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Herausgabe von beschlagnahmten Kryptowerten, oder: Kryptowerten sind keine beweglichen Sachen

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Heute gibt es dann mal drei etwas ungewöhnliche Entscheidungen bzw. Entscheidungen, mit deren Thema man als Rechtsanwalt/Verteidiger sicherlich nich jeden Tag zu tun hat.

Ich starte mit dem LG Verden, Beschl. v. 14.04.2025 – 2 Qs 35/25. In dem Beschluss geht es um die Herausgabe beschlagnahmter Kryptowerte. Die Antragstellerin war im Frühjahr 2023 Opfer eines Ransomware-Angriffs. Im Zuge des Angriffs verschafften sich die Täter Zugang zum IT-System der Antragstellerin. Die Datenbanken und Anwendungen (inkl. Kundendaten) wurden durch die Angreifer verschlüsselt, sodass die Mitarbeiter der Antragstellerin keinen Zugriff mehr auf diese hatten. Zur Wiederherstellung des Zugriffs forderten die Täter ein Lösegeld in Höhe von 400.000,00 $. Man einigte sich mit den unbekannten Tätern schließlich auf ein Lösegeld in Höhe von 7,41598504 Bitcoin zum damaligen Kurswert von 202.000,00 €. Das Lösegeld wurde in Form von Bitcoin in zwei Zahlungen von jeweils ca. 100.000,00 € an zwei unterschiedliche Bitcoin-Wallets gezahlt. Die Kryptowerte wurden über unterschiedliche Zwischenkonten schließlich auf zwei Wallets überwiesen, ein Wallet verwaltet durch die Kryptoexchange-Plattform Binance, das andere durch die Kryptoexchange-Plattform Huobi. Von den insgesamt 7,41598504 Bitcoin landeten letztlich insgesamt 3.381079 Bitcoin auf dem Wallet bei der Kryptoexchange-Plattform Binance.

Als Inhaber des Wallets auf der Plattform Binance konnte pp. ermittelt werden. Mit Beschluss des AG wurde ein Arrest in das bewegliche und unbewegliche Vermögen des pp. angeordnet. Es wurden zudem sämtliche Ansprüche des pp gegen die Binance Holdings Ltd. bis zu einer Höhe von 7,41598504 Bitcoin gepfändet. Da ein Nachweis individueller Bitcoins nicht möglich sei, wurde die Einziehung einer Kryptowährung, die dem Wert des Erlangten (7,41598504 Bitcoin) entspricht, angeordnet. Die Binance Ltd. transferierte dann 3.674,34 Solana, äquivalent zu 7,41598504 Bitcoin, auf ein Paper-Wallet der Polizei Nordrhein-Westfalen.

Die Antragstellerin hat Antrag auf Rückgabe der beschlagnahmten Kryptowährungen gestellt. Das AG hat das abgelehnt. Die Beschwerde hatte beim LG Verden keinen Erfolg.

„1.a) Das Amtsgericht hat den Antrag auf Herausgabe von 7,41598504 Bitcoin bzw. 3.674,34 Solana (im folgenden Kryptowerte) an die geschädigte Antragstellerin im Ergebnis zu Recht abgelehnt. Der Antragstellerin steht kein Anspruch gemäß § 111n Abs. 1 StPO hinsichtlich der sichergestellten 3.674,34 Solana zu.

b) Gemäß § 111n Abs. 1 StPO wird eine bewegliche Sache, die nach § 94 StPO beschlagnahmt oder auf andere Weise sichergestellt oder nach § 111c Abs. 1 StPO beschlagnahmt worden ist und für Zwecke des Strafverfahrens nicht mehr benötigt wird, an den letzten Gewahrsamsinhaber herausgegeben. Eine analoge Anwendung auf Forderungen, die der Beschuldigte aus der Straftat erlangt hat, ist ausgeschlossen (Huber in BeckOK StPO, 54. Edition, Stand 01.01.2025, § 111n, Rn. 7). Die Herausgabe beweglicher Sachen wird damit bis zum Eigentumsübergang auf den Staat infolge einer rechtskräftigen Einziehungsanordnung vollständig in der Strafprozessordnung geregelt (BT-Drs. 18/9525, Bl. 83). Forderungen und Daten sind keine beweglichen Sachen, sondern nur die Urkunden und Datenträger, auf denen sie gespeichert sind (vgl. Hohmann in MüKo StPO, 4. Auflage 2021, Rn. 11). Bei Kryptowerten handelt es sich um digitale Vermögenswerte ohne Sachqualität (umfassend zur Einordnung Rieländer ZEuP 2024, 769).

Entsprechend dieser Maßstäbe handelt es sich bei den sichergestellten Kryptowerten nicht um bewegliche Sachen im Sinne des § 111n Abs. 1 StPO, weshalb nach dieser Vorschrift kein Anspruch auf Herausgabe besteht.

2.a) Der Antragstellerin steht auch kein Anspruch auf Herausgabe der Kryptowerte analog § 111n Abs. 1 StPO zu. Für eine analoge Anwendung fehlt es an einer planwidrigen Regelungslücke und einer vergleichbaren Interessenlage.

b) Zwar ist die Vorschrift des § 111n Abs. 1 StPO grundsätzlich analogiefähig, da es sich nicht um einen Strafausspruch handelt, dessen Grundlage außerhalb des Gesetzes weder geschaffen noch verschärft werden darf (BGH NJW 2007, 3352 zu § 111k StPO a.F). Es liegt aber bereits keine planwidrige Regelungslücke vor. Inbegriff der planwidrigen Regelungslücke ist, dass der streitgegenständliche Sachverhalt (noch) nicht gesetzlich geregelt ist und die Nichtregelung durch den Gesetzgeber unabsichtlich unterblieben ist. Letzteres ist vorliegend nicht der Fall.

c) Der Gesetzgeber hat die Herausgabe von nicht beweglichen Sachen an den letzten Gewahrsamsinhaber, § 111n Abs. 1 StPO, oder den Geschädigten, § 111n Abs. 2 StPO, im Ermittlungsverfahren (d.h. in den §§ 111c ff. StPO) bewusst nicht geregelt mit der Absicht, dass beschlagnahmte nicht bewegliche Sachen an diese Personen nicht im Wege einer vorläufigen Entscheidung herausgeben werden sollen.

aa) Im Rahmen der Beschlagnahmeregelungen, §§ 94 ff. StPO, und den Vorschriften zur Vollziehung der Beschlagnahme, §§ 111c ff. StPO, verwendet der Gesetzgeber unterschiedliche Begriffe, um das Objekt der Regelung zu beschreiben. In § 94 Abs. 1 StPO schreibt der Gesetzgeber vor, dass Gegenstände, die als Beweismittel für die Untersuchung von Bedeutung sein können, in Verwahrung zu nehmen oder in anderer Weise sicherzustellen sind. In § 111c Abs. 1 StPO sieht der Gesetzgeber vor, dass die Beschlagnahme einer beweglichen Sache dadurch vollzogen wird, dass die Sache in Gewahrsam genommen wird. Die Beschlagnahme einer Forderung oder eines anderen Vermögensrechtes, das nicht den Vorschriften über die Zwangsvollstreckung in das unbewegliche Vermögen unterliegt, wird hingegen durch Pfändung vollzogen, § 111c Abs. 2 Satz 1 StPO. Zuletzt regelt § 111c Abs. 3 StPO die Beschlagnahme von Grundstücken oder Rechten hieran.

bb) Der Antragstellerin ist insoweit zuzustimmen, dass der Anwendungsbereich des § 94 Abs. 1 StPO nicht auf körperliche Gegenstände beschränkt wurde. Der Begriff des „Gegenstands“ im Sinne des § 94 StPO ist vielmehr weiter als der der beweglichen und unbeweglichen Sachen (BVerfG NJW 2005, 1917, 1920). Erfasst wird alles, was einen Beweiswert haben und für die Untersuchung von Bedeutung sein kann (BVerfG a.a.O). Die verfahrensbezogene Konkretisierung hat der Richter von Verfassungs wegen im jeweiligen Durchsuchungs- oder Beschlagnahmebeschluss zu leisten (BVerfG a.a.O). Demgegenüber ordnet der Gesetzgeber die Gesamtheit an beschlagnahmefähigen Gegenständen in § 111c Abs. 1-3 StPO in drei Kategorien: die beweglichen Sachen (worunter auch Schiffe und Flugzeuge gemäß § 111c Abs. 4 StPO fallen), Forderungen und andere Vermögenswerte sowie Grundstücke und Rechte an diesen. Der Gesetzgeber hat in § 111c StPO bewusst diese drei Kategorien geschaffen und für diese Kategorien unterschiedliche Regelungen vorgesehen. Da es sich bei Kryptowerten nicht um beweglichen Sachen handelt (s.o) und auch nicht um Grundstücke oder Rechte an diesen, unterfallen sie der Regelung der „anderen Vermögensrechte“ (BGH Beschl. v. 27.07.2017 – 1 StR 412/16; Bittmann in MüKo a.a.O., § 111c, Rn. 5 m.w.N).

cc) Dieser Kategorisierung folgend verwendet der Gesetzgeber in § 111n Abs. 1 StPO ausdrücklich den Begriff der „beweglichen Sache“, identisch zu § 111c Abs. 1 Satz 1 StPO, und verweist im Rahmen des § 111c StPO auch nur auf den Absatz 1, der die beweglichen Sachen betrifft, und gerade nicht auf Absatz 2, der Forderungen und andere Vermögenswerte betrifft. Aufgrund des identischen Wortlautes (bewegliche Sachen) von § 111n Abs. 1 und 111c Abs. 1 StPO, des konkreten Verweises auf § 111c Abs. 1 (und nicht Abs. 2) StPO und des erklärten Willens des Gesetzgebers, die Herausgabe beweglicher Sachen infolge einer rechtskräftigen Einziehungsanordnung vollständig in der Strafprozessordnung zu regeln (BT-Drs. 18/9525, Bl. 83), ist es fernliegend, diese Regelungslücke als planwidrig anzusehen. Diese Argumente sprechen vielmehr dafür, dass der Gesetzgeber bewusst die Herausgabe nur für bewegliche Gegenstände, nicht aber für Forderungen und andere Vermögenswerte, regeln wollte.

dd) Die Kammer verkennt hierbei nicht, dass die Regelung des § 111n Abs. 1 StPO bzw. § 111k StPO a.F., im Wesentlichen seit 1974 und damit vor der Entwicklung von Kryptowerten unverändert geblieben ist. Die Kammer zieht hieraus jedoch nicht den Schluss, dass allein deswegen schon eine Regelungslücke vorliegt. Es ist vielmehr der Sinn von Gesetzen, die ihrer Natur nach abstrakt-generelle Regelungen sind, auch künftige Entwicklungen zu erfassen, soweit sich diese unter den Tatbestand subsumieren lassen, wie es bei Kryptowerten unter dem Begriff der „anderen Vermögenswerte“ gemäß § 111c Abs. 2 Satz 1 StPO der Fall ist.

ee) Auch das weitere Vorbringen der Antragstellerin, dass sich der Gesetzgeber nicht zur Herausgabe von Forderungen verhalte, ist unzutreffend. Neben der genannten Negativregelung trifft der Gesetzgeber eindeutige Regelungen zum Verhältnis der Arrestmasse zu zivilrechtlichen Forderungen und Titeln. Gemäß § 111h Abs. 2 StPO ist die Zwangsvollstreckung in Gegenstände, die im Wege der Arrestvollziehung gemäß § 111f StPO gesichert worden sind, ausgeschlossen. Der Gesetzgeber bringt mit dieser Regelung gerade zum Ausdruck, dass für die Dauer des Arrestes keine Befriedigung einzelner Gläubiger erfolgen soll, sondern die Befriedigung der Gläubiger im Rahmen des Vollstreckungsverfahrens nach rechtskräftiger Entscheidung über die Einziehung erfolgen soll, vgl. §§ 459h ff. StPO.

d) Es liegt jedenfalls auch keine vergleichbare Interessenlage zwischen Kryptowerten und beweglichen Sachen vor.

aa) § 111n StPO hat als vorläufige Besitzstandsregelung nur den Gewahrsam im Blick, ohne dafür jedoch selbst abschließende Regelungen zu treffen (Bittmann MüKo a.a.O., § 111n, Rn. 15). Er knüpft vielmehr direkt an das Besitzrecht des BGB an (Bittmann ebenda). § 111n StPO beabsichtigt die Herausgabe an denjenigen, der nach dem BGB das beste Recht zum Besitz hat (Bittmann ebenda m.w.N). Auf Surrogate einer durch die Straftat entzogenen Sache findet § 111n StPO deshalb keine Anwendung, auch nicht bei Verarbeitung oder Vermischung der entzogenen Sache (Huber a.a.O. Rn. 9). Mangels Körperlichkeit von Kryptowerten kann an diesen kein Besitz begründet werden.

bb) Entgegen den Ausführungen der Antragstellerin, dass die Blockchain-Technologie einen besitzähnlichen Zustand schaffe, liegt ein solcher Zustand bei Kryptowerten nicht vor. Zwar ist der Antragstellerin soweit zuzustimmen, dass die Blockchain grundsätzlich eine transparente und fälschungssichere Zuordnung von Kryptowerten zu einer Blockchain-Adresse ermöglicht. Diese Zuordnung erfolgt aber nicht über ein besitzähnliches Herrschaftsverhältnis an einem individualisierbaren Bitcoin, sondern ähnlich zu sonstigem Buchgeld in der Form, dass das Guthaben einer Bitcoin-Adresse festgehalten wird. Sobald von unterschiedlichen Adressen Bitcoin an die gleiche Adresse geschickt werden, können die einzelnen Bitcoin nicht mehr individualisiert werden, sondern es kann, wie auch bei Buchgeld, nur noch das Saldo festgestellt werden (vgl. Bericht zum Genesis Request & Analyse der Binance Auskunft, Bl. 180 ff. I SH Beschwerde).

cc) Die Antragstellerin dringt auch nicht damit durch, dass im Rahmen der Bitcoin-Blockchain kein mit einem Zahlungsdienstvertrag im Sinne des § 675f ff. BGB vergleichbares Schuldverhältnis begründet wird. Jedenfalls in Fällen wie dem Vorliegenden, in denen eine Online-Plattform die Verwaltung der Private Keys übernimmt, hat der Nutzer dieser Plattform nur schuldrechtliche Ansprüche gegen den Betreiber der Plattform. Er hat hingegen keine eigene Kontrolle über die Private Keys und hat deshalb auch keinen eigenen Zugriff auf „seine“ Kryptowerte. Aus diesem Grund erfolgte die Beschlagnahme auch nicht über die Ingewahrsamnahme, vgl. § 111c Abs. 1 Satz 1 StPO, sondern über den Arrest und die Pfändung der Forderungen des xxx gegenüber der Binance Holding Ltd. (Bl. 20 ff. und 31 ff. II SH Beschwerde), vgl. § 111c Abs. 2 Satz 1 StPO.

dd) Eine analoge Anwendung des § 111n StPO auf Kryptowerte ist auch nicht zum Schutz der Interessen der Geschädigten erforderlich. Die Interessen der Geschädigten werden im Rahmen der vorläufigen Sicherung und im Rahmen des Vollstreckungsverfahrens ausreichend berücksichtigt.

(1) Sofern der Geschädigte ein Interesse an einer zeitnahen Befriedigung aufgrund ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse infolge der Straftat vorträgt, so ist dies zwar dem Grunde nach nachvollziehbar. Für eine Befriedigung im Ermittlungsverfahren stehen diesem Interesse aber die berechtigen Interessen anderer Geschädigter gegenüber. Zum Zeitpunkt des Ermittlungsverfahrens, gerade im Rahmen von Geldwäscheverfahren, ist in der Regel noch unklar, in welchem Umfang Geschädigte Forderungen hinsichtlich der sichergestellten Vermögenswerte geltend machen werden. Die Vorschriften im Rahmen des Vollstreckungsverfahrens, §§ 459h StPO ff. StPO, treffen diesbezüglich abschließende Regelungen, die sicherstellen, dass eine anteilige Verteilung auf alle Gläubiger erfolgt. Diese Regelungen können nicht dadurch unterlaufen werden, dass einzelne Geschädigte bereits vorab, und deshalb gegebenenfalls in ungerechtfertigter Höhe, befriedigt werden.

(2) Das von der Antragstellerin vorgetragene Interesse, einen Wertverlust aufgrund von Kursschwankungen zu vermeiden, wird hingegen durch die bestehenden Regelungen bereits ausreichend geschützt. Der Antragstellerin ist zwar darin zuzustimmen, dass gerade bei Kryptowerten ein erhebliches Kurs- bzw. Marktrisiko besteht. Dies zeigt sich hier daran, dass seit der Überweisung der Solana am 02.04.2024 an die Polizei Nordrhein-Westfalen bis heute bereits ein Kursverlust von 33,75 % eingetreten ist und im Vergleich zwischen dem Höchstwert im Januar 2025 und dem Tiefstwert im April 2025 ein Kursverlust von 62,14 %. Im Verlauf der letzten 3 Jahre zeigte sich eine Volatilität, die regelmäßig deutlich über 10 % lag und auch im Verlauf der letzten Woche 10 % übertraf. Eine Vorhersage künftiger Wertsteigerungen dürfte vor dem Hintergrund der historischen Kursentwicklung von Kryptowerten und ihrer besonderen Volatilität nicht möglich sein (vgl. auch Wühr in BeckOK StVollstrO, 15. Edition, Stand 16.12.2024, § 77a, Rn. 16). Den sich hieraus ergebenden Gefahren trägt der Gesetzgeber jedoch mit der Möglichkeit der Notveräußerung gemäß § 111p StPO ausreichend Rechnung. Ob hiervon Gebrauch zu machen ist, hat die Staatsanwaltschaft nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden.

ee) Letztlich verbietet sich eine analoge Anwendung auf den vorliegenden Fall auch deswegen, weil entsprechend des Vortrages der Antragstellerin gerade nicht die gezahlten Bitcoins, sondern „nur“ die auf dem Konto des Beschuldigten xxx befindliche Solana in entsprechender Höhe beschlagnahmt wurden. Die Antragstellerin hat zu keinem Zeitpunkt Solana besessen oder an die Täter überwiesen. Auf Surrogate findet die Regelung des § 111n StPO aber auch bei beweglichen Sachen keine Anwendung (Huber a.a.O. Rn. 9).“

StGB III: Äußerungen in einem Online-Kondolenzbuch, oder: „Wieder ein Grüner weniger… “ als Beleidigung

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Und dann noch einmal – der Beitrag war gestern schon – aufgrund eines technischen Versehens – online. 🙂

Als dritte StGB-Entscheidung dann noch der LG Verden, Beschl. v. 07.02.2022 – 4 Qs 101/21 – zur Strafbarkeit einer Äußerung über eine verstorbene Politikerin in einem Online-Kondolenzbuch als Beleidigung.

Die Staatsanwaltschaft hat beim AG den Erlass eines Strafbefehls beantragt. Vorgeworfen wird wird dem, am 17.05.2021 in N. das Andenken eines Verstorbenen verunglimpft zu haben, indem er auf dem – online-basierten – Trauerportal der Zeitung „XXX“ unter den Nachrufen der verstorbenen Sprecherin des Ortsverbandes R.-L. der Partei Bündnis 90/Die Grünen, B. N., einen Kommentar mit dem folgenden Inhalt verfasst haben soll: „WIEDER EIN GRÜNER WENIGER.HERRGOTT WIR DANKEN DIR.“.

Der Beschuldigte bestreitet den Tatvorwurf aus tatsächlichen Gründen. Das AG hat den Erlass des Strafbefehls aus rechtlichen Gründen abgelehnt. Dagegen die sofortige Beschwerde der StA, die Erfolg hatte:

2. Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist vorliegend ein hinreichender Tatverdacht gegen den Beschuldigten wegen der in dem von der Staatsanwaltschaft Verden beantragten Strafbefehl bezeichneten Tat gegeben.

…..

Ausgangspunkt für die Prüfung, ob eine Äußerung eine Beleidigung i.S.v. § 185 StGB darstellt, ist die Ermittlung ihres objektiven Sinnes. Maßgeblich ist insofern weder wie der Erklärende seine Äußerung subjektiv verstanden haben wollte noch wie sie sein Kommunikationspartner tatsächlich verstanden hat (vgl. Valerius, in BeckOK/StGB, 46. Edition 2020, § 185 Rn. 21 m.w.N.), sondern der Sinn, den die Äußerung nach dem Verständnis eines unvoreingenommenen und verständigen Publikums hat. Der tatsächliche Gehalt der Äußerung ist im Wege der Auslegung zu ermitteln. Es ist vom Wortlaut der Äußerung auszugehen, wobei dieser den Sinn der Äußerung nicht abschließend festlegt. Er wird vielmehr auch durch den sprachlichen Kontext, in dem die umstrittene Äußerung steht, und den Begleitumständen, unter denen sie fällt, bestimmt, soweit diese für die Empfänger erkennbar sind (BVerfG, Nichtannahmebeschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 12.07.2005, Az.: 1 BvR 2097/02).

Bereits auf der einfachen Sinn- und Deutungsebene trägt der durch die schriftliche Erklärung „WIEDER EIN GRÜNER WENIGER.HERRGOTT WIR DANKEN DIR.“ zur Schau getragene Dank über den Tod eines Menschen ehrherabsetzenden Charakter. Jedoch verstößt nicht jede ehrherabsetzende Äußerung gegen § 185 StGB.

Der Ehrenschutz des Opfers einer Beleidigung steht nämlich regelmäßig im Widerstreit mit der Äußerungsfreiheit des Täters, die ihrerseits dem besonderen Schutz des Art. 5 Abs. 1 GG unterliegen kann. Zwar findet die dadurch geschützte Meinungsfreiheit seine Schranke schon nach Art. 5 Abs. 2 GG im Recht der persönlichen Ehre. Dies führt jedoch aufgrund der besonderen Bedeutung des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 GG für eine pluralistische Demokratie nicht dazu, dass per se jede ehrangreifende Äußerung der Strafandrohung der §§ 185 ff. StGB unterliegt (OLG Celle, a.a.O., Rn. 33). Vielmehr müssen beide Rechtspositionen bei der Anwendung des einfachen Rechts in einen verhältnismäßigen Ausgleich gebracht werden. Dies erfolgt über eine Gesamtabwägung aller Umstände.

Dabei kommt es entscheidend darauf an, ob die Äußerung eine Tatsachenbehauptung oder die Kundgabe eines Werturteils, einer Meinung, darstellt. Während bei Tatsachenbehauptungen die objektive Beziehung zwischen der Äußerung und der Realität im Vordergrund steht, sind Meinungen durch die subjektive Beziehung des Einzelnen zum Inhalt seiner Aussage und durch die Elemente der Stellungnahme und des Dafürhaltens geprägt (BVerfG, Beschluss vom 13.04.1994, Az.: 1 BvR 23/94). Der Grundrechtsschutz des Art. 5 Abs. 1 GG bezieht sich grundsätzlich auf letzteres (vgl. OLG Celle, a.a.O., Rn. 33 – 34).

Bei der schriftlichen Erklärung „WIEDER EIN GRÜNER WENIGER.HERRGOTT WIR DANKEN DIR.“ handelt sich nicht um eine Tatsachenbehauptung, sondern um ein Werturteil. Zwar lässt sich die Äußerung auch als Behauptung über die – dem Beweis zugänglichen – Tatsache begreifen, es gäbe nunmehr ein Mitglied der Partei Bündnis 90/Die Grünen weniger. Eine solche Würdigung griffe indes zu kurz. Der Schwerpunkt der Äußerung ist – gemessen am Auslegungsmaßstab eines unvoreingenommenen und verständigen Publikums – indes in der Missachtung, Geringschätzung bzw. Nichtachtung der Verstorbenen zu sehen. Dies ergibt sich bereits aus der Äußerung als solcher, die den Dank und somit die Freude über das Ableben eines Mitmenschen zum Ausdruck bringt. Verstärkt wird die zum Ausdruck kommende Missachtung, Geringschätzung und Nichtachtung noch durch den Kontext der Äußerung in einem online abrufbaren Kondolenzbuch der Verstorbenen. Durch die vorstehende Äußerung wird der Verstorbenen, derer sowohl im privaten, beruflichen und politischen Umfeld gedacht wird, der ethische, personale und soziale Geltungswert ganz oder teilweise abgesprochen, indem der Dank über ihr Ableben allein aufgrund ihrer Parteizugehörigkeit bekundet wird. Hierdurch wird ihr grundsätzlich uneingeschränkter Achtungsanspruch verletzt.

Die Äußerung ist mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auch nicht durch die Wahrnehmung berechtigter Interessen gemäß § 193 StGB gerechtfertigt.

Werturteile unterfallen als Meinungsäußerungen dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG, ohne dass es darauf ankommt, ob die Äußerung begründet oder grundlos, emotional oder rational ist, als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt wird (BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 28.09.2015, Az.: 1 BvR 3217/14 Rn. 13). Auch eine polemische oder verletzende Formulierung entzieht die Äußerung nicht dem Schutz des Grundrechts (u.a. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 08.02.2017, Az.: 1 BvR 2973/14 Rn. 14). Wo der Grenzbereich von der Unhöflichkeit zur Beleidigung überschritten ist, ist nicht immer eindeutig (Regge/Pegel, in: MüKoStGB, 4. Aufl. 2021, § 185 Rn. 13).

Eine Formalbeleidigung, welche sich dadurch auszeichnet, dass sich die Kränkung bereits aus der Form der Äußerung ohne Rücksicht auf deren Inhalt ergibt, ist vorliegend nicht gegeben. Aber auch eine Schmähkritik liegt nach vorläufiger Würdigung der Sach- und Rechtslage nicht vor. Wegen seines die Meinungsfreiheit verdrängenden Effekts ist der Begriff der Schmähkritik von Verfassungs wegen eng zu verstehen. Schmähung im verfassungsrechtlichen Sinn ist gegeben, wenn eine Äußerung keinen irgendwie nachvollziehbaren Bezug mehr zu einer sachlichen Auseinandersetzung hat und es bei ihr im Grunde nur um das grundlose Verächtlichmachen der betroffenen Person als solcher geht. Es sind dies Fälle, in denen eine vorherige Auseinandersetzung erkennbar nur äußerlich zum Anlass genommen wird, um über andere Personen herzuziehen oder sie niederzumachen, etwa in Fällen der Privatfehde (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 19. Mai 2020, Az.: 1 BvR 2397/19 Rn.19 m.w.N.). Davon abzugrenzen sind Fälle, in denen die Äußerung, auch wenn sie gravierend ehrverletzend und damit unsachlich ist, letztlich als (überschießendes) Mittel zum Zweck der Kritik eines Sachverhaltes dient. Dann geht es dem Äußernden nicht allein darum, den Betroffenen als solchen zu diffamieren, sondern stellt sich die Äußerung als Teil einer anlassbezogenen Auseinandersetzung dar (BVerfG, ebd., Rn. 20). Die Wahl des Benutzernamens „DIE ANTIGRÜNEN“ und die Bezeichnung der Verstorbenen als „EIN GRÜNER“ lässt einen politischen Kontext zumindest erkennen, sodass eine Abwägung zwischen der Schwere der Persönlichkeitsbeeinträchtigung bzw. dem Pietätsempfinden der Angehörigen und die Menschenwürde der Verstorbenen einerseits und der Einbuße an Meinungsfreiheit durch das Verbot der Äußerung andererseits vorzunehmen ist. Das Ergebnis der Abwägung ist von den konkreten Umständen des Einzelfalls abhängig.

Das bei der Abwägung anzusetzende Gewicht der Meinungsfreiheit ist umso höher, je mehr die Äußerung darauf zielt, einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung zu leisten, und umso geringer, je mehr es hiervon unabhängig lediglich um die emotionalisierende Verbreitung von Stimmungen gegen einzelne Personen geht (vgl. BVerfG, ebd., Rn. 29 m.w.N.). Allein die Wahl der Plattform, die online abrufbare Kondolenzseite einer Zeitung, zeigt, dass es dem Verfasser lediglich nachrangig – wenn überhaupt – um den öffentlichen Diskurs einer parteikritischen Äußerung geht. So lässt die Äußerung zwar einen Bezug zum politischen Kontext erkennen, sie setzt sich aber inhaltlich nicht argumentativ mit der Politik auseinander, sondern behandelt die Verstorbene aufgrund ihrer politischen Zugehörigkeit zu einer Partei als unterwertiges Wesen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 04.02.2010, Az.: 1 BvR 369/04, Rn 31).

Wenn das Amtsgericht im Rahmen der zu treffenden Abwägung mit der grundrechtlich geschützten Meinungsfreiheit darauf abstellt, dass die Äußerung im virtuell-öffentlichen Raum einer Zeitung im unmittelbaren Zusammenhang zu einer öffentlichen Erklärung eines politischen Verbands vorgebracht wurde und die vom Verfasser verfolgte Zielrichtung darüber hinaus auch durch die Wahl seines Benutzernamens „DIE ANTIGRÜNEN“ deutlich gemacht worden sei, stellt dies eine Verkürzung der nach Aktenlage vorliegenden Tatsachen dar. Die Homepage XXX enthält ausweislich des Screenshots vom heutigen Tage bereits seit dem 15.05.2021 insgesamt drei Traueranzeigen. Die oberste Traueranzeige wurde gestellt von „T., S. und Su.“. Es ist davon auszugehen, dass es sich bei „T.“ um den Witwer der Verstorbenen und Antragsteller T. F. N. handelt. Bei der mittleren Traueranzeige handelt es sich um diejenige des R.-L. Ortsverbands der Partei Bündnis 90/Die Grünen. Bei der untersten Traueranzeige handelt es sich um eine der Schulgemeinschaft der Grundschule M., an der die Verstorbene seit 2012 gearbeitet hatte. Der Kontext des hinterlassenen Kommentars ist hiernach keineswegs allein im Politischen zu suchen. Selbst wenn dies so wäre, änderte es nichts an der Beurteilung seiner Strafbarkeit. Im Gegenteil:

In der zu treffenden Abwägung sind die Besonderheiten digitaler Kommunikation zu berücksichtigen (vgl. hierzu auch die Beschlüsse des BVerfG vom 19.05.2020 zu den Az.:1 BvR 2397/19, 1 BvR 1094/19 und 1 BvR 362/18). Mit Blick auf Form und Begleitumstände einer Äußerung kann insbesondere erheblich sein, ob sie unvermittelt in einer hitzigen Situation oder im Gegenteil mit längerem Vorbedacht gefallen ist. Denn für die Freiheit der Meinungsäußerung wäre es besonders abträglich, wenn vor einer mündlichen Äußerung jedes Wort auf die Waagschale gelegt werden müsste. Der grundrechtliche Schutz der Meinungsfreiheit als unmittelbarer Ausdruck der Persönlichkeit impliziert – in den Grenzen zumutbarer Selbstbeherrschung – die rechtliche Anerkennung menschlicher Subjektivität und damit auch von Emotionalität und Erregbarkeit. Demgegenüber kann bei schriftlichen Äußerungen im Allgemeinen ein höheres Maß an Bedacht und Zurückhaltung erwartet werden. Dies gilt – unter Berücksichtigung der konkreten Kommunikationsumstände – grundsätzlich auch für textliche Äußerungen in den „sozialen Netzwerken“ im Internet (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 19.12.2021 – 1 BvR 1073/20 Rn. 36 m.w.N.). Ebenfalls erheblich kann sein, ob und inwieweit für die betreffende Äußerung ein konkreter und nachvollziehbarer Anlass bestand und welche konkrete Verbreitung und Wirkung sie entfaltet. Erhält nur ein kleiner Kreis von Personen von einer ehrbeeinträchtigenden Äußerung Kenntnis oder handelt es sich um eine nicht schriftlich oder anderweitig perpetuierte Äußerung, ist die damit verbundene Beeinträchtigung der persönlichen Ehre geringfügiger und flüchtiger als im gegenteiligen Fall. Demgegenüber ist die beeinträchtigende Wirkung einer Äußerung beispielsweise gesteigert, wenn sie besonders sichtbar in einem der allgemeinen Öffentlichkeit zugänglichen Medium getätigt wird. Ein solches die ehrbeeinträchtigende Wirkung einer Äußerung verstärkendes Medium kann insbesondere das Internet sein, wobei hier nicht allgemein auf das Medium als solches, sondern auf die konkrete Breitenwirkung abzustellen ist (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 19.12.2021 – 1 BvR 1073/20 Rn. 37 m.w.N.).

Die Breitenwirkung eines online abrufbaren Kondolenzbuches einer lokalen Tageszeitung ist groß. So weisen die Traueranzeigen für die Verstorbene N. bereits 1.407 Besuche (Stand: 07.02.2022) auf. Die auf der Homepage veröffentlichten Statistiken: „12.860 Trauerfälle online, 26.061 Traueranzeigen online, 30.507 Kerzen angezündet, 3.268 Kondolenzeinträge verfasst“ (Stand: 07.02.2022) sprechen ihr übriges.

In die Abwägung sind darüber hinaus auch aktuelle Bestrebungen des Gesetzgebers einzustellen. So hat er mit dem Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität vom 30.03.2021 (BGBl. 2021 I 441) eine Qualifikation des § 185 StGB für die öffentliche – somit auch im Internet – begangene Beleidigung eingeführt. Richtet sich die Beleidigung gegen eine Person des politischen Lebens, welches bis hin zur kommunalen Ebene reicht, so ist sie gemäß § 188 StGB sogar mit einer im Mindestmaß erhöhten Strafe zu sanktionieren, wenn die Tat geeignet ist, das öffentliche Wirken der Person des politischen Lebens erheblich zu erschweren. Der Gesetzgeber reagierte hiermit auf das aktuelle Kriminalitätsphänomen öffentlich ehrverletzender Herabsetzungen in digitalen Medien und stellt klar, dass Beleidigungen, die unter dem Deckmantel vermeintlicher Anonymität im Internet begangen werden, keineswegs weniger schlimm wiegen, als solche in persona.

Die Verschärfung der vorgenannten Normen zum 01.07.2021 hat der Gesetzgeber nicht mit der Notwendigkeit eines besseren Ehrschutzes, sondern mit der bestehenden Gefahr für den freien Meinungsaustausch begründet. Er führt dazu aus: „Die eigene Meinung frei, unbeeinflusst und offen sagen und sich darüber austauschen zu können, stellt einen wesentlichen Grundpfeiler der demokratischen pluralistischen Gesellschaft dar, die der Staat mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen hat.“ (BT-Drs. 19/17741, S. 1). Schutzgut des § 185 StGB ist somit nicht mehr nur die individuelle Ehre im Spannungsverhältnis zur Meinungsfreiheit, sondern die Meinungsfreiheit selbst und der Schutz demokratischer Institutionen (Hoven/Wittig, in: NJW 2021, 2397). Der wirksame Schutz der Persönlichkeitsrechte von Amtsträgern und Politikern liegt im öffentlichen Interesse und ist auch gewichtig (so zuletzt wieder: BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 19.12.2021 – 1 BvR 1073/20 Rn. 47 m.w.N.). Denn eine Bereitschaft zur Mitwirkung in Staat und Gesellschaft kann nur erwartet werden, wenn für diejenigen, die sich engagieren und öffentlich einbringen, ein hinreichender Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte gewährleistet ist (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 19.05.2020 – 1 BvR 1094/19 Rn. 32 m.w.N.)……“a.O., § 473 Rn. 7).“

Außergerichtliche Beratung reicht für zusätzliche Verfahrensgebühr bei Einziehung, oder: Auf in den Keller

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So, auf geht es mit dem „normalen“ Freitagsprogramm. Also Gebührenrecht. Und ich bringe zunächst den LG Verden, Beschl. v. 29.11.2018 – 1 Qs 172/18, den mir der Kollege Funk aus Stolzenau übersandt hat. Herzlichen Dank für die schöne Entscheidung, die zum Anfall der Nr. 4142 VV RVG ergangen ist

Dazu vorab: Die Entscheidung bringt nichts grundsätzlich Neues. Die Ausführungen des LG zum Entstehen der Gebühr Nr. 4142 VV RVG entsprechen der Auffassung der h.M. in der Literatur und der Rechtsprechung (vgl. dazu meine Ausführungen im RVG-Kommentar bei der Nr. 4142 VV RVG – wo man denn bestellen kann, weiß inzwischen jeder – <<Werbemodus aus>>). Von Bedeutung ist die Entscheidung aber dennoch. Denn sie ruft noch einmal ins Gedächtnis, welche Bedeutung nach den Änderungen der Wertabschöpfungsvorschriften der § 73 ff. StGB zum 1.7.2017 die Einziehung (und ihr verwandte Maßnahmen) und damit gebührenrechtlich die Nr. 4142 VV RVG erlangt hat. Denn, wer hätte nach früherem Recht in einem Verfahren mit dem Vorwurf der Verletzung der Unterhaltspflicht (§ 170 Abs. 1 StGB) oder Unterschlagung (Nr. 246 StGB) an Einziehung gedacht. So aber in dem vom LG Verden entschiedenen Fall. Beides sind i.d.R. „Allerweltsvorwürfe“, bei denen aber nun auch an die Nr. 4142 VV RVG gedacht werden muss.

Und dazu dann das LG:

1. Die Gebühr (Verfahrensgebühr) entsteht für eine Tätigkeit für den Beschuldigten, die sich auf die Einziehung, dieser gleichstehenden Rechtsfolgen (§ 439 StPO), die Abführung des Mehrerlöses oder auf eine diesen Zwecken dienende Beschlagnahme bezieht. Abgegolten wird das „Betreiben des Geschäfts“ im Hinblick auf die. Einziehung oder einer ihr – verwandten Maßnahme. Erfasst werden von der Gebühr sämtliche Tätigkeiten, die der Verteidiger im Hinblick auf die Einziehung erbringt, etwa das Fertigen von Schriftsätzen, Stellungnahmen, Besprechungen, Beschwerden o.ä., die zumindest auch einen Bezug zur Einziehung bzw. einer der verwandten Maßnahmen haben. Da es sich um eine reine Wertgebühr handelt, ist der Umfang der vom Verteidiger erbrachten Tätigkeiten für das Entstehen und die Höhe der Gebühr nicht relevant. Die Gebühr nach Nr. 4142 VV RVG setzt auch keine gerichtliche Tätigkeit des Verteidigers voraus. Insbesondere muss die Einziehung nicht im Verfahren beantragt worden sein (vgl. Gerold/Schmidt/Burhoff, RVG-Kommentar, 23. Aufl., VV 4142, Rn. 12, beck-online; BeckOK RVG, v. Seltmann, 41. Ed., W 4142, Rn. 10). Ausreichend ist es, wenn sie in Betracht kommt oder nach Aktenlage als geboten erscheint (vgl. Riedel/Sußbauer, RVG, 10. Aufl., VV 4142, Rn. 6). Davon wird man ausgehen können, wenn die Frage der Einziehung naheliegt, weil aufgrund der Aktenlage z.B. mit einem Einziehungsantrag in der Hauptverhandlung zu rechnen sein wird. Die Gebühr wird auch für eine außergerichtliche nur beratende Tätigkeit des Verteidigers verdient (vgl. BeckOK RVG, v. Seltmann, 41. Ed., W 4142, Rn. 10; Gerold/Schmidt/Burhoff, aaO., VV 4142, Rn. 12 m.w.Nachw., beck-online).

2. Vorliegend hat der Verteidiger erklärt, dass er mit seinem Mandanten über eine mögliche Einziehung gemäß §§ 73ff. StGB gesprochen und ihn dahingehend beraten hat. Eine solche Einziehung hat zwar weder die Staatsanwaltschaft beantragt, noch das Amtsgericht angeordnet, doch war dies nach den oben ausgeführten maßgeblichen Grundsätzen nicht erforderlich. Die Einziehung von Wertersatz kam bei den Anklagevorwürfen der Verletzung der Unterhaltspflicht gemäß § 170 Abs. 1 StGB (jeweils 163 EUR für März und April 2016, 52 EUR für Mai 2016, 168 EUR für September 2016 und 263 EUR für Oktober 2016; vgl. BI. 39f. Bd. I d.A.) sowie der Unterschlagung gemäß § 246 Abs. 1 StGB (konkret: 5.885,57 EUR; vgl. BI. 106 ff. Bd. II d.A.)) ernsthaft in Betracht — zumal nach der Gesetzesänderung zum 1. Juli 2017. Sie wurde nicht beantragt, weil das Verfahren (auch auf Antrag der Staatsanwaltschaft) mit einem Freispruch endete. Dies kann dem Angeklagten nunmehr nicht zum Nachteil gereichen. Der Umstand, dass der Verteidiger seinen Pflichtverteidigervergütungsantrag hinsichtlich der Gebühr gemäß Nr. 4142 VV RVG zurückgenommen hat, ist für die Erstattung der notwendigen Auslagen des Angeklagten ohne Bedeutung.“

Was lernen wir daraus bzw. bestätigt uns das LG: Außergerichtliche Beratung reicht für das Entstehen der Nr. 4142 VV RVG. Allerdings sollte man – wie der Kollege hier – dazu im Kostenfestsetzungsverfahren vortragen, und zwar sohol als Wahlanwalt als auch als Pflichtverteidiger. Die Gebühr entsteht nämlich für beide – ggf. allerdings in unterschiedlicher Höhe (§ 49 RVG).

Ich hatte überlegt, die Entscheidung erst nach den Feiertagen zu bringen. Ich habe sie dann aber jetzt schon gebracht. Vielleicht findet ja in den nächsten Tagen der ein oder andere Kollege Zeit, sich mal Gedanken zu machen, in welchen Verfahren er in der letzten Zeit zur Einziehung beraten hat. Dann wird es Zeit für einen Gang in den Keller, um die Akte(n) zu suchen und für Nachliquidationen. Auf gehts!

Pflichtverteidiger für den Analphabeten

zumindest dann, wenn eine schwierige Sachlage gegeben ist und zahlreiche Urkunden wesentlicher Teil der Beweisaufnahme sein werden – so das LG Verden, Beschl. v. 29.03.2011 – 1 Qs 34/11 u. 1 Qs 35/11. M.E. auch sonst, aber das sieht das LG wohl anders, was mir nicht so recht einleuchtet.