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„Ich will an deine Muschi fassen“, oder: Kein sexueller Missbrauch und keine Beleidigung

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Nach den vielen OWi-Entscheidungen der letzten Tage auch mal wieder etwas vom BGH, und zwar den BGH, Beschl. v. 02.11.2017 – 2 StR 415/17. Das LG hat den Angeklagtenu.a. auch sexuellen Missbrauchs eines Kindes und Beleidigung in drei Fällen verurteilt. Insoweit hat seine Sachrüge Erfolg und führt zum Teilfreispruch. Grundlage sind folgende Sachverhalte:

„a) Das Landgericht hat festgestellt:

aa) Der zur Tatzeit 65-jährige Angeklagte traf am 7. November 2016 auf offener Straße auf die ihm unbekannte 11-jährige K. und forderte das Kind auf, mit ihm zu kommen. Als das Mädchen dieser Aufforderung nicht nachkam, folgte er ihr und äußerte, dass er mit ihr spazieren gehen wolle, „weil er an ihre Muschi fassen wolle“. Auf diese einmalige Äußerung des Angeklagten rannte das Kind davon (Fall II. 5 der Urteilsgründe).

bb) Am 9. November 2016 traf der Angeklagte an einem Wanderweg auf die ihm unbekannte 75-jährige R. . Ihr gegenüber äußerte der Angeklagte unvermittelt zweimal „Ich will Dich ficken“, woraufhin R. die Flucht ergriff (Fall II. 8 der Urteilsgründe).

cc) Am 26. November 2016 traf der Angeklagte an einem anderen Wanderweg auf die ihm unbekannte 63-jährige W. . Der Angeklagte wandte sich der Spaziergängerin zu und äußerte einmalig „Ich will Deine Muschi lecken“ (Fall II. 10 der Urteilsgründe).“

Dazu dann der BGH in seiner Entscheidung:

„b) Die Verurteilung des Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes gemäß § 176 Abs. 4 Nr. 4 Var. 4 StGB im Fall II. 5 der Urteilsgründe hat keinen Bestand, da die Feststellungen den Schuldspruch nicht tragen.

Die Tathandlung nach § 176 Abs. 4 Nr. 4 Var. 4 StGB setzt voraus, dass der Täter durch „entsprechende Reden“ auf ein Kind „einwirkt“. Mit dem Merkmal „entsprechende Reden“ sind Äußerungen gemeint, die nach Art und Intensität pornographischem Material – insbesondere pornographischen Darstellungen – entsprechen (vgl. BGH, Urteil vom 20. Juni 1979 – 3 StR 143/79, BGHSt 29, 29, 30; Senat, Beschluss vom 12. Juli 1991 – 2 StR 657/90, NStZ 1991, 485). „Einwirken“ bedeutet dabei eine psychische Einflussnahme tiefergehender Art (vgl. Senat, Beschluss vom 12. Juli 1991 – 2 StR 657/90, aaO; BGH, Beschluss vom 22. Juni 2010 – 3 StR 177/10, NStZ 2011, 455; Beschluss vom 22. Januar 2015 – 3 StR 490/14, BGHR StGB § 176 Abs. 4 Nr. 4 Einwirken 1). Bloß sexualbezogene oder grob sexuelle Äußerungen genügen ebenso wenig zur Tatbestandsverwirklichung des § 176 Abs. 4 Nr. 4 Var. 4 StGB wie kurze, oberflächliche Reden (vgl. BGH, Urteil vom 25. März 1975 – 1 StR 73/75, juris; Senat, Beschluss vom 12. Juli 1991 – 2 StR 657/90, aaO; LK/Hörnle, 12. Aufl., § 176 Rn. 99; MünchKomm-StGB/Renzikowski, 3. Aufl., § 176 Rn. 51; Schönke/Schröder/Eisele, StGB, 29. Aufl., § 176 Rn. 17).

Gemessen hieran erfüllt die einmalige Äußerung des Angeklagten gegenüber dem 11-jährigen Mädchen, „an ihre Muschi fassen“ zu wollen, nicht den Tatbestand des § 176 Abs. 4 Nr. 4 Var. 4 StGB. Zwar war die Äußerung gegenüber dem unbekannten Kind sexuell motiviert. Jedoch lag darin keine verbale Einwirkung, die nach Art und Intensität der Demonstration pornographischen Materials vergleichbar gewesen wäre. Der Angeklagte beschränkte sich auf eine kurze, einmalige Äußerung. Die dabei für das weibliche Geschlechtsorgan gewählte Bezeichnung „Muschi“ (vgl. zur Wortbedeutung Duden, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Band 6, 3. Aufl., S. 2660: salopp für Vulva u.a.) entspricht einer Benennung, die unter Kindern und auch gegenüber Kindern weithin gebräuchlich ist, ohne per se als anstößig oder vulgär empfunden zu werden.

c) Die Äußerung des Angeklagten gegenüber dem 11-jährigen Kind führt auch nicht zu einer Strafbarkeit wegen Beleidigung gemäß 185 StGB.

aa) Die Strafvorschrift des 185 StGB stellt die „Beleidigung“ unter Strafe, ohne das die Strafbarkeit begründende Verhalten näher zu umschreiben. Im Hinblick auf das Erfordernis der Tatbestandsbestimmtheit (Art. 103 Abs. 2 GG) bedarf die Vorschrift unter Bestimmung des zu schützenden Rechtsguts der näheren Konturierung (vgl. zu diesem Erfordernis bei § 185 StGB: Senat, Urteil vom 15. März 1989 – 2 StR 662/88, BGHSt 36, 145, 148 mwN; LK/Hilgendorf, aaO, Vor § 185 Rn. 2, 12; Fischer, StGB, 65. Aufl., § 185 Rn. 2; zum Erfordernis und zum Umfang der Tatbestandsbestimmtheit im materiellen Strafrecht allgemein vgl. BVerfGE 45, 363, 370 f. mwN).

Hiervon ausgehend ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass § 185 StGB Schutz vor Angriffen auf das Rechtsgut der Ehre gewährt. Ein Angriff auf die Ehre liegt vor, wenn der Täter einem anderen zu Unrecht Mängel nachsagt, die, wenn sie vorlägen, den Geltungswert des Betroffenen minderten. Eine „Nachrede“, die in einem herabsetzenden Werturteil oder einer ehrenrührigen Tatsachenbehauptung bestehen kann, verletzt den aus der Ehre fließenden Achtungsanspruch. Mit einer solchen „Nachrede“ wird die Missachtung, Geringschätzung oder Nichtachtung kundgegeben, die den Tatbestand verwirklicht (vgl. Senat, Urteil vom 15. März 1989 – 2 StR 662/88, BGHSt 36, 145, 148 mwN; vgl. auch BGH, Beschluss vom 12. August 1992 – 3 StR 318/92, BGHR StGB § 185 Ehrverletzung 4; LK/Hilgendorf, aaO, § 185 Rn. 1; MünchKomm-StGB/Regge/Pegel, aaO, § 185 Rn. 8; Fischer, aaO, § 185 Rn. 4).

Im Zusammenhang mit der Vornahme sexuell motivierter Äußerungen liegt ein Angriff auf die Ehre nur vor, wenn der Täter zum Ausdruck bringt, der Betroffene weise insoweit einen seine Ehre mindernden Mangel auf. Eine ehrverletzende Kundgabe von Missachtung liegt regelmäßig nicht allein in der sexuell motivierten Äußerung des Täters. Denn allein die sexuelle Motivation des Täters, mit der er den Betroffenen unerwünscht und gegebenenfalls in einer ungehörigen, das Schamgefühl betreffenden Weise konfrontiert, genügt für die erforderliche, die Strafbarkeit begründende, herabsetzende Bewertung des Opfers nicht. Eine Herabsetzung des Betroffenen kann sich bei sexuell motivierten Äußerungen im Einzelfall nur durch das Hinzutreten besonderer Umstände unter Würdigung des Gesamttatgeschehens ergeben (vgl. BGH, Urteil vom 14. Mai 1986 – 3 StR 504/85, NStZ 1986, 453, 454; Senat, Urteil vom 15. März 1989 – 2 StR 662/88, BGHSt 36, 145, 150; BGH, Beschluss vom 12. August 1992 – 3 StR 318/92, aaO; Senat, Beschluss vom 26. Juli 2006 – 2 StR 285/06, BGHR StGB § 185 Ehrverletzung 6; BGH, Beschluss vom 16. Februar 2012 – 3 StR 13/12, NStZ-RR 2012, 206; vgl. zu den Anforderungen an die im Einzelfall vorliegenden besonderen Umstände auch LK/Hilgendorf, aaO, § 185 Rn. 30, 31; MünchKomm-StGB/Regge/Pegel, aaO, § 185 Rn. 13; Fischer, aaO, § 185 Rn. 11, 11a).

bb) Gemessen hieran ergibt sich hier aus der sexuell motivierten Äußerung des Angeklagten nicht die für die Tatbestandsverwirklichung erforderliche herabsetzende Bewertung des Kindes. Der Angeklagte hat mit seiner einmaligen Äußerung nicht zum Ausdruck gebracht, das 11-jährige Mädchen sei mit einem entsprechenden, ihre Ehre mindernden Makel behaftet. Neben der kurzen, sexuell motivierten Äußerung, sind hier keine weiteren besonderen Tatumstände festgestellt, die auf eine von dem Angeklagten gewollte herabsetzende Bewertung des Kindes schließen lassen. Die Äußerung des Angeklagten stellt sich zwar als sexuell motiviert dar, weist jedoch für sich genommen noch keinen ehrverletzenden Charakter im Sinne des 185 StGB auf.

d) Aus den genannten Gründen können auch die Verurteilungen wegen Beleidigung in den Fällen II. 8 und II. 10 der Urteilsgründe keinen Bestand haben. Auch in diesen Fällen hat der Angeklagte die Betroffenen mit sexuell motivierten Äußerungen konfrontiert. In diesen flüchtigen Bemerkungen, die in keinem weiteren Handlungszusammenhang standen, ist eine herabsetzende Bewertung der Betroffenen mit ehrverletzendem Charakter im Sinne des 185 StGB ebenfalls noch nicht zu erkennen.“

Strafzumessung II: Strafzumessung beim sexuellen Missbrauchs, oder: Anleitungsbuch gefällig?

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Bei der zweiten OLG-Entscheidung zur Strafzumessung handelt es sich um den OLG Bambwerg, Beschl. v. 09.10.2017 – 3 OLG 6 Ss 94/17, der eine Vielzahl von Verstößen gegen das Doppelverwertungsverbot (§ 46 Abs. 3 StGB) beim sexuellen Kindesmissbrauch enthält. Die Beschlussgründe sprechen für sich:

3. Dagegen kann der Rechtsfolgenausspruch insgesamt keinen Bestand haben. Die Strafzumessung ist hinsichtlich sämtlicher Einzelfälle mehrfach rechtsfehlerhaft

a) Die nachfolgend aufgezeigten Rechtsfehler haften der Strafzumessung zu sämtlichen Einzeltaten an, weil die Berufungskammer jeweils ausdrücklich auf die zu Fall 1 herausgearbeiteten Strafzumessungserwägungen Bezug nimmt.

aa) Soweit das LG zu Lasten des Angekl. wertet, dass „die Tatfolgen für die Geschädigte nicht absehbar“ seien, ist dies in zweifacher Hinsicht rechtsfehlerhaft.

(1) Zum einen wird durch diese Erwägung gegen das Doppelverwertungsverbot des § 46 III StGB verstoßen (st.Rspr., vgl. nur BGH, Beschl. v. 20.08.2003 – 2 StR 285/03 = NStZ-RR 2004, 41 = StV 2004, 479; 07.07.1998 – 4 StR 300/98 = StV 1998, 656; 09.12.1997 – 4 StR 596/97 = NStZ-RR 1998, 326 und 25.02.1997 – 4 StR 409/96 = StV 1997, 519). Denn es ist gerade Zweck der §§ 174, 176 StGB, solche Gefahren zu verhindern, weil der Gesetzgeber davon ausgegangen ist, dass derartige Folgen regelmäßig mit der Tatbegehung eintreten (BGH a.a.O).

(2) Zum anderen liegt auch ein Verstoß gegen den Grundsatz in dubio pro reo vor, weil das LG nicht feststehende, überdies sogar als „nicht absehbar“ bezeichnete Tatfolgen strafschärfend gewertet hat  Eine zum Nachteil des Angekl. auf bloße Vermutungen hinsichtlich möglicherweise auftretender Spätfolgen der Tat gestützte Strafzumessung ist indes unzulässig (BGH, Beschl. v. 20.08.2003 – 2 StR 285/03 = NStZ-RR 2004, 41 = StV 2004, 479 und 07.07.1998 – 4 StR 300/98 = StV 1998, 656).

bb) Mit der strafschärfenden Erwägung, durch die sexuellen Übergriffe sei das „Tochter-Vater-Verhältnis zerstört“ worden und müsse „(mindestens) neu aufgebaut“ werden, wurde ein weiterer Verstoß gegen das Doppelverwertungsverbot des § 46 III StGB begangen. Es entspricht gerade dem Zweck des § 174 I Nr. 3 StGB, die ungestörte sexuelle Entwicklung von Kindern dadurch zu schützen, dass die Familie, in der das Kind angesichts der Abhängigkeit von den Eltern in erhöhtem Maße gegen sexuelle Übergriffe anfällig ist, von solchen Verhaltensweisen freigehalten wird (BGH, Beschl. v. 25.02.1997 – 4 StR 409/96 = StV 1997, 519 = NStZ 1998, 131 und 17.12.1993 – 4 StR 713/93 = StV 1994, 306 = BGHR StGB § 46 III Sexualdelikte 3). Zudem ist die Zerstörung dieses Vertrauensverhältnisses eine regelmäßige Begleiterscheinung einer derartigen Deliktsverwirklichung, sodass dies auch deswegen im Hinblick auf das Doppelverwertungsverbot nicht strafschärfend berücksichtigt werden darf (BGH, Beschl. v. 17.12.1993 – 4 StR 713/93 [a.a.O.]).

b) Im Fall 2 liegt ein weiterer Verstoß gegen § 46 III StGB vor, indem die Berufungskammer zu Lasten des Angekl. wertet, er habe „das Vertrauen seiner Tochter als Vater bewusst ausgenutzt“, weil bei einer Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen (§ 174 I Nr. 3 StGB) regelmäßig ein Vertrauensverhältnis zwischen Täter und Opfer vorhanden ist (BGH, Beschl. v. 25.02.1997 – 4 StR 409/96 = StV 1997, 519 = NStZ 1998, 131).

c) Über die genannten Verstöße hinaus hat die Berufungskammer mit ihrer strafschärfenden Erwägung im Fall 3, es sei „trotz der zeitlichen Zäsur und der zwischenzeitlich empfundenen Reue zu einem weiteren Übergriff gekommen“, zum wiederholten Male das Doppelverwertungsverbot verletzt, weil sie dem Angekl. damit die Begehung der Tat anlastet, was durch § 46 III StGB gerade untersagt ist (vgl. nur BGH, Beschl. v. 09.12.2014 – 3 StR 502/14 = NStZ-RR 2015, 71 = StV 2015, 487). Der Umstand, dass vorher eine zeitliche Zäsur eingetreten war, ist ebenso wenig von Bedeutung wie die von ihm „empfundene Reue“, zumal es sich hierbei um Umstände handelt, die nicht gegen den Angekl. gewertet werden dürfen, sondern jedenfalls die empfundene Reue sogar ein bestimmender Strafmilderungsgrund ist.

d) Die strafschärfende Erwägung, der Angekl. habe gegen die „Bewährungsauflage“ (gemeint ist offensichtlich eine Weisung) verstoßen, keine Betäubungsmittel zu konsumieren, ist jedenfalls in den Fällen 2.-4., bei denen keine akute Drogenintoxikation vorlag, rechtsfehlerhaft. Denn die Lebensführung als solche darf dem Angekl. nicht angelastet werden, solange sich diese weder als strafbares Verhalten darstellt (BGH, Beschl. v. 21.03.1979 – 4 StR 606/78 = NJW 1979, 1835; BGH, Urt. v. 07.09.1983 – 2 StR 412/83 = StV 1984, 21 = NStZ 1984, 259; LK/Theune StGB 12. Aufl. § 46 Rn. 167) noch sonst in einer Beziehung zu den abgeurteilten Taten steht (BGH, Urt. v. 24.07.1985 – 3 StR 134/85 [bei juris] und 18.10.1979 – 4 StR 517/79 = MDR 1980, 240 = JR 1980, 335; v. 21.03.1979 – 4 StR 606/78 = NJW 1979, 1835; Urt. v. 10.11.1953 – 1 StR 227/53 = BGHSt 5, 124 und 07.09.1983 – 2 StR 412/83, a.a.O.). Der bloße Drogenkonsum ist jedoch nicht strafbar (vgl. nur BGH, Beschl. v. 24.11.1992 – 1 StR 780/92 [bei juris]; OLG Bamberg, Beschl. v. 14.10.2013 – 3 Ss 102/13 = StV 2014, 621 = OLGSt BtMG § 29 Nr 21), solange dieser mit keinem Besitz verbunden ist, was die Urteilsfeststellungen aber gerade nicht hergeben. Auch ist ein Zusammenhang zwischen dem Betäubungsmittelkonsum und den Fällen 2.-4. weder dargetan noch ersichtlich. Zwar wurde dieser Strafschärfungsgrund explizit nur bei Fall 1 hervorgehoben, durch die Bezugnahme auf die diesbezüglichen Erwägungen für die Fälle 2.-4. hat er aber Eingang in die Strafzumessung aller Taten gefunden.

e) Schließlich hat die Berufungskammer im Fall 3 gegen das Verschlechterungsverbot des § 331 I StPO verstoßen. Das AG hatte für diese Tat eine Einzelfreiheitsstrafe von 9 Monaten verhängt, während die Berufungskammer die Strafe für diesen Fall auf ein Jahr festgesetzt hat. Da das Verbot der ‚reformatio in peius‘ nicht nur eine Erhöhung der Gesamtstrafe, sondern auch der Einzelstrafen ausschließt (vgl. BGH, Urt. v. 21.05.1951 – 3 StR 224/51 = BGHSt 1, 252; Beschl. v. 23.08.2000 – 2 StR 171/00 = wistra 2000, 475 = BGHR StPO § 357 Erstreckung 7; Meyer-Goßner/Schmitt StPO 60. Aufl. § 331 Rn. 18 m.w.N.), kann das Berufungsurteil in Bezug auf die verhängte Einzelstrafe und die darauf aufbauende Gesamtstrafe keinen Bestand haben. Mit der Verwerfung der von der StA zu Ungunsten des Angekl. eingelegten Berufung lebte das Verschlechterungsverbot wieder auf (BayObLG, v. 11.09.2003 – 1St RR 108/03 = NStZ-RR 2004, 22; OLG Bamberg, Beschl. v. 19.11.2014 – 3 OLG 8 Ss 152/14 [bei juris]; 16.10.2014 – 3 OLG 7 Ss 132/14 = NStZ-RR 2015, 149 und 21.03.2017 – 3 OLG 8 Ss 28/17 [bei juris]; KK/Paul StPO 7. Aufl. § 331 Rn. 2, LR/Gössel StPO 26. Aufl. § 331 Rn. 26, jew. m.w.N.).“

Da braucht aber dringend mal ein „Berufunsgkämmerer“ ein Anleitungsbuch für die Strafzumessung.

Sexueller Missbrauch, oder: Die Lücke in der Beweiswürdigung bei Aussage-gegen-Aussage

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Ich habe gerade erst gestern auf das BGH, Urt. v. 04.9.2017 – 4 StR 45/17 hingewiesen (s. Freispruch vom Vergewaltigungsvorwurf, oder: Aussage-gegen-Aussage), das die Aufhebung eines Freispruchs vom Vorwurf der Vergewaltigung in einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation zum Gegenstand hatte. Heute ist auf der Homepage des BGH der BGH, Beschl. v. 21.09.2017 – 2 StR 275/17 – eingestellt worden. Die Revision richtete sich gegen ein Urteil des LG Gera, durch das der Angeklagte u.a. wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern, versuchten schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern, jeweils in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern und wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und zwei Monaten verurteilt worden ist. Der BGH hat (ebenfalls) aufgehoben, weil er in der gegebenen Aussage-gegen-Aussage-Konstellation Rechtsfehler bei der landgerichtlichen Beweiswürdigung sieht. Die sei lückenhaft:

„In Fällen, in denen – wie hier – „Aussage gegen Aussage“ steht, hat der Bundesgerichtshof zudem besondere Anforderungen an die Darlegung einer zur Verurteilung führenden Beweiswürdigung formuliert. Die Urteilsgründe müssen in einem solchen Fall erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, welche die Entscheidung zugunsten oder zuungunsten des Angeklagten zu beeinflussen geeignet sind, erkannt, in seine Überlegungen einbezogen (vgl. BGH, Beschluss vom 22. April 1987 – 3 StR 141/87, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 1; Beschluss vom 22. April 1997 – 4 StR 140/97, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 13; Senat, Beschluss vom 10. Januar 2017 – 2 StR 235/16, aaO) und auch in einer Gesamtschau gewürdigt hat (st. Rspr.; vgl. nur Senat, Beschluss vom 10. Januar 2017 – 2 StR 235/16, aaO mwN). Dabei sind gerade bei Sexualdelikten die Entstehung und die Entwicklung der belastenden Aussage aufzuklären (vgl. BGH, Urteil vom 16. Mai 2002 – 1 StR 40/02, NStZ 2002, 656, 657; Senat, Beschluss vom 10. Januar 2017 – 2 StR 235/16, aaO).

b) Den danach an die Beweiswürdigung zu stellenden strengen Anforde-rungen ist das Landgericht nicht gerecht geworden. Seine Beweiswürdigung leidet unter durchgreifenden Erörterungsmängeln. Der Generalbundesanwalt hat insoweit in seiner Antragsschrift vom 19. Juli 2017 ausgeführt:

„Hinsichtlich des Kerngeschehens der sechs festgestellten Taten liegt eine ‚Aussage gegen Aussage‘-Situation vor. Anders als die Feststellungen zur Aussageentstehung sind die Feststellungen und Erwägungen zur Aussageentwicklung, die für die Bewertung der Aussage von Geschädigten des sexuellen Missbrauchs von besonderer Bedeutung sind (vgl. auch BGH, Beschluss vom 24. April 2014 – 5 StR 113/14, NStZ-RR 2014, 219), lückenhaft.

Das Landgericht führt aus, dass die Geschädigte ihre Erleb-nisse zunächst gegenüber dem Zeugen M. , dann auch detailreicher gegenüber der Polizei und schließlich ebenfalls umfassend vor der Kammer geschildert hat (UA S. 9). Aufgrund der Aussage der Kriminalhauptkommissarin B. stellt die Kammer sodann fest, dass die von der Geschädigten vor der Kammer gemachten Angaben mit denen übereinstimmen, die sie schon bei der Polizei gemacht hat. Auch hier habe sie schon die genaueren Details dazu – gemeint sind die als sexuelle Übergriffe bezeichneten Handlungen des Angeklagten – mitgeteilt. Dem Urteil sind jedoch diese genaueren Details der Aussage insbesondere zum Kerngeschehen nicht zu entnehmen. Ansatzweise werden lediglich die Situation nach dem letzten erlebten Übergriff im Jahr 2011, als die Geschädigte ihre Mutter aufgefordert hatte, sie abzu-holen (UA S. 11) und die Vorkommnisse geschildert, in denen der Angeklagte die Geschädigte an der Brust gestreichelt und mit der Zunge berührt hat (UA S. 25, 29). Ebenso nur in Ansätzen (UA S. 15, 27 f.) wird wiedergegeben, was die Geschädigte gegenüber ihrem Vater und ihrer Mutter zu den Taten des Angeklagten erzählt hat, als sie sich diesen anvertraut hatte.

Die Konstanz der Aussage der Geschädigten ist jedoch für die Verurteilung des Angeklagten von besonderer Bedeutung. Diese muss für das Revisionsgericht nachprüfbar sein, wodurch detaillierte Angaben zu den verschiedenen Aussagen der Zeugin erforderlich sind. Dies gilt umso mehr, als die Kammer im Zusammenhang mit den Feststellungen der Taten 5 und 6 selbst von Abweichungen zwischen der Aussage der Geschädigten vor Gericht und ihrer polizeilichen Vernehmung ausgegangen ist (UA S. 29).

Die von der Kammer nachvollziehbar (UA S. 9, 18 ff.) als widerlegt angesehene Einlassung des Angeklagten und als unglaubwürdig angesehenen Ausführungen der Zeugin U. (UA S. 11 f., 15 ff.) vermögen diese Mängel in einer Gesamtschau ebenso wenig (zu) beseitigen, wie die Aussagen der Zeugen M. und M. -U. zu vergleichbaren Taten des Angeklagten zum Nachteil der Zeugin Mü. .“

Diesen zutreffenden Ausführungen schließt sich der Senat an.

Und sonst scheint der BGH mit dem landgerichtlichen Urteil auch nicht zu recht zufrieden zu sein:

„3. Zur sprachlichen Abfassung eines Urteils verweist der Senat auf Meyer-Goßner/Appl, Die Urteile in Strafsachen, 29. Aufl., Rn. 207 ff.“

Strafzumessung beim sexuellen Missbrauch, oder: Kein Sonderrecht nach langem Zeitablauf

Am Freitag ist ja an sich „Gebührentag“ – also „Lohntütenball“ 🙂 . Aber ich hatte ja neulich schon darauf hingewiesen, dass in der letzten Zeit nur wenige gebührenrechtliche Entscheidungen eingegangen sind, die ich vorstellen könnte. Daher noch mal die Bitte: Schickt  Gebührenrecht. Es wird dringend gebraucht.

Ich muss also die Lücke heute daher anderweitig schließen. Und das tue ich zunächst mit dem BGH, Beschl. v. 12.06.2017 – GSSt 2/17. Am Aktenzeichen kann man erkennen, dass es sich um einen Beschluss des Großen Senats für Strafsachen handelt, der auf Vorlage des 3. Strafsenats – ja, es können auch andere Senate als der  2. Strafsenat vorlegen – ergangen ist. Es geht um die Frage der Bedeutung des zeitlichen Abstands zwischen Tat und Urteil im Rahmen der Strafzumessung bei einer Veruretilung wegen sexuellen Missbrauch eines Kindes.

Der 3. Strafsenat hatte gefragt:

„Kann der zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil im Rahmen der Strafzumessung wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes nicht in gleicher Weise Berücksichtigung finden wie bei anderen Straftaten?“

Und darauf hat der Große Senat für Strafsachen in seiner für BGHSt bestimmten Entscheidung geantwortet:

„Dem zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil kommt im Rahmen der Strafzumessung bei Taten, die den sexuellen Missbrauch von Kindern zum Gegenstand haben, die gleiche Bedeutung zu wie bei anderen Straftaten.“

Also ist (nach wie vor) auch bei den Delikten des sexuellen Missbrauchs eine sich am Einzelfall orientierenden Bewertung der für die Strafzumessung bedeutsamen Umstände erforderlich. Und der (lange) Zeitraum zwischen Tat und Urteil hat auch hier strafmildernde Wirkung.

Beweiswürdigung beim sexuellen Missbrauch, oder: Das „Porno-Video“ auf dem Handy hätte man erörtern müssen

entnommen openclipart.org

Mit dem BGH, Urt. v. 26.04.2017 – 5 StR 445/16 – hat der 5. Strafsenat des BGH in einem Verfahren wegen des Verdachts des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a. ein Urteil des LG Saarbrücken aufgehoben, das den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen frei gesprochen hat. Dem Angeklagten wurde zur Last gelegt, seine damals sechsjährige Stieftochter L. in den Wochen vor dem 20.11.2013 in fünf Fällen in ihrem Zimmer bzw. im Keller des von ihnen bewohnten Hauses dazu gebracht zu haben, an ihm den Oralverkehr zu vollziehen. Im Zusammenhang mit einer dieser Taten soll der Angeklagte der Nebenklägerin auch Videos mit pornographischem Inhalt, insbesondere Oralverkehr, gezeigt haben. Die Stietochter hatte dieses gegenüber ihrer Mutter, einer Familienhelferin und bei einer audiovisuell aufgezeichneten ermittlungsrichterlichen Vernehmung in Anwesenheit der aussagepsychologischen Sachverständigen bestätigt. Sie hatte außerdem angegeben, dass der Angeklagte ihr auf seinem Handy ein Video gezeigt, in dem eine Frau bei einem Mann das getan habe, was sie beim Angeklagten gemacht habe. Die Sachverständige hatte ausgeführt, dass aus aussagepsychologischer Sicht hinsichtlich dreier Fälle des Oralverkehrs „wahrscheinlich“ von einem tatsächlichen Erlebnishintergrund auszugehen sei. Demgegenüber hatte ist das Landgericht zu der Einschätzung gelangt, dass die Angaben der Nebenklägerin, die in der Hauptverhandlung von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht, aber die Verwertung ihrer früheren Angaben gestattet hat, „nicht geeignet“ seien, die Tatvorwürfe zu beweisen.

Der BGH hebt wegen eines Verstoßes gegen § 261 StPO auf:

„Die Revision der Nebenklägerin hat bereits mit der Verfahrensrüge Erfolg, mit der sie die Verletzung von § 261 StPO beanstandet. Das Landgericht hat sich durch das Unterlassen der Erörterung in die Hauptverhandlung eingeführter Beweiserkenntnisse zu pornographischen Videodateien auf dem Mobiltelefon des Angeklagten nicht mit allen erhobenen Beweisen auseinandergesetzt und daher seine Überzeugung nicht aus dem vollständigen Inhalt der Beweisaufnahme geschöpft…..

b) Die Rüge ist auch begründet.

aa) Aus dem Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 261 StPO) folgt mit dem Ausschöpfungsgebot die Verpflichtung des erkennenden Gerichts, den gesamten beigebrachten Verfahrensstoff erschöpfend zu würdigen. In den schriftlichen Urteilsgründen muss es dies – auch bei freisprechen-den Urteilen – erkennen lassen. Umstände, die geeignet sind, die gerichtliche Entscheidung wesentlich zu beeinflussen, dürfen nicht stillschweigend über-gangen werden, sondern müssen in eine umfassende Gesamtwürdigung einbezogen werden (BGH, Urteil vom 10. Juli 1980 – 4 StR 303/80, NJW 1980, 2423 f.; Beschluss vom 18. Juni 2008 – 2 StR 485/07, NStZ 2008, 705, 706; LR-StPO/Sander, 26. Aufl., § 261 Rn. 14, 56 ff.).

bb) Dies zugrunde gelegt, hätte sich die Strafkammer in dem Urteil mit dem – dort nicht erwähnten – IT-Gutachten über die Auswertung des Mobiltelefons des Angeklagten auseinandersetzen müssen.

(1) Denn das Landgericht hat festgestellt, dass die Nebenklägerin konstant angegeben hatte, der Angeklagte habe ihr im unmittelbaren Zusammen-hang mit den angeklagten Taten einen oder mehrere Videofilme vorgeführt, die zeigten, „wie das gehe“ bzw. wie „eine Frau sich hingekniet und am Penis gelutscht“ habe; diesen Film bzw. diese Filme habe er ihr auf seinem Handy vorgespielt.

(2) Es handelt sich bei dem Vorhandensein solcher pornographischer Videos auf dem Mobiltelefon des Angeklagten nicht um eine unbedeutende Indiztatsache, der letztlich in der Gesamtheit der Beweiswürdigung kein erhebliches Gewicht beizumessen wäre.

Zwar stützt die Strafkammer den Freispruch des Angeklagten (auch) darauf, dass nicht ausgeschlossen werden könne, „dass die Nebenklägerin Gesehenes als Erlebtes berichtet hat“ (UA S. 27), L. also „die Bewegungen erst gemacht hat, weil sie sie zuvor auf einem pornographischen Film gesehen hat“ (UA S. 24), und „sie Dinge, die sie eventuell auf einem Video gesehen hat, auf sich übertragen hat, um dem polizeilichen Erwartungsdruck gerecht zu werden“ (UA S. 25). Bei der Prüfung der Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin nimmt die Strafkammer aber nicht hinreichend deren objektive Bestätigung dahin in den Blick, dass auf dem Mobiltelefon des Angeklagten tatsächlich pornographische Videos gespeichert waren, die Oralverkehr zum Inhalt haben, und diese Filme für ein Vorspielen in der von der Nebenklägerin geschilderten Tatsituation tatsächlich zur Verfügung standen. Damit lässt die Jugendkammer ein Beweisergebnis außer Betracht, dessen Aussagekraft über das von ihr gleichsam unterstellte und nicht näher in den Kontext der vorgeworfenen Tathandlungen eingeordnete Ansehen pornographischer Filme durch die Nebenklägerin wesentlich hinausgeht.“