehmung des Zeugen zu dessen Schutz (vgl. KK-StPO/Diemer, 9. Aufl., § 247 Rn. 1; BeckOK-StPO/Berg, 54. Ed., § 247 Rn. 6). Welche Verfahrensvorgänge vom Begriff der Vernehmung im Sinne des § 247 Satz 2 StPO erfasst werden, wird vom Gesetz nicht näher bestimmt. Grundsätzlich ist jedoch mit Blick auf die Bedeutung des Anwesenheitsrechts des Angeklagten eine restriktive Auslegung geboten (vgl. BGH, Beschluss vom 21. April 2010 – GSSt 1/09, BGHSt 55, 87 Rn. 14 mwN). Der mit einem Ausschluss zwangsläufig verbundene Eingriff in die Autonomie des Angeklagten ist aus Gründen der Verhältnismäßigkeit auf solche Verfahrenshandlungen zu beschränken, bei denen der Schutzzweck den Ausschluss unbedingt erfordert (vgl. BGH, Beschluss vom 21. April 2010 – GSSt 1/09, BGHSt 55, 87 Rn. 15 mwN).

b) Gemessen daran gebietet es der Zeugen- und Opferschutz im Fall des § 247 Satz 2 StPO, den Vernehmungsbegriff auf die Inaugenscheinnahme des äußeren Erscheinungsbildes der Zeugin – hier der Nebenklägerin – zu erstrecken.

aa) Wurde – wie hier – der Angeklagte zu Recht nach § 247 Satz 2 StPO für die Dauer der Vernehmung einer minderjährigen Zeugin aus dem Sitzungssaal entfernt, weil bei dieser Zeugin im Fall einer Konfrontation mit dem Angeklagten ein hohes Risiko für eine Retraumatisierung besteht, würde der Zweck dieser Maßnahme vereitelt, wenn eine Inaugenscheinnahme des äußeren Erscheinungsbildes der Zeugin wiederum in Anwesenheit des Angeklagten stattfinden müsste. Vielmehr ist es zur Vermeidung jedweden Zusammentreffens von Angeklagtem und zu schützendem Zeugen regelmäßig unabdingbar, den Angeklagten auch von der Augenscheinseinnahme des Zeugen auszuschließen. Insoweit könnte sogar zu besorgen sein, dass der Zeuge bei der Durchführung des Augenscheins noch intensiver der Begegnung mit dem Angeklagten ausgesetzt wäre als bei seiner Vernehmung. Denn konsequenterweise müsste dem Angeklagten als Prozessbeteiligtem dann auch das Recht zugesprochen werden, den Augenschein selbst vorzunehmen und sich zu diesem Zweck dem Zeugen zu nähern (vgl. BGH, Beschluss vom 12. September 2007 – 2 StR 187/07 Rn. 17). Es liegt daher auf der Hand, dass eine derartige Konfrontation während der Augenscheinseinnahme für den Zeugen ebenso einen erheblichen Nachteil für sein Wohlergehen besorgen ließe wie seine Vernehmung im Beisein des Angeklagten.

Ein anderes Prozedere, das zugleich das Anwesenheitsrecht des Angeklagten gewährleistet und eine Begegnung zwischen Zeugen und Angeklagtem vermeidet, ist durch das Gericht, wenn es die Person des Zeugen unmittelbar zum Gegenstand eines Augenscheins machen will, nicht zu gestalten (anders beim Ausschluss von der Verhandlung über die Entlassung des Zeugen: vgl. BGH, Beschluss vom 21. April 2010 – GSSt 1/09, BGHSt 55, 87 Rn. 16 ff.; vgl. auch Urteil vom 31. Mai 1990 – 4 StR 112/90, BGHSt 37, 48, 49 [§ 247 Satz 2 StPO entsprechend auf die Vereidigung]).

bb) Es kann danach dahinstehen, ob im vorliegenden Fall in der Sache überhaupt eine eigenständige Inaugenscheinnahme stattgefunden hat. Denn das Betrachten der äußeren Erscheinung im Sinne der sich offen darbietenden Körperbeschaffenheit eines Zeugen während seiner Befragung gehört zur Vernehmung. Eines förmlichen Augenscheins bedarf es dazu nicht (vgl. BGH, Urteil vom 28. November 1973 – 3 StR 183/73, bei Dallinger MDR 1974, 367 f.: die Entscheidung betraf die visuelle Wahrnehmung der Narbe eines Angeklagten, bezieht sich aber auf die allgemeine Abgrenzung zwischen Vernehmung und Augenschein, die insoweit auch für Zeugen gilt, vgl. hierzu BGH, Urteil vom 5. März 1954 – 5 StR 661/53, BGHSt 5, 354, 356; Hanack, JR 1989, 254, 256; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 86 Rn. 14; MüKo-StPO/Trück, 2. Aufl., § 86 Rn. 23; BeckOK-StPO/Goers, 54. Ed., § 86 Rn. 12.).

Dass vorliegend die Augenscheinseinnahme über die schon während der Anhörung der Nebenklägerin evidente körperliche Betrachtung hinausgegangen wäre, hat weder die Revision vorgetragen noch ergeben die Urteilsgründe hierfür irgendeinen Anhaltspunkt. Dass die Jugendkammer es vorliegend gerade nicht bei der Vernehmung der Nebenklägerin belassen, sondern diese im Anschluss an die Befragung noch förmlich in Augenschein genommen hat, führte danach nicht zu einer anderen Sichtweise. Denn diesem Verfahrensvorgang käme dann keine selbstständige Bedeutung mehr zu (vgl. Becker in Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 247 Rn. 34). Vielmehr erschöpfte er sich in der erneuten visuellen Wahrnehmung der Nebenklägerin, die allen (präsenten) Prozessbeteiligten bereits während der vorangegangenen Zeugenvernehmung möglich gewesen war.“

Revision II: Vorführung des Angeklagten zur HV?, oder: Wir brauchen den Angeklagten nicht…

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Im zweiten Posting dann etwas zur Revisionshauptverhandlung (beim BGH), nämlich die Frage der Teilnahme des (inhaftierten) Angeklagten. Dazu hat der BGH noch einmal im BGH, Beschl. v. 13.12.2022 – 1 StR 284/22 – Stellung genommen.

Der Angeklagte ist wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vierzehn Jahren verurteilt. Dagegen seine Revision und die der StA. Die Revision der StA ist auf den Strafausspruch beschränkt worden. Sie rügt die Verletzung sachlichen Rechts; insoweit wird insbesondere geltend gemacht, das LG habe das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe zu Unrecht verneint und rechtsfehlerhaft von der Milderungsmöglichkeit nach § 23 Abs. 2 StGB Gebrauch gemacht. Die Revisionshauptverhandlung ist auf den 24.01.2023 anberaumt.

Der sich in in der Sache in U-Haft befindende Angeklagte hat beantragt, an der Hauptverhandlung teilnehmen zu können. Der BGH hält die Vorführung des Angeklagten zum Termin nicht für geboten:

„Die Revisionshauptverhandlung ist gemäß § 337 StPO auf die rechtliche Nachprüfung des angefochtenen Urteils beschränkt. Eine eigene Sachentscheidung des Senats entsprechend § 354 Abs. 1 StPO kommt nach Aktenlage nicht in Betracht. Besondere in der Person des Angeklagten liegende Umstände, die eine Vorführung angezeigt erscheinen lassen, sind nicht ersichtlich. Auch unter Berücksichtigung der Bedeutung des Falles für den Angeklagten erfordert weder das Gebot der Waffengleichheit noch das Recht auf effektive Verteidigung seine Vorführung, da die Verteidiger des Angeklagten in der Hauptverhandlung anwesend sein werden. Das Recht des Angeklagten auf Anwesenheit in der Verhandlung gemäß Art. 8 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren wird durch die der innerstaatlichen Umsetzung der Richtlinie dienende, dieser Entscheidung zugrunde gelegte Bestimmung des § 350 StPO gewahrt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 10. Oktober 2019 – 1 StR 113/19 Rn. 2 mwN und vom 28. Mai 2020 – 3 StR 77/20; vgl. BT-Drucks. 19/4467, Seite 9 ff., 22 ff.).“

StPO II: Anwesenheit des Angeklagten in der Revisions-HV, oder: Da brauchen wir dich nicht

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In der zweiten Entscheidung des Tages, dem BGH, Beschl. v. 02.04.2019 – 5 StR 685/18, nimmt der BGH zur Frage der Erforderlichkeit der Anwesenheit einesAngeklagten in der Revisionshauptverhandlung Stellung.

Das LG hatte die Angeklagten wegen (gemeinschaftlicher) versuchter schwerer Brandstiftung, den Angeklagte U. in Tateinheit mit einem Verstoß gegen das Waffengesetz, zu Freiheitsstrafen von vier Jahren und sechs Monaten (U. ) bzw. zwei Jahren – unter Aussetzung der Vollstreckung dieser Strafe zur Bewährung – (B. ) verurteilt. Gegen das Urteil richteten sich die jeweils auf die Sachrüge gestützten Revisionen der Staatsanwaltschaft, die vom Generalbundesanwalt vertreten werden, und des Angeklagten B. Die Revisionshauptverhandlung war für den 17.04.2019 anberaumt. Der inhaftierte Angeklagte U. hatte mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 18.03.2019 beantragt, an der Hauptverhandlung teilnehmen zu können.

Dazu der BGH:

„Der Senat hält eine Vorführung dieses Angeklagten zur Hauptverhandlung nicht für erforderlich.

Die Revisionshauptverhandlung ist gemäß § 337 StPO auf die rechtliche Nachprüfung des angefochtenen Urteils beschränkt. Eine eigene Sachentscheidung des Senats gemäß § 354 Abs. 1, Abs. 1a StPO kommt nach Aktenlage nicht in Betracht. Besondere in der Person des Angeklagten liegende Umstände, die eine Vorführung erforderlich erscheinen lassen, sind nicht ersichtlich. Auch unter Berücksichtigung der Bedeutung des Falles für den Angeklagten erfordert weder das Gebot der Waffengleichheit noch das Recht auf effektive Verteidigung seine Vorführung, da der Verteidiger des Angeklagten in der Hauptverhandlung anwesend sein wird (vgl. hierzu KK/StPO-Gericke, 8. Aufl., § 350 Rn. 10).“

Die vom BGH getroffene Sachentscheidung findet man dann im BGH, Urt. v. 17.04. 2019 – 5 StR 685/18.

StPO I: Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung, oder: Bild-Ton-Übertragung reicht nicht

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Heute dann Verfahrensrecht. Und den Reigen eröffnet der BGH, Beschl. v. 11.12.2018 – 2 StR 250/18, der zum Anwesenheitsrecht des Angeklagten in der Hauptverhandlung Stellung nimmt.

Das LG hatte den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a. zu einer Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Vor der Vernehmung einer der Geschädigten beschloss die Strafkammer gemäß § 247 Satz 1 StPO die Entfernung des Angeklagten aus dem Sitzungssaal für die Dauer dieser Vernehmung. Der Angeklagte erhielt Gelegenheit, die Vernehmung „über Video“ zu verfolgen und über seine Verteidiger Fragen an die Zeugin zu stellen.

Der Angeklagte und eine Verteidigerin nahmen daraufhin in einem Nebenraum Platz, von dem aus sie die Vernehmung der Zeugin durch Bild-Ton-Übertragung verfolgen konnten. Ein weiterer Verteidiger verblieb im Sitzungssaal. Während der Vernehmung wurde ein Brief der Zeugin an ihre Mutter „von der Zeugin in Augenschein genommen und durch den Vorsitzenden verlesen“. Anschließend kam der Angeklagte zurück in den Saal und erklärte auf Befragen, dass er die Vernehmung der Zeugin gut habe verfolgen können und keine weiteren Fragen an diese habe. In der Revision beanstandete der Angeklagte mit der Verfahrensrüge eine Verletzung seines Anwesenheitsrechts. Das Rechtsmittel hatte Erfolg:

„3. Die Rüge ist begründet. Die Verlesung des Briefes der Geschädigten in Abwesenheit des Angeklagten war verfahrensfehlerhaft im Sinne von § 230 Abs. 1, § 247 Satz 1 StPO (a), der Fehler wurde in der Hauptverhandlung nicht geheilt (b) und auf dem Verfahrensfehler beruht das Urteil gemäß § 338 Nr. 5 StPO (c).

a) Das Landgericht hat das Anwesenheitsrecht des Angeklagten durch eine Beweiserhebung, die nicht in seiner Abwesenheit stattfinden durfte, verletzt.

aa) Der Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung kommt im deutschen Strafprozess ein hoher Stellenwert zu. Sie ist nicht nur zur Wahrheitsfindung, sondern auch für die Verteidigung des Angeklagten von erheblicher Bedeutung. Deshalb bestimmt § 230 Abs. 1 StPO, das gegen einen ausgebliebenen Angeklagten keine Hauptverhandlung stattfindet. Der Angeklagte hat danach nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht zur Anwesenheit (vgl. BGH, Beschluss vom 21. April 2010 – GSSt 1/09, BGHSt 55, 87, 88).

Unter der Anwesenheit des Angeklagten ist dessen geistige und körperliche Präsenz am Verhandlungsort zu verstehen. Die Anwesenheit in einem Nebenraum zum Sitzungssaal genügt nicht; denn auch dies ist ein Fall der Entfernung des Angeklagten aus dem Sitzungszimmer im Sinne von § 247 Satz 1 StPO, der als Ausnahme von der Anwesenheit im Sinne des § 230 Abs. 1 StPO im Gesetz geregelt ist. Dies gilt auch dann, wenn dort für den Angeklagten im Nebenzimmer eine Möglichkeit zur gleichzeitigen Wahrnehmung des Verhandlungsgeschehens im Wege einer Bild-Ton-Übertragung besteht. Die Strafprozessordnung sieht keine Ersetzung der Anwesenheit des Angeklagten im Sitzungszimmer durch eine solche Bild-Ton-Übertragung in einen Nebenraum vor. Sie kennt nur die Möglichkeit der audiovisuellen Vernehmung eines Zeugen, der sich während der Vernehmung an einem anderen Ort befindet (§ 247a StPO). Um einen solchen Fall geht es hier nicht.

Die durch den Beschluss der Strafkammer eingeräumte Möglichkeit für den Angeklagten, „die Verhandlung über Video zu verfolgen“, war zwar geeignet, die nach § 247 Satz 4 StPO gebotene Unterrichtung zu ersetzen (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2006 – 1 StR 268/06, BGHSt 51, 180, 182 f.). Sie änderte aber nichts an seiner vorübergehenden Abwesenheit im Sinne von § 230 Abs. 1 StPO durch Entfernung aus dem Sitzungszimmer gemäß § 247 Satz 1 StPO.

bb) Das Recht und die Pflicht des Angeklagten zur Anwesenheit am Verhandlungsort kann nach der Strafprozessordnung nur in Ausnahmefällen durchbrochen werden. Nach der eng auszulegenden Ausnahmevorschrift des § 247 Satz 1 StPO (vgl. BGH, Urteil vom 21. Oktober 1975 – 5 StR 431/75, BGHSt 26, 218, 220) kann der Angeklagte unter anderem während einer Zeugenvernehmung aus dem Sitzungszimmer entfernt werden, wenn zu befürchten ist, ein Zeuge werde bei seiner Vernehmung in Gegenwart des Angeklagten die Wahrheit nicht sagen (§ 247 Satz 1 Var. 2 StPO). Die Entfernung des Angeklagten aus dem Sitzungszimmer ist dann aber auf die Vernehmung des Zeugen beschränkt. Eine andere Beweiserhebung, wie eine Urkundenverlesung, gehört nicht dazu, auch wenn sie einen sachlichen Zusammenhang mit der Zeugenvernehmung aufweist. Da im Protokoll der Hauptverhandlung nichts anderes vermerkt ist, muss davon ausgegangen werden, dass die Verlesung des Briefes der Geschädigten durch den Vorsitzenden zum Zweck des Urkundenbeweises erfolgt ist (vgl. Senat, Urteil vom 18. Oktober 1967 – 2 StR 477/67, BGHSt 21, 332, 333). Dies durfte nicht in Abwesenheit des Angeklagten geschehen.

b) Eine Heilung des Verfahrensfehlers wäre nur durch Wiederholung der Urkundenverlesung in seiner Anwesenheit möglich gewesen (vgl. Erb NStZ 2010, 347; H. E. Müller JR 2007, 79, 80). Eine solche ist nach dem Protokoll der Hauptverhandlung nicht erfolgt…..“

Wenn der Angeklagte nach Verkündung des Urteils „abhaut“, oder: Nicht so schlimm

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Im ersten Posting des heutigen Tages weise ich auf den BGH, Beschl. v. 06.03.2018 – 5 StR 18/18 – hin. Ich denke, er wird den ein oder anderen überraschen.

Der Angeklagte ist vom LG wegen schwerer räuberischer Erpressung verurteilt worden. Mit der Verfahrensrüge wird geltend gemacht, dass der Angeklagte bei der mündlichen Urteilsbegründung durch den Vorsitzenden nicht anwesend war, also ein Verstoß gegen § 338 Nr. 5 StPO. Der BGH sagt: Nicht so schlimm:

„Dies gilt ebenso für die Rüge betreffend die Abwesenheit des Angeklagten bei der mündlichen Urteilsbegründung (§ 338 Nr. 5, § 230 Abs. 1, § 231 StPO). Die Entscheidung des Landgerichts, die Hauptverhandlung ohne den inhaftierten, nach Verkündung des Urteilstenors in den Vorführbereich geflüchteten Angeklagten, fortzusetzen, also von einer – regelmäßig gebotenen (vgl. BGH, Beschluss vom 4. Mai 1993 – 4 StR 207/93, NStZ 1993, 446 mwN) – zwangsweisen Vorführung abzusehen, ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Das Landgericht hat eine am Maßstab der Verhältnismäßigkeit ausgerichtete fallbezogene Gesamtbetrachtung vorgenommen, bei der es insbesondere dem Umstand Bedeutung beigemessen hat, dass zum Zeitpunkt der Weigerung des Angeklagten, sich erneut vorführen zu lassen, lediglich die mündliche Urteilsbegründung noch ausstand. Es hat demnach den ihm zustehenden Beurteilungsspielraum nicht überschritten (vgl. BGH, Beschluss vom 11. März 2014 – 5 StR 630/13, BGHSt 59, 187; MüKo-StPO/Arnoldi, § 231 Rn. 18 f.). Zudem betrifft die mündliche Mitteilung der Urteilsgründe – worauf der Generalbundesanwalt zutreffend verweist – lediglich einen nicht wesentlichen Teil der Hauptverhandlung, so dass der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO nicht vorliegt; auch könnte das Urteil auf einem solchen Rechtsfehler nicht im Sinne des § 337 Abs. 1 StPO beruhen.“

Auf den ersten Blick schon überraschend, oder?