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Pflichti III: Beiordnung wegen schwieriger Rechtslage?, oder: Ungleichartige Wahlfeststellung/Rahmenanklage

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Und zum Tagesschluss dann noch der LG Leipzig, Beschl. v. 29.04.2022 – 2 Qs 3/22 jug. – zur Beiordnung wegen Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage (§ 140 Abs. 2 StPO).

Der Jugendrichter hatte den Kollegen Costabel aus Leipzig nicht bestellt. Das LG ändert das dann ab:

„Die gem. §§ 142 Abs. 7 Satz 1, 311 StPO zulässige sofortige Beschwerde des Angeschuldigten gegen die ablehnende Entscheidung der Jugendrichterin ist begründet, weil wegen der Schwierigkeit der Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint und somit ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt, § 140 Abs. 2 StPO.

Mit Anklageschrift vom 1.11.2021 wurden dem Angeschuldigten wahlweise drei Diebstähle (Tatzeiten: 18.7. und 24.7.2020) oder drei Fälle der Hehlerei (zu nicht näher bestimmte Tatzeiten zwischen 18..7.2020 und 4.2.2021) oder drei Fälle der „Fundunterschlagung“ (ebenfalls im Tatzeitraum zwischen 18.7.2020 und 4.2.2021) zur Last gelegt. Ausgangspunkt der Anklagevorwürfe ist, dass der Angeschuldigte bei einer Polizeikontrolle am 4.2.2021 in Leipzig u.a. drei zur Fahndung ausgeschriebene Führerscheine in seiner Jackentasche mitführte, die den betreffenden Inhabern jeweils bei Diebstahlshandlungen am 18.7. und 24.7.2021 -zugleich mit weiteren Wertsachen- entwendet worden waren. Auf Nachfrage der Polizeibeamten soll der Beschuldigte zur Herkunft der Dokumente spontan angegeben haben, dass er die Führerscheine gerade gefunden habe und im Begriff gewesen sei, sie bei einer Polizeidienststelle in der Permoser Straße abzugeben. Nach Eröffnung der Tatvorwürfe und Belehrung über seine Rechte als Beschuldigter machte er nach Aktenlage keine weiteren Angaben zur Sache. Über die Zulassung der Anklage und die Eröffnung des Hauptverfahrens ist noch nicht entschieden.

Durch die hier mittels ungleichartiger Wahlfeststellung weit gefasste „Rahmenanklage“ können sich im Lauf des Verfahrens derart vielfältige Fallvarianten und Beweiskonstellationen ergeben, dass die Rechtslage ohne juristisches Fachwissen unübersichtlich werden dürfte. Nach § 244 Abs. 2 StPO ist das erkennende Gericht gehalten, sämtliche in Betracht kommende Tatvorwürfe erschöpfend aufzuklären, ehe für erwiesen erachteten Taten abgeurteilt werden oder ein Freispruch erfolgt. Aus Sicht versierter Strafrechtler mögen die grundlegenden Rechtsfragen zur ungleichartigen Wahlfeststellung und jeweiligen Anwendung des Zweifelssatzes durch die Entscheidungen des großen Senats des Bundegerichtshofes vom 8.5.2017 (BGHSt 62, 164 ff.) und des Bundesverfassungsgerichts vom 5.7.2019 (NJW 2019, 2837 ff.) hinreichend geklärt und der vorliegende Fall auch „leicht überschaubar“ sein. Die in materieller und prozessualer Hinsicht entscheidungsrelevanten Aspekte (vgl. Fischer, StGB, 69. Aufl., Rdnr. 32 bis 47 zu § 1 StGB) dürften aber selbst Volljuristen, die hauptsächlich auf anderen Rechtsgebieten tätig sind, nicht immer geläufig sein. Bei juristischen Laien darf man entsprechende Kenntnisse nur bei einfachsten Fallkonstellationen voraussetzen, etwa beim wahlweisen Vorwurf einer Diebstahls- oder Hehlereihandlung, wenn noch dazu ein enger zeitlicher und räumlicher Zusammenhang zwischen beiden Tatalternativen vorliegt.

Hier werden dem Angeschuldigten bis zu neun Tathandlungen innerhalb eines siebenmonatigen Zeitraumes zur Last gelegt, die ggf. umfassend zu prüfen sind. Die wahlweise Kombination mit den „Fundunterschlagungen“ wirft dabei noch zusätzliche Rechtsprobleme auf. So stellt das kurzfristige Behalten eines Fundgegenstandes noch keine Manifestation des Zueignungswillens gem. § 246 Abs. 1 StGB dar (vgl. § 965 BGB). Zudem erscheinen die im Anklagesatz angenommenen Konkurrenzen fragwürdig, zumal die Hehlerei(en) und die Unterschlagung(en) auch jeweils durch eine einzige Handlung des Angeschuldigten realisiert worden sein können.

Je größer die Zahl der sich wahlweise anbietenden Möglichkeiten und je vielfältiger ihre Art, desto komplexer die Rechtslage und die Gefahr, dass andere mögliche Geschehensabläufe übersehen werden. Das gilt erst recht für Laien, die sich in einer Hauptverhandlung ggf. mit Strafjuristen darüber auseinanderzusetzen haben. Selbst unter Berücksichtigung der prozessualen Fürsorgepflicht der Jugendrichterin dürfte der 21-jährige Angeschuldigte dieser Aufgabe alleine nicht gewachsen sein.“

Pflichti II: „Die Hauptverhandlung ist eine Farce…., oder: Reicht das für die Entpflichtung?

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Im zweiten Posting dann eine Entscheidung zur Abberufung bzw. Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung. Es handel sicu um den OLG Schleswig, Beschl. v. 21.02.22002 – 1 Ws 26/22.

Folgender (Kurz)Sachverhalt: Das LG hat den Verteidiger entpflichtet. Dagegen die sofortige Beschwerde. Die hat keinen Erfolg. Das OLG sieht zwar die vom LG für die Entpflichtung angeführten Gründe als nicht ausreichend an, legt dann aber der Entpflichtung eine andere Begründung zugunde:

„Im Ergebnis zu Recht ist der Rechtsanwalt entpflichtet worden.

Die für diese Entscheidung angeführte Begründung, der Rechtsanwalt habe sich geweigert, die Verteidigung des Angeklagten zu führen (§ 145 Abs. 1 Satz 1 StPO), erscheint aus Sicht des Senats indes nicht tragfähig.

Die Verfügung lässt erkennen, dass der Verteidiger an diesem ersten Hauptverhandlungstag für den Angeklagten tätig war und verschiedene prozessual zulässige Handlungen für ihn vorgenommen hat. Auch ist das nachfolgende Verhalten des Rechtsanwalts, in dem die Kammer eine „Weigerung“, den Angeklagten zu verteidigen, erblickt hat, tatsächlich nicht von einer Qualität, die die Entpflichtung des Rechtsanwalts unter diesem Gesichtspunkt rechtfertigen könnte.

Dem Rechtsanwalt wird vorgehalten, erklärt zu haben, aus seiner Sicht sei die heutige Hauptverhandlung „eine Farce“ und weder er noch der Angeklagte würden sich daher an ihr aktiv beteiligen; insbesondere werde er bei der beabsichtigten Vernehmung von Zeugen diesen keinerlei Fragen stellen.

In dieser Äußerung und dem entsprechenden Verhalten vermag der Senat eine ernsthafte und endgültige Weigerung im Sinne des § 145 StPO nicht zu sehen.

Zum einen handelte es sich um Geschehnisse am ersten Verhandlungstag einer auf etliche weitere Verhandlungstage angelegten Hauptverhandlung, aus denen keine sicheren Schlüsse hinsichtlich des Verteidigungsverhaltens in seiner Gesamtheit gezogen werden konnten.

Zum anderen kann das Verhalten auch nicht – wie in der Verfügung geschehen – als „in erheblichem Maße prozessordnungswidrig“ zu bezeichnet werden, welches „den Boden des geltenden Prozessrechts deutlich“ verließe. Die Strafprozessordnung (§ 240 Abs. 2 StPO) gibt dem Verteidiger und dem Angeklagten zwar das Recht, Zeugen und Sachverständige zu befragen. Sie verpflichtet aber weder den Verteidiger noch den Angeklagten, dieses Recht überhaupt oder in einem bestimmten Umfang auszuüben. Wenn sich Verteidiger und Angeklagter darüber einig sind, an einem bestimmten Verhandlungstag bestimmten Zeugen keine Fragen zu stellen, kann dies auch – anders als es in der Verfügung gesehen wird – „von einem Verteidigungskonzept oder einer Prozessstrategie gedeckt“ sein. Dafür, bestimmten Personen keine Fragen zu stellen, kann es eine ganze Reihe denkbarer prozessual legitimer Überlegungen geben und sei auch es nur, dass hierdurch oder durch provozierte Gegenreaktionen des Gerichts versucht wird, den Boden für spätere erfolgreiche Revisionsrügen zu bereiten.

Ist – wie hier – ein Angeklagter durch mehrere Rechtsanwälte verteidigt, ist überdies denkbar, dass es interne Absprachen gibt, wonach einer der Rechtsanwälte gerade für prozessuale Anträge und der andere für die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Sache verantwortlich ist.

Dennoch verbleibt es im Ergebnis bei der Entpflichtung. Sie hätte nämlich bereits seit geraumer Zeit auf Grundlage des § 143 a Abs. 1 Satz 1 StPO erfolgen müssen……“

 

Pflichti I: Zeitpunkt der Bestellung des Verteidigers, oder: Absehen von und/oder rückwirkende Bestellung

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Und vor dem morgigen „Vatertag“ heute hier dann noch ein paar Entscheidungen zu Pflichtverteidigunsgfragen (§§ 140 ff. StPO).

Zunächst stelle ich zwei LG-Beschlüsse zum Zeitpunkt der Bestellung vor, also u.a. zur Rückwirkunsgproblematik.

Da ist dann hier der LG Düsseldorf, Beschl. v. 18.05.2022 – 4 Qs 15/22. Das AG hat den wahl, der seine Bestellung beantragt hatte, nicht beigeordnet. Die StA hat dann nach § 154 Abs. 2 StPo das Verfahren eingestellt. Das AG verweist wegen der Bestellung auf § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO. Das sieht das LG anders und bestellt (rückwirkend). Hier der Leitsatz der Entscheidung:

    1. Die Einschränkungen des 141 Abs. 2 Satz 3 StPO 2 betreffen die Bestellung eines Pflichtverteidigers von Amts wegen und gelten bei Vorliegen eines Antrages gem. § 141 Abs. 1 StPO gerade nicht.
    2. Die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers ist zulässig.

Bei der zweiten Entscheidung handelt es sich um den LG Leipzig, Beschl. v. 04.05.2022 – 8 Qs 18/22. Er beinhaltet eine „klassische Rückwirkungsproblematik“. Dazu hier nur der Leitsatz.

Die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers ist im Einzelfall ausnahmsweise zulässig, wenn die für die ordnungsgemäße Rechtspflege erforderliche effektive Gewährleistung des Rechts auf notwendige Verteidigung nicht erfüllt wurde. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Entscheidung über die beantragte Pflichtverteidigung nicht in angemessener Zeit nach Antragsstellung ergeht und es dadurch zu einer wesentlichen Verzögerung des – vom Gesetzgeber vorgesehenen – Entscheidungsablaufs kommt.

 

 

Pflichti III: Spätere Umbeiordnung/Auswechselung, oder: „Bekanntmachung“ und „Belehrung“ erfolgt?

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Und als letzte Entscheidung des Tages zum Komplex „Pflichtverteidigung“ dann noch der LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 09.03.2022 – 13 Qs 16/22, den mir der Kollege Lößel aus Alsdorf geschickt hat. Es geht um eine Umbeiordnung/Entpflichtung des anlässlich eines Vorführungstermin beigeordneten Rechtsanwalt.

Das AG hat die Entpflichtung und die Beiordnung des Kollegen Lößel abgelehnt. Auf die Beschwerde sieht das LG das anders und äußert sich zu zwei Fragen, nämlich zum Beginn der Frist des § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StPO und dazu, dass hier diese Frist überhaupt noch nicht zu laufen begonnen hatte wegen des Verstoßes gegen die Belehrungspflicht im Hinblick auf die Auswechslungsmöglichkeit und die Frist. In dem Zusammenhang positioniert sich die Kamamer gegen die Auffassung des Ermittlungsrichters beim BGH:

„(2) Jedoch handelt es sich bei den Anträgen des Angeklagten vom 19.01.2022 und 01.02.2022 durch Rechtsanwalt pp. um Anträge auf Auswechslung des Pflichtverteidigers im hiesigen Verfahren.

Diese sind im Ergebnis fristgerecht i.S.d § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO gestellt.

(a) Die Frist des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO beginnt mit der Bekanntgabe der Bestellung des Pflichtverteidigers.

Zwar wurde Rechtsanwalt pp. am 27.12.2021 durch Verfügung des Amtsgerichts Nürnberg im schriftlichen Verfahren bestellt, sodass der Angeklagte spätestens im Termin zur Anhörung nach vorläufiger Festnahme davon Kenntnis erlangte.

Maßgeblich für den Fristbeginn nach § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO ist jedoch nicht die tatsächliche Kenntnis, sondern die „Bekanntmachung“. Mit diesem Begriff wird ausweislich des Gesetzesentwurfs der Bundesregierung zum „Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019″ auf § 35 StPO Bezug genommen, der die Bekanntgabe regelt (BT-Drs. 19/13829, S. 47, wobei hier noch von einer zweiwöchigen Frist ausgegangen wird).

Ausweislich § 35 Abs. 1 StPO werden Entscheidungen, die in Anwesenheit der davon betroffenen Person ergehen, durch Verkündung bekannt gemacht und auf Verlangen eine Abschrift erteilt, und andere Entscheidungen gem. § 35 Abs. 2 StPO durch Zustellung bekannt gemacht, wobei nur dann eine formlose Mitteilung genügt, wenn die Bekanntmachung der Entscheidung keine Frist in Lauf setzt.

(b) Die Verfügung des Ermittlungsrichters vorn 27.12.2021, mit der Rechtsanwalt pp. zum Pflichtverteidiger bestellt wurde, wurde dem Angeklagten und Rechtsanwalt pp. formlos mitgeteilt. Eine Verkündung der Entscheidung im Anhörungstermin am 27.12.2021 erfolgte nicht. Ausweislich des Protokolls wurde lediglich festgestellt, dass der Angeklagte einen Verteidiger hat.

Da die Bekanntgabe der Pflichtverteidigerbestellung jedoch die Frist des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO in Gang setzt, wäre eine Zustellung der Entscheidung gem. § 35 Abs. 2 S. 1 StPO erforderlich gewesen (so auch OLG Koblenz, Beschluss vom 28.10.2020 – 4 Ws 639/20; im Übrigen heißt es auch im Gesetzesentwurf der Bundesregierung bereits wörtlich: „Mit dem Begriff der Bekanntmachung wird auf § 35 StPO Bezug genommen, so dass sowohl Verkündungen als auch — wegen des lnlaufsetzens der Frist zur Stellung des Antrags künftig erforderliche — Zustellungen hiervon erfasst sind.“).

Für dieses Zustellungserfordernis streitet nach Auffassung der Kammer auch noch ein weiterer Gesichtspunkt.

Unstreitig sind gem. § 35 Abs. 2 StPO insbesondere solche Beschlüsse zuzustellen, die mit der sofortigen Beschwerde angefochten werden können (vgl. MüKoStPOValerius, 1. Aufl. 2014, StPO, § 35 Rn. 25). § 142 Abs. 7 S. 1 StPO regelt die Anfechtbarkeit von gerichtlichen Entscheidungen über die Bestellung eines Pflichtverteidigers mit der sofortigen Beschwerde. § 142 Abs. 7 S. 2 StPO schließt dabei die sofortige Beschwerde aus, wenn der Beschuldigte einen Antrag nach § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO stellen kann.

Die Möglichkeit zur Stellung eines solchen Antrages lässt also die grundsätzlich bestehende Möglichkeit der sofortigen Beschwerde entfallen. Die gerichtliche Entscheidung ist mit dem Ziel der Auswechslung des Pflichtverteidigers nach Maßgabe des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO nicht mehr mit der sofortigen Beschwerde anfechtbar, das Ziel der Auswechslung des Pflichtverteidigers kann in diesem Fall (nur) durch den Antrag gem. § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO, der ebenfalls fristgebunden ist, erreicht werden. Aus diesem Ausschlussverhältnis zwischen sofortiger Beschwerde und Antrag nach § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO ist nach Auffassung der Kammer ebenfalls zu folgem, dass die Entscheidung über die Pflichtverteidigerbestellung gleichermaßen wie bei der Anfechtbarkeit mit der sofortigen Beschwerde gem. § 35 Abs. 2 StPO zuzustellen ist, wenn als einzige Korrekturmöglichkeit der Antrag nach § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO statthaft ist.

Bereits aus diesem Grund begann in Ermangelung einer fristauslösenden Zustellung die Drei-Wochen-Frist bislang nicht zu laufen.

(c) Überdies begann die Drei-Wochen-Frist des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO deshalb nicht zu laufen, weil der Angeklagte nicht auf die Möglichkeit der Auswechslung des Pflichtverteidigers und die dabei einzuhaltende Frist hingewiesen wurde.

Die Pflicht, auf dieses Recht hinzuweisen, ergibt sich für die Kammer aus einer entsprechenden Anwendung des § 35a Abs. 1 StPO, die auf gesetzessystematischen Erwägungen beruht.

Aus dem oben dargestellten Verhältnis der sofortigen Beschwerde nach § 142 Abs. 7 S. 1 StPO und dem Antrag nach § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO folgt, dass einem Beschuldigten statt der Möglichkeit eines Rechtsmittels mit Devolutiveffekt die Möglichkeit gegeben wird, instanzwahrend einen Antrag auf Auswechslung des Pflichtverteidigers zu stellen. Wenn aber über die Möglichkeit eines befristeten Rechtsmittels gem. § 35a S. 1 StPO belehrt werden muss, dann muss dies auch für den dieses Rechtsmittel ausschließenden, instanzwahrenden befristeten Antrag gem. § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO gelten. Denn nur dann, wenn er den entsprechenden Antrag und seine Frist kennt, kann es gerechtfertigt sein, dem Beschuldigten die grundsätzlich bestehende Möglichkeit eines Rechtsmittels zu verwehren (im Ergebnis auch OLG Koblenz, Beschluss vom 28.10.2020 – 4 Ws 639/20, Rn. 15-18).

Demgegenüber kann die Begründung des Ermittlungsrichters am BGH im Beschluss vom 14.09.2020 – Az. 2 BGs 619/20, nicht überzeugen, soweit dieser im Rahmen der Ablehnung eines Antrags auf Wiedereinsetzung in die Frist des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO ausführt, es entstünde bei Ablauf der Frist des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO insoweit kein Rechtsnachteil für den Beschuldigten, als er weiterhin über § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StPO die Auswechslung verlangen könne.

Dies erscheint bereits deshalb unzutreffend, weil § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StPO die substantiierte Darlegung von Tatsachen für das zerrüttete Vertrauensverhältnis/die Unmöglichkeit einer angemessenen Verteidigung zwischen Beschuldigtem und Verteidiger und ggf. deren Glaubhaftmachung erfordert (vgl. BeckOK StPO/Krawczyk, 42. Ed. 1.1.2022, StPO § 143a Rn. 22) und damit deutlich andere und strengere Voraussetzungen hat als der lediglich an den zeitlichen Ablauf bzw. die Benennung eines anderen als den bestellten Pflichtverteidiger anknüpfende § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO.

Zudem entfällt mit der Möglichkeit, einen Antrag nach § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO zu stellen, auch die Beschwerdemöglichkeit nach § 142 Abs. 7 S. 2 StPO, sodass bei Versäumung der Antragsfrist bereits hierin ein Rechtsnachteil für den Beschuldigten liegt.“

Pflichti II: Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, oder: Vollstreckung, stationäre Therapie, Einziehung

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Im zweiten Posting zu Pflichtverteidigungsentscheidungen dann hier drei Entscheidungen zu den Bestellungsvoraussetzung, und zwar:

    1. Das „Gebot bestmöglicher Sachaufklärung“ (BVerfG, Beschluss vom 8. November 2006 – 2 BvR 578/02) erhebt die gerichtliche Verpflichtung zur Einholung eines kriminalprognostisch-psychiatrischen Sachverständigengutachtens in § 454 Abs. 2 Satz 1 StPO zum gesetzlichen Regelfall und indiziert damit zugleich eine besondere Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage im Sinne von § 140 Abs. 2 StPO.
    2. Die Verneinung des „Erwägens“ einer Strafaussetzung in § 454 Abs. 2Satz 1 StPO kommt nur dann in Betracht, wenn die Möglichkeit einer Aussetzung der Vollstreckung völlig fernliegend ist und als ernsthafte Alternative zur Fortdauer der Strafhaft von vornherein ausgeschlossen erscheint (Festhalten an Senat, Beschluss vom 13. Juli 2009 – 2 Ws 291/09, NJW 2009, 3315 m.w.N.).
    3. Ob eine solche Ausnahme im konkreten Einzelfall vorliegt, stellt eine im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO schwer zu beurteilende Sachfrage dar, die regelmäßig nicht allein nach Aktenlage, sondern erst nach der durch § 454 Abs. 1 Satz 3 StPO ausdrücklich vorgeschriebenen und aufgrund der Gesetzessystematik vorbehaltlich Satz 4 der Bestimmung grundsätzlich zuvor durchzuführenden mündlichen Anhörung des Verurteilten beantwortet werden kann.
    1. Zu der Anstaltsunterbringung im Sinne des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO gehören insbesondere die verschiedenen Formen der Haft sowie die Unterbringung nach §§ 63, 64 StGB, ebenso indes auch – in analoger Anwendung – die stationäre Behandlung in einer Drogentherapieeinrichtung nach § 35 BtMG sowie ein die persönliche Freiheit erheblich einschränkender Aufenthalt in einer stationären Alkoholentzugsbehandlung.
    2. Die Regelung des § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO ist sowohl ihrem Wortlaut als auch ihrer systematischen Stellung nach lediglich auf Fälle der Pflichtverteidigerbestellung von Amts wegen nach § 141 Abs. 2 StPO anzuwenden, nicht jedoch auf Fälle der Bestellung auf Antrag des Beschuldigten nach § 141 Abs. 1 StPO.

Auch wenn es sich bei der Einziehung nach §§ 73 ff. StGB nicht um eine Nebenstrafe handelt, sondern um eine Maßnahme im Sinne von § 11 Abs. 1 Nr. 8 StGB eigener Art, ist sie als sonstige Rechtsfolge, die einem Angeklagten ggf. im Fall seiner Verurteilung droht, bei der Beurteilung der „Schwere der Rechtsfolge“ i.S. des § 140 Abs. 2 StPO zu berücksichtigen.