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StPO I: Entscheidungen zur Pflichtverteidigung, oder: Beiordnungsgrund, Haftentlassung und Rückwirkung

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Und heute dann ein „StPO-Tag“.

Den eröffne ich mit einigen Pflichtverteidigungsentscheidungen. Die habe ich dieses Mal in einem Posting zusammengefasst, weil es letztlich alles Fragen sind, zu denen ich schon häufig(er) hier Entscheidungen vorgestellt habe.

Zunächst zwei Entscheidungen zu den Gründen der Beiordnung, und zwar:

Zur Bestellung eines Pflichtverteidigers in einem Verfahren mit dem Vorwurf eines Verstoßes gegen § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG, wenn dem ausländischen Beschuldigten mit dem derzeitigen Status der Duldung im Fall der Verurteilung ggf. die Ausweisung droht.

Zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers, wenn dem Beschuldigten drei Fälle der Leistungserschleichung vorgeworfen werden und im Fall der Verurteilung  eine Gesamtfreiheitsstrafe zu bilden ist.

Beides nichts Besonderes, aber kann man zur „Abrundung“ vielleicht mal ganz gut gebrauchen.

Und dann ein Beschluss zur der ebenfalls schon häufiger behandelten Frage der Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung, wenn der (zunächst) inhaftierte Beschulidgte rechtzeitig vor dem Hauptverhandlungstermin entlassen wird, und zwar:

Die Bestellung des Pflichtverteidigers wegen Inhaftierung des Beschuldigten fällt nicht automatisch weg, wenn der Angeklagte mindestens zwei Wochen vor der  Hauptverhandlung aus der Verwahrung entlassen wird und die Verteidigung nicht aus einem anderen Grund notwendig ist. Das Gericht muss vielmehr stets prüfen, ob die Beiordnung des Verteidigers aufrechtzuerhalten ist, weil die auf der Freiheitsentziehung beruhende Behinderung trotz der Freilassung nachwirken kann.

Und dann noch etwas zum Dauerbrenner: Rückwirkung.

    1. Unter besonderen Umständen ist eine Ausnahme vom Grundsatz der Unzulässigkeit einer nachträglichen Beiordnung zu machen. Voraussetzung hierfür ist, dass der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt wurde, die Voraussetzungen für eine Beiordnung gemäß § 140 StPO im Zeitpunkt der Antragstellung vorlagen und der Antrag auf Beiordnung als Pflichtverteidiger in verfahrensfehlerhafter Weise behandelt wurde.
    2. Unverzüglich im Sinn von § 141 Abs. 1 S. 1 StPO bedeutet zwar nicht, dass die Pflichtverteidigerbestellung sofort zu erfolgen hat; vielmehr ist der Staatsanwaltschaft eine gewisse Überlegungsfrist zuzugestehen. Bei einem Zeitablauf von zehn Wochen zwischen der Stellung des Antrages auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers und der Einstellung des Verfahrens verstößt die Staatsanwaltschaft allerdings gegen ihre Pflicht zur Herbeiführung einer unverzüglichen Entscheidung.
    3. § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO, bezieht sich ausdrücklich nur auf die in § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 bezeichneten Fälle, nicht aber auf Abs. 1 der Vorschrift.

Und dann habe ich zur Rückwirkung noch zwei AG-Entscheidung: Und zwar einmal AG Verden (Aller), Beschl. v. 11.03.2024 – 9a Gs 2875 Js 43559/23 (874/24), wonach die rückwirkende Bestellung zulässig ist, was zutreffend ist. Anders sieht es dann das AG Frankfurt, Beschl. v. 19.2.2024 – 4831 Ls 204532/24 – 931 Gs -, was m.E. nicht zutreffend ist. Das AG meint außerdem, die Beiordnung komme auch deshlab nicht in Betracht, weil die Verteidigerin das Wahlmandat nicht niedergelegt habe. Ich empfehle dazu, dass das AG mal in einem gängigen StPO-Kommentar nachschauen sollte, wo es dann – vielleicht überrascht – feststellt, dass das nach überwiegender Meinung nicht erforderlich ist für die Bestellung. Warum tun AG das eigentlich nicht sofort?

Pflichti III: Beschuldigtenanhörung nicht feststellbar, oder: Pflichtverteidigeraustausch zulässig

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Und dann zum Tagesschluss noch der LG Gera, Beschl. v. 18.04.2023 – 11 Qs 70/23.

Es geht um einen Pflichtverteidigerwechsel. Das AG hatte den abgelehnt, das LG kommt dem Antrag hingegen nach:

„Der Beschwerdeführer ist Beschuldigter eines Strafverfahrens wegen des Verdachts der Körperverletzung mit Todesfolge in Tateinheit mit Mord durch Unterlassen gern. §§ 211, 227, 13, 52 StGB.

Die Staatsanwaltschaft Gera beantragte, dem Beschuldigten einen Pflichtverteidiger zu bestellen.

Mit gerichtlicher Verfügung vom 31.01.2023 wurde der Beschuldigte zur Auswahl eines Pflichtverteidigers mit einer Stellungnahmefrist von 10 Tagen angehört. Das Schreiben wurde dem Beschuldigten formlos übersandt.

Mit Beschluss des Amtsgerichts Gera vom 15.02.2023, dem Beschuldigten am 24.02.2023 zugestellt, wurde dem Beschuldigten Rechtsanwalt pp. zum Pflichtverteidiger bestellt. Auf der Zustellungsurkunde erklärte der Beschuldigte, dass er sich um eine Anwältin gekümmert habe, die sich in den nächsten Tagen mit ihm in Verbindung setzen werde.

Mit Schreiben vom 28.02.2023 zeigte sich Rechtsanwältin pp. unter Vorlage einer Vollmacht für den Beschuldigten an und beantragte, Rechtsanwalt pp. zu entpflichten und stattdessen sie dem Beschuldigten als Pflichtverteidigerin beizuordnen.

Mit Beschluss des Amtsgerichts Gera vom 10.03.2023 wurde der Wechsel des Pflichtverteidigers abgelehnt.

Hiergegen wendet sich der Beschuldigte, vertreten durch Rechtsanwältin pp., mit der sofortigen Beschwerde.

II.

Die Beschwerde des Beschuldigten ist statthaft und auch sonst zulässig, §§ 143a Abs. 4, 311 Abs. 1 StPO.

Die Voraussetzungen für einen Wechsel des Pflichtverteidigers gern. § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO liegen vor. Demnach ist die Bestellung eines Pflichtverteidigers aufzuheben und ein neuer Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn dem Beschuldigten ein anderer als der von ihm benannte Verteidiger beigeordnet wurde oder ihm zur Auswahl des Verteidigers nur eine kurze Frist gesetzt wurde, er innerhalb von drei Wochen seit der Bekanntmachung der Beiordnung einen entsprechenden Antrag stellt und dem kein wichtiger Grund entgegensteht.

So liegt der Fall auch hier. Durch die Staatsanwaltschaft Gera wurde beantragt, dem Beschuldigten einen Pflichtverteidiger beizuordnen. Mit gerichtlicher Verfügung vom 31.01.2023 erhielt der Beschuldigte Gelegenheit, sich zur Auswahl eines Pflichtverteidigers binnen einer Frist von 10 Tagen zu äußern. Ein Zugang dieses gerichtlichen Schreibens lässt sich nicht verzeichnen, da das Schreiben an den Beschuldigten formlos gesandt wurde, sodass ein zeitnaher Zugang und damit der Beginn der Frist nicht belegbar sind. Dabei ist unerheblich, dass der Ermittlungsrichter zum Zeitpunkt der Bestellung auf Grund des eingetretenen Zeitablaufs grundsätzlich davon ausgehen durfte, dass der Beschuldigte keinen Verteidiger seiner Wahl benennen wird. Das Gericht hätte jedoch die Möglichkeit gehabt, mittels förmlicher Zustellung des Schreibens den Zeitpunkt des Zugangs beim Beschuldigten nachzuweisen. Auf der Grundlage von üblichen Postlaufzeiten, insbesondere unter Berücksichtigung von stattgefundenen Warnstreiks bei der Deutschen Post AG im Januar und Februar 2023 und der Entfernung kann jedenfalls nicht davon ausgegangen werden, dass mit Beschlussfassung am 15.02.2023 die Frist zur Stellungnahme von 10 Tagen bereits abgelaufen war. Dies steht auch im Einklang mit der Erklärung des Beschuldigten auf der Zustellungsurkunde, dass er sich um eine Anwältin gekümmert habe, die sich in den nächsten Tagen mit ihm in Verbindung setzen werde.“

Pflichti II: Und immer wieder nachträgliche Bestellung, oder: LG Gera und AG Heidelberg tun es auch

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Was wäre ein „Pflichti-Tag“ ohne Entscheidungen zu rückwirkenden/nachträglichen Bestellung des Pflichtverteidigers. Dazu stehen bereits viele Entscheidungen – die meisten wohl positiv auf meiner Homepage. Und ich werde weiter berichten, damit man einen guten Überblick bekommt, welches Gericht wie entscheidet. Daher danke ich allen Kollegen, die Entscheidungen zu der Problematik ein geschickt haben und auch denen, die noch einschicken werden.

Ich weise heute dann auf:

Eine nachträgliche Pflichtverteidigerbestellung kann erfolgen, wenn zum Zeitpunkt des rechtzeitig gestellten und entscheidungsreifen Antrags auf Beiordnung ein Fall der notwendigen Verteidigung vorlag und das Erfordernis der Unverzüglichkeit bei der Bestellung nicht ausreichend beachtet wurde.

Die nachträgliche Bestellung eines Pflichtverteidigers ist zulässig, wenn der Bestellungsantrag rechtzeitig gestellt worden ist, die Voraussetzungen für eine Bestellung zum Zeitpunkt der Antragstellung vorlagen und dem Erfordernis der Unverzüglichkeit der Beiordnung nicht genügt worden ist.

Pflichti I: Dauerbrenner rückwirkende/nachträgliche Bestellung, oder: Siebenmal: „Yes we do.“

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Am Mittwoch heute mal wieder einiges zum Pflichtverteidiger. Hrezlichen Dank vorab allen Kollegen, die mir zu dem Bereich Entscheidungen geschickt haben.

Und ich beginne die Berichterstattung mit Entscheidungen zur rückwirkenden/nachträglichen Bestellung – meist in den Fällen, in denen das Verfahren nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellt und man den Beiordnungantrag „übersehen“ hat. Da zeichnet sich – wie schon nach altem Recht – das Bild ab, dass die LG und AG wohl weitgehend der Auffassung sind, dass die Beiordnung noch möglich – ja geboten ist. Die OLG lehnen das ab.

Hier dann folgende neuere Entscheidungen

Für die nachträgliche Bestellung:

Ein besonderer Hinweis auf die Entscheidung des LG Hamburg, die von der Rechtsprechung des „übergeordneten“ OLG abweicht, und auf LG Leipzig, das sehr schön auch zu den Voraussetzungen der Bestellung Stellung nimmt.

„…Popillen“, was ist das?

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Popillen„? Ja, was ist das? das habe ich mich auch gefragt, als ich den LG Gera, Beschl. v. 25.04.2016 – 9 Qs 123/16 – gelesen habe. Der Beschluss enthält nichts weltbewegend Neues, aber „Popillen“ kannte ich nicht. Nun aus dem Kontext, in dem die Forumuierung auftaucht, wird dann aber sehr schnell klar, worum es sich handelt, natürlich um einen Schreibfehler (und das in einem „Präsidentenbeschluss“ 🙂 ), denn es muss heißen „erweiterte Pupillen„. Und die spielen ja, wenn es um eine Drogenfahrt geht, ggf. eine Rolle bei der Frage, ob der Beschuldigte sein Fahrzeug sicher führen konnte (§ 316 StGB).  Dazu hat das LG noch einmal ein paar Hinweise gegeben:

„Der Tatrichter wird somit zu entscheiden haben, ob der Angeklagte wegen einer Straftat nach § 316 Abs. 1, 2. Alternative (unter Einfluss berauschender Mittel) StGB zu verurteilen ist. Zwar steht fest, dass der Angeklagte unter Einfluss von Cannabinoiden ein Fahrzeug im öffentlichen Verkehr geführt hat. Ob und inwieweit der Angeklagte jedoch in der Lage gewesen war, das Fahrzeug sicher zu führen, ergibt sich nicht ohne Weiteres aus dem bisherigen Akteninhalt. Eine mit der 1,1 Promillegrenze nach Alkoholgenuss vergleichbare Grenze absoluter Fahruntüchtigkeit nach Cannabiskonsum ist bislang medizinisch-naturwissenschaftlich nicht begründbar. Bei einer Verurteilung nach § 316 Abs. 1, 2. Alternative muss vielmehr ein erkennbares äußeres Verhalten des Fahrzeugführers festgestellt werden, das auf seine durch den Cannabiskonsum hervorgerufene Fahruntüchtigkeit hindeutet. Als solche Ausfallerscheinungen, die durch den Cannabiskonsum zumindest mit verursacht sein müssen, kommen insbesondere in Betracht: eine auffällige, sei es regelwidrige, sei es besonders sorglose und leichtsinnige Fahrweise, ein unbesonnenes Benehmen bei Polizeikontrollen, aber auch ein sonstiges Verhalten, das rauschbedingte Enthemmung und Kritiklosigkeit erkennen lässt, sowie Beeinträchtigungen der Körperbeherrschung, wie z. B. Stolpern und Schwanken beim Gehen, vgl. BGH in BGHSt 31, 42. Bei einer psychotropwirksamen Menge an THC von ca. 36 ng/ml Blut kann daher eine Fahruntüchtigkeit nur bei Hinzutreten rauschbedingter Ausfallerscheinungen angenommen werden, vgl. OLG Düsseldorf, NJW 1994, 2428 f. Ausweislich des toxikologischen Befundberichts vom 10.12.2014 (BI. 9-11) hatte der Angeklagte eine THC-Konzentration von 37 ng/ml im Blut. Auch wenn es in der Zusammenfassung des vorgenannten Berichtes heißt, dass die beim Angeklagten festgestellte hohe Konzentration auf einen chronischen Konsum von Cannabis hinweise und daher dessen generelle Fahreignung zu hinterfragen sei, ergibt sich aus dem Feststellungsprotokoll der Polizeibeamten vom 13.11.2014 indes keine der vorgenannten Ausfallerscheinungen, die auf den Cannabiskonsum zurückzuführen sind. Allein der Umstand, dass der Angeklagte auf der engen, etwa 3 m breiten Straße durch auffallend zügiges Fahren aufgefallen sei, kann nicht ausschließlich auf den vorhergehenden Cannabiskonsum zurückgeführt werden, denn es gibt keinen Erfahrungssatz des Inhalts, dass nur unter Einwirkung von Cannabinoiden stehende Fahrzeugführer auffallend zügig unterwegs sind, auch wenn die Straße nicht sehr breit ist. Die Feststellung der Fahruntüchtigkeit setzt zwar nicht stets das Vorliegen eines Fahrfehlers voraus, sondern kann sich auch aus dem Zustand und dem Verhalten des Fahrzeugführers bei einer Kontrolle ergeben. Das setzt aber Auffälligkeiten voraus, die sich unmittelbar auf eine Beeinträchtigung der Fahrtüchtigkeit beziehen, z. B. schwerwiegende Einschränkungen der Wahrnehmung und Reaktionsfähigkeit, mangelnde Ansprechbarkeit, Unfähigkeit zu koordinierten Bewegungen, extrem verlangsamte Reaktion. Allgemeine Merkmale des Drogenkonsums reichen hier nicht aus, wie z. B. gerötete Augen, erweiterte Popillen, „verwaschene Sprache“, verlangsamte oder unsichere Motorik, verzögertes Aufnahmevermögen, schläfriges Erscheinungsbild oder unvermittelte Stimmungs-schwankungen, vgl. Fischer StGB, § 316, Rn. 40ff. Die von den Polizeibeamten in dem Feststellungsprotokoll vom 13.11.2014 festgehaltenen Beobachtungen reichen insoweit nicht aus, um von einer Fahruntüchtigkeit des Angeklagten zweifelsfrei auszugehen. Die Feststellungen des das Blut abnehmenden Arztes in seinem ärztlichen Bericht vom 13.11.2014 beruhen auf dessen Beobachtungen um 18.35 Uhr, somit eine Stunde nach den Feststellungen der Polizeibeamten. Ob und in welchem Rahmen diese verwertbar sind, um beim Angeklagten zur Tatzeit (17.35 Uhr) eine Fahruntüchtigkeit anzunehmen, wird der Tatrichter zu entscheiden haben.“

Die Ausführungen entsprechen der h.M., ebenso wie die Ausführungen zu den beiden anderen Fragen, die der Beschluss behandelt, nämlich die Fragen des Zusammenhangs zwischen unwerlaubtem Besitz von BtM und der Verhältnismäßigkeit mit den Leitsätzen:

  1. Zwischen dem unerlaubten Besitz von Betäubungsmitteln und der zeitgleich begangenen Ordnungswidrigkeit nach § 24a Abs. 2 StVG liegt verfahrensrechtlich keine Tatidentität im Sinne des § 264 StPO, sondern Realkonkurrenz vor, wenn das Mitsichführen der Betäubungsmittel im Kraftfahrzeug in keinem inneren Zusammenhang bzw. Bedingungszusammenhang mit dem Fahrvorgang steht.
  2. Zur Verhältnismäßigkeit der Fortdauer der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis.