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Abgeltungsbereiche Grund-/Verfahrensgebühr, oder: Grundkenntnissemangel beim LG Koblenz/LG Siegen

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Und dann Gebühren. Zunächst hier mit zwei „unschönen“ Entscheidungen. Die eine kommt vom LG Koblenz, die andere stammt vom LG Siegen.

Es geht noch einmal um das Zusammenspiel von Grundgebühr und Verfahrensgebühr in Zusammenhang mit der Erstreckung. Im LG Koblenz, Beschl. v. 18.11.2024 – 3 Qs 45/24 – wird nach Verbindung und Erstreckung – zum Sachverhalt bitte im Volltext nachlesen – um die Grund- und Verfahrensgebühr in mehreren der hinzuverbundenen Verfahren gestritten. Die waren nur zum Teil festgesetzt worden. Das AG hatte das damit begründet, dass es sich zum Teil um jeweils eine Angelegenheit im gebührenrechtlichen Sinne gehandelt. Darüber hinaus habe der Verteidiger in drei verfahren auch keine Tätigkeit entfaltet. Die allgemein gehaltene Formulierung, er bestelle sich für alle weiteren Verfahren, stelle keine auch für diese Verfahren eine  gebührenauslösende Tätigkeit des Verteidigers dar. Gegen diesen Beschluss hat der Verteidiger Erinnerung eingelegt, die durch das AG zurückgewiesen wurde. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde des Verteidigers hatte nur teilweise Erfolg:

„Das zulässige Rechtsmittel hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg, im Übrigen ist sie unbegründet.

Die Grundgebühr nach Nr. 4100 VV RVG entsteht nach Übernahme des Mandats und soll den Aufwand für die erstmalige Einarbeitung in den Rechtsfall abgelten. Die Verfahrensgebühr im vorbereitenden Verfahren nach Nr. 4104 VV RVG soll dagegen nach der Vorbemerkung 4 Abs. 2 VV RVG das Betreiben des Geschäfts einschließlich der Information abgelten. Die Verfahrensgebühr entsteht zwar nach Anmerkung 1 zu Nr. 4100 VV RVG neben der Grundgebühr. Abgegolten werden mit ihr im vorbereitenden Verfahren allerdings nur Tätigkeiten nach der Erstinformation des Rechtsanwalts, d.h. alle Tätigkeiten nach erstem Mandantengespräch und erster Akteneinsicht. Die erste Akteneinsicht ist dagegen bereits von der Grundgebühr umfasst. Wird das Verfahren nach erfolgter Erstinformation zu einem anderen Verfahren verbunden, besteht für die Annahme einer neben der Grundgebühr stets entstehenden Verfahrensgebühr (Nr. 4104) daher kein Raum (OLG Celle, Beschluss vom 26.01.2022, 2 Ws 19/22, juris Rn. 18 m.w.N.).

Danach steht dem Beschwerdeführer über die für das führende Verfahren zuerkannten Gebühren hinaus ein Anspruch auf die Grundgebühr in den Verfahren zu den Fallakten 2, 4 und 5 zu. In diesen Verfahren ist der Pflichtverteidiger durch Stellung eines Akteneinsichtsgesuchs tätig geworden. Eine über die Beantragung und Durchführung der Akteneinsicht hinausgehende Tätigkeit ist für keines der hinzuverbundenen Verfahren dargetan. Die Verfahrensgebühr ist daher nicht entstanden. Darüber hinaus kann der Pflichtverteidiger die insoweit entstandene Post- und Telekommunikationspauschale verlangen.

Da die Verbindung des Verfahrens 2040 Js 82971/23 (Fallakte 2) noch vor der Beiordnung des Beschwerdeführers als Pflichtverteidiger erfolgte, ergibt sich der Gebührenanspruch für die vorangehende Tätigkeit des Beschwerdeführers insoweit bereits aus § 48 Abs. 6 Satz 1 RVG. Für die Verfahren 2040 Js 14516/23 (Fallakte- 4)und 2040 Js 14518/23 (Fallakte 5)folgt er gemäß § 48 Abs. 6 Satz 3 RVG aus dem Beschluss des Amtsgerichts Koblenz vom 11.06.2024 (131. 83 d.A.).“

Die Entscheidung zeigt mal wieder: Manche lernen es nie. Denn: Hinsichtlich des Verhältnisses und zum Anfall von Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG und der Verfahrensgebühr, hier der Nr. 4104 VV RVG, macht das LG allerdings einen Fehler, den auch schon vor kurzem das LG Siegen gemacht hat (LG Siegen, Beschl. v. 19.2.2024 – 10 Qs 4/24 – dazu gleich mehr) und der auch dem OLG Celle in dem vom LG zitierten Beschluss unterlaufen ist (OLG Celle, Beschl. v. 26.1.2022 – 2 Ws 19/22). Gerade die Bezugnahme des LG auf die letzte Entscheidung zeigt, wie schnell falsche Ansichten ein „Eigenleben“ entwi-keln. Das insbesondere, wenn sie offenbar ohne nähere Prüfung übernommen werden, wofür m.E. spricht, dass das LG keine anderen Entscheidungen und/oder Kommentare zitiert, sondern sich nur auf die – an dieser Stelle – falsche OLG-Entscheidung bezieht.

Daher noch einmal: Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG und die Verfahrensgebühr – hier die Nr. 4104 VV RVG für das vorbereitende Verfahren – entstehen nach der Anm. zur Nr. 4100 VV RVG immer nebeneinander (vgl. Burhoff AGS 2021, 433). Voraussetzung für das Entstehen der/dieser Gebühren des Rechtsanwalts sind von ihm für den Mandanten erbrachte Tätigkeiten. Dazu stellt das LG auf die Akteneinsichtsgesuche des Pflichtverteidigers ab und meint, da der Pflichtverteidiger (offenbar) weitere Tätigkeiten nicht erbracht hat, sei die Verfahrensgebühr nicht entstanden bzw. deren Anwendungsbereich nicht erreicht. Dabei übersieht es aber, dass die jeweilige Verfahrensgebühr als sog. Betriebsgebühr immer mit der ersten Tätigkeit des Rechtsanwalts entsteht und daneben zugleich die Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG. Diese honoriert (nur) den zusätzlichen Aufwand, der für die erstmalige Einarbeitung anfällt. Sie ist eine Art Verfahrensgebühr mit dem Charakter einer Zusatzgebühr, die den Rahmen der Verfahrensgebühr erweitert (BR-Drucks. 517/12, S. 439 = BT-Drucks. 1771471, S. 281; Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG, Nr. 4100 VV Rn 26 m.w.N. aus der Rechtsprechung). Es ist nicht so, wovon offenbar das LG ausgeht, dass, wenn der Verteidiger nur Tätigkeiten erbringt, die vom Anwendungsbereich dieser Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG erfasst werden, die Verfahrensgebühr – hier die Nr. 4104 VV RVG – wieder wegfällt. Vielmehr verlagert sich die Problematik in den Bereich der Bemessung der Verfahrensgebühr, die ggf., wenn weitere Tätigkeiten „zum Betreiben des Geschäfts„ nicht erbracht werden, nur in Höhe der Mindestgebühr anfällt (so zutreffend LG Hagen, Beschl. v. 23. 4.2018 – 43 Qs 14/18). Die hätten hier also in den in den Verfahren Fallakten 2, 4 und 5 also mindestens auch noch fest-gesetzt werden müssen.

Ob und welche Tätigkeiten der Verteidiger erbracht hat, lässt sich der Entscheidung nicht entnehmen; ich folge dem LG allerdings darin, dass dass die angeführten pauschalen Formulierungen in Schreiben in anderen gegen den Beschuldigten gerichteten Verfahren nicht ausreichen dürften. Dazu muss der Verteidiger vortragen, sollte sich das nicht aus der Akte ergeben. Ein Mandantengespräch oder ähnliches reicht. Beim Pflichtverteidiger entsteht dann aber die gesetzliche Gebühr als Festbetragsgebühr.

Ich hoffe, dass das jetzt aber auch reicht. Aber: Offenbar nich. Denn ähnlich hatte ich auch zu dem oben angeführten LG Siegen, Beschl. v. 19.02.2024 – 10 Qs 4/24  – kommentiert (Erstreckung II: Voraussetzungen der Erstreckung, oder: Grundkenntnisse fehlen beim LG Siegen/der StA Siegen) und dem Einsender vorgeschlagen, gegen die falsche Entscheidung des LG Gegenvorstellung einzulegen – die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt.  Aber leider ist sie gestorben. Das LG weiß es im LG Siegen, Beschl. v. 19.09.2024 – 10 Qs 4/24, mit dem die Gegenvorstellung zurückgewiesen worden ist, nach wie vor besser und man setzt noch einen drauf, wenn man ausführt:

„Soweit sich der Vortrag des Verteidigers zu seinen Tätigkeiten in den allgemeinen Behauptungen erschöpft, sich in Akten eingearbeitet zu haben und Besprechungen mit der Mandantin geführt zu haben, begründet dies weder die Geltendmachung einer Grundgebühr, noch einer Verfahrensgebühr. Der Vortrag des Verteidigers ist unsubstantiiert und kann nicht nachvollzogen werden. Dabei verkennt die Kammer nicht, dass Tätigkeiten – abgesehen von Akteneinsichten – nicht aktenkundig sein müssen. Entscheidend ist, ob der Verteidiger die Tätigkeiten erbracht hat. Da er sich tatsächlich vor der Verbindung der Verfahren in die Akten nicht hat einarbeiten können und seine Anträge vorrangig auf eine Beiordnung zielten, hätte es ergänzender Ausführungen auch zu den Besprechungen mit der Mandantin bedurft. Trotz Nachfragen erfolgte dies nicht, so dass Gebührenansprüche nicht festgestellt werden konnten.“

Was soll er denn bitte im Hinblick auf seine Schweigepflicht noch vortragen? Alles mehr als unschön.

Nur für den Vorführtermin bestellter Pflichtverteidiger, oder: Grund-, Verfahrens-, Terminsgebühr

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Und dann – es ist Freitag – heute Gebührenentscheidungen.

Zunächst kommt hier der AG Braunschweig, Beschl. v. 27.09.2024 – 4 Ds 210 Js 8094/24 (33/24) , der sich mal wieder/noch einmal zur Frage des Umfangs des Gebührensanspruchs des Pflichtverteidgers, der nur für die Wahrnehmung eines Vorführtermins beigeordnet wird, äußert. Das AG sagt: Der Verteidiger verdient alle Gebühren:

„Die Erinnerung ist zulässig und begründet.

Dem Verteidiger stehen vorliegend auch im Rahmen einer auf die Haftbefehlsverkündung gemäß § 115 StPO beschränkten Beiordnung sowohl die Terminsgebühr Nr. 4103 VV RVG als auch die Verfahrensgebühr Nr. 4105 VV RVG und die Grundgebühr Nr. 4101 VV RVG nebst Auslagenpauschale zu.

Teil 4 Abschnitt 1 VV RVG regelt die Vergütung des Verteidigers. Liegt ein Verteidigungsverhältnis vor, macht es grundsätzlich keinen Unterschied, ob sich die Tätigkeit insbesondere auch in den Fällen des sogenannten Terminvertreters auf die Wahrnehmung eines einzelnen Termins beschränkt. Die Beiordnung, auch für einen Termin, begründet ein eigenständiges Beiordnungsverhältnis in dessen Rahmen der Pflichtverteidiger die Verteidigung umfassend und eigenverantwortlich wahrzunehmen hat. Eine gebührenrechtlich unterschiedliche Behandlung dieses Verteidigers gegenüber dem Hauptverteidiger ließe eine Entwertung des Instituts der Pflichtverteidigung und damit einhergehend des Rechts des Angeklagten auf eine effektive rechtsstaatliche Grundsätzen genügend Verteidigung besorgen (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 26.03.2010, 2 Ws 129/10 Juris, Randnr. 6; OLG München, Beschluss vom 23.10.2008 — 4 Ws 140(08) NStZ-RR 2009, 32 jeweils mit weiteren Nachweisen).

Diese Grundsätze gelten vorliegend auch für die Verteidigung im Rahmen einer Haftbefehlseröffnung nach § 115 StPO. Es besteht kein sachlich gerechtfertigter Anlass, die Verteidigung im Verfahren nach § 115 StPO gebührenrechtlich anders zu beurteilen, als eine solche im Rahmen der Hauptverhandlung. Die Freiheit des Betroffenen stellt ein Grundrecht dar. Der in seinem Grundrecht durch die Haftanordnung verletzte Betroffene hat ein Recht auf effektive Verteidigung sowohl hinsichtlich des Tatvorwurfs als auch hinsichtlich der Annahme der Haftgründe (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 24.01.2024 — 3 Ws 50/23; OLG Koblenz, Beschluss vom 04.07.2024 — 2 Ws 412/24).

Vorliegend war eine Erstberatung noch nicht erfolgt; daher war — unabhängig von der später erfolgten Beiordnung eines Verteidigers für das Verfahren — eine umfassende Beratung zur Verteidigungsstrategie im Rahmen der Vorführung nach § 115 StPO zwingend geboten. Es war zu entscheiden, ob der Beschuldigte sich durch eine Einlassung bereits zum frühen Zeitpunkt verteidigt und dadurch gegebenenfalls das Verfahren abkürzt oder sich eine geständige Einlassung auf die Frage einer Außervollzugsetzung des Haftbefehls auswirken kann bzw. ob andere Umstände hier geringe Tatbeute, eine Außervollzugsetzung rechtfertigen. Die gewählte Vorgehensweise kann sich gegebenenfalls bestimmend für das Verteidigungsverhalten im weiteren Verfahrensverlauf auswirken.“

Die Entscheidung ist zutreffend. Wir werden in der Sache dann abersicherlich noch einmal etwas lesen. Das wird die Landeskasse nicht hinnehmen.

Pflichtverteidigerbestellung „für den heutigen Termin“, oder: Echternacher Springprozession beim OLG Koblenz

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Ich hatte Mitte Juni über den LG Bad Kreuznach, Beschl. v. 12.05.2024 – 2 Qs 14/24 – berichtet, in dem über den Gebührenanspruch eines Pflichtverteidigers entschieden worden ist, der nur für einen Vorführtermin bestellt worden ist (vgl. Pflichtverteidigerbestellung „für den heutigen Termin“, oder: Alle Gebühren, auch die Nr. 4142 VV RVG). In dem Posting hatte ich darauf hingewiesen, dass ich, da das LG die weitere Beschwerde zum OLG zugelassen hatte, gespannt bin, was das OLG Koblenz dazu sagt. Und inzwischen hat das OLG Koblenz sich geäußert, und zwar so, dass ich angenehm überrascht bin (was bei Entscheidungen vom OLG Koblenz nicht so häufig der Fall ist 🙂 . Denn das OLG hat die weitere Beschwerde, die die Bezirksrevisorin natürlich nicht eingelegt hat – „es kann doch nicht sein, dass …..“ 🙂 – mit dem OLG Koblenz, Beschl. v. 04.07.2024 – 2 Ws 412/24 – als unbegründet zurückgewiesen:

„a) Im Ansatz zutreffend geht die Bezirksrevisorin davon aus, dass maßgebend für das Kosten-festsetzungsverfahren der insofern bindende Beiordnungsbeschluss ist (BGH, Beschluss vom 11. April 2018 – Az. XII ZB 487/17; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 9. Mai 2018 – Az. III – 1 Ws 274/17; OLG Koblenz, Beschluss vom 26. Januar 2015 – Az. 13 WF 67/15 – alle zitiert nach juris). Für die Abgrenzung zwischen einem „Vollverteidiger“ und einem mit einer Einzeltätigkeit beauftragten Rechtsanwalt ist gemäß § 48 Abs. 1 RVG der Wortlaut der Verfügung des Vorsitzenden oder des Gerichtsbeschlusses maßgebend, durch den die Bestellung zum Pflichtverteidiger erfolgt ist (OLG Stuttgart, Beschluss vom 23. Januar 2023, Az. 4 Ws 13/23 – zitiert nach juris). Dem Wortlaut des hier vorliegenden Beiordnungsbeschlusses vom 21. Dezember 2022 ist eine Bei-ordnung „für den heutigen Termin“, mithin die Vorführung vor den Haftrichter gemäß § 115 StPO, zu entnehmen. Damit enthält der Beschluss eine zeitliche Beschränkung auf den Termin der Vorführung. Ob eine solche Beschränkung im Hinblick auf § 143 StPO zulässig ist, kann auf Grund der Bindungswirkung des Beiordnungsbeschlusses für das Kostenfestsetzungsverfahren dahinstehen. Eine inhaltliche Beschränkung auf die Haftfrage ist dem Beschluss dagegen nicht zu entnehmen (vgl. auch OLG Karlsruhe, Beschluss vom 9. Februar 2023 – Az. 2 Ws 13/23 – zitiert nach juris; aA für den – hier nicht vorliegenden – Fall eines schon beauftragten Wahlverteidigers: OLG Stuttgart, aaO).

Demzufolge ist bei der Festsetzung der Gebühren von der für den Termin der Vorführung erforderlichen, tatsächlich angefallenen anwaltlichen Tätigkeit auszugehen, soweit sie sich im Rahmen dieses Beiordnungsbeschlusses hält. Dies ist jedenfalls dann, wenn wie vorliegend noch kein anderer Verteidiger bestellt ist, sondern ein solcher bloß die Bereitschaft zur Übernahme der Verteidigung erklärt hat, beim Vorführungstermin jedoch verhindert ist, nicht allein die Einzeltätigkeit nach Nr. 4301 VV RVG. Nach Absatz 1 der Vorbemerkung 4.3 VV RVG entstehen die Gebühren für einzelne Tätigkeiten, ohne dass dem Rechtsanwalt sonst die Verteidigung oder Vertretung übertragen ist. Der Verteidiger war hier jedoch nicht nur „für den Termin“ mit einer einzelnen Tätigkeit im Sinne des Absatzes 1 der Vorbemerkung zu 4.3 beauftragt, sondern ihm wurde vielmehr eine Vollverteidigung übertragen. Die Tätigkeit im Rahmen des Vorführtermins erschöpft sich nämlich nicht alleine in der insofern in Betracht zu ziehenden Betätigung nach Nr. 4301 Ziff. 4 VV RVG (Beistandsleistung für den Beschuldigten im Rahmen einer richterlichen Vernehmung). Die richterliche Vernehmung ist zwar gemäß § 115 Abs. 2 StPO Teil einer Eröffnung eines Haftbefehls, diese geht jedoch darüber hinaus. Vorliegend war eine Erstberatung noch nicht erfolgt. Daher war – unabhängig von der später erfolgten Beiordnung eines anderen Verteidigers – eine umfassende Beratung zur Verteidigungsstrategie im Termin zur Vorführung nach § 115 StPO zwingend geboten. So war beispielsweise bereits zu diesem Zeitpunkt zu entscheiden, ob sich durch eine Einlassung ein dringender Tatverdacht ausräumen lässt oder sich eine (geständige) Einlassung auf die Frage einer Außervollzugsetzung des Haftbefehls auswirken kann. Die gewählte Vorgehensweise kann sich gegebenenfalls bestimmend für das Verteidigungsverhalten im weiteren Verfahrensverlauf auswirken. Dies gilt ebenso für die Frage der Beratung zu einer drohenden Einziehung.

Diesen Gegebenheiten wird bei bislang noch nicht erfolgter Erstberatung trotz zeitlicher Beschränkung der Aufgabenwahrnehmung nur durch eine volle Pflichtverteidigung Rechnung getragen (vgl. auch K. Sommerfeldt/T. Sommerfeldt in: BeckOK RVG, 64. Ed. § 48 Rdn. 121). Durch die Beiordnung eines Verteidigers für die Wahrnehmung eines Termins wird daher ein eigenständiges, vollumfängliches öffentlich-rechtliches Beiordnungsverhältnis begründet, aufgrund dessen der bestellte Verteidiger während der Dauer seiner Bestellung die Verteidigung des Angeklagten umfassend und eigenverantwortlich wahrzunehmen hat.

b) Daraus folgt, wie die Kammer zutreffend ausgeführt hat: die Grundgebühr nebst Haftzuschlag (Vorbemerkung 4 Ziffer 4 VV RVG) gemäß Nummer 4101 VV RVG deckt die erforderliche Einarbeitung in den Fall ab, daneben fällt die Verfahrensgebühr gemäß Nummer 4105 VV RVG an. Der Vorführungstermin zur Verkündung des Haftbefehls gemäß § 115 StPO erfüllt ohne weiteres die Voraussetzungen von Nummern 4102 Ziffer 3, 4103 VV RVG, wonach die Terminsgebühr mit Zuschlag für die Teilnahme an Terminen außerhalb der Hauptverhandlung anfällt, in denen über die Anordnung oder Fortdauer der Untersuchungshaft verhandelt wird. Gleiches gilt – im Hinblick auf die drohende Einziehung – gemäß Nummer 4142 VV RVG.

Etwas anderes lässt sich auch nicht aus dem Gebührentatbestand der Nummer 4301 Ziff. 4 VV RVG herleiten. Dieser regelt die Vergütung für die Beistandsleistung für den Beschuldigten bei einer richterlichen Vernehmung im Rahmen einer Einzeltätigkeit. Die Einzeltätigkeit setzt voraus, dass dem Rechtsanwalt nicht die Verteidigung übertragen worden ist. Dies ist hier aber gerade nicht der Fall (vgl. oben 2. a)).

Hiergegen kann auch nicht angeführt werden, dass der Gebührentatbestand Nr. 4301 Ziff. 4 VV RVG ins Leere laufe, da als Anwendungsfall zumindest die Tätigkeit im Rahmen des § 140 Abs. 1 Nr. 10 StPO verbleibt.“

Anzumerken ist: Eine weitere (obergerichtliche) Entscheidung in der Frage, welche Gebühren für den nur für einen Vorführtermin bestellten Pflichtverteidiger anfallen. Allmählich kann man die Auffassung, die in diesen Fällen nicht nur von einer Einzeltätigkeit ausgeht, sondern den Pflichtverteidiger als „vollen Verteidiger“ ansieht, der nach Teil 4 Abschnitt 1 VV RVG alle (Verteidiger)Gebühren abrechnen kann, als herrschende Meinung ansehen.

Mit der Begründung des OLG Koblenz kann ich mich allerdings nicht so richtig anfreunden, da das OLG das gefundene Ergebnis offenbar sogleich wieder einschränken will. Denn das OLG will – so ist es m.E. zu verstehen – von Teil 4 Abschnitt 1 VV RVG und damit vom Anfall aller Gebühren wohl nur dann ausgehen, „wenn wie vorliegend noch kein anderer Verteidiger bestellt ist, sondern ein solcher bloß die Bereitschaft zur Übernahme der Verteidigung erklärt hat.“ Diese Sicht der Dinge ist m.E. falsch. Denn auch, wenn bereits ein Verteidiger bestellt ist oder sich bestellt hat, muss der Verteidiger im/für den Vorführtermin die vom OLG beschriebenen Verteidigertätigkeiten erbringen. Das ist/wäre aber originäre volle Verteidigertätigkeit und geht weit über das hinaus, was über eine Einzeltätigkeit nach Nr. 4301 Ziff. 4 VV RVG abzurechnen wäre. Von daher ist die Entscheidung „unschön“ und mutet ein wenig wie die Echternacher Springprozession: Zwei Schritte vor, einer zurück.

Erstreckung II: Voraussetzungen der Erstreckung, oder: Grundkenntnisse fehlen beim LG Siegen/der StA Siegen

Und hier dann die Lösung der Preisfrage von heute Morgen.

Ich hatte da in dem Posting Erstreckung I: Voraussetzungen der Erstreckung, oder: AG Siegen macht es richtig den zutreffenden AG Siegen, Beschl. v. 23.11.2023 – 450 Gs 1656/23 – vorgestellt und gefragt, ob die Staatsanwaltschaft die Entscheidung hingenommen hat. Die Frage stellen, heißt, sie zu verneinen. Nein, hat die StA – aus welchen Gründen auch immer – natürlich nicht, sondern hat Beschwerde eingelegt, die dann, um das Ganze zu toppen, auch beim LG Siegen mit dem LG Siegen, Beschl. v. 19.02.2024 – 10 Qs 4/24Erfolg hatte.

Ich stelle hier jetzt nur die Ausführungen des LG zur Begründetheit des Rechtsmittels vor, die zur Statthaftigkeit/Zulässigkeit lasse ich mal außen vor. Insoweit reichen die Leitsätze, und zwar:

1. Gegen eine Erstreckungsentscheidung ist das Rechtsmittel der (einfachen) Beschwerde statthaft.
2. Auch der Staatsanwaltschaft steht die Befugnis zu, gegen eine Erstreckungsentscheidung, Beschwerde einzulegen.

Zur Begründung schreibt das LG dann:

„Nach § 48 Abs. 6 Satz 3 RVG kann das Gericht, wenn Verfahren verbunden werden, die Wirkungen des § 48 Abs. 6 Satz 1 RVG auch auf diejenigen Verfahren erstrecken, in denen der Rechtsanwalt vor der Verbindung nicht beigeordnet oder nicht bestellt war.

Hierbei handelt es sich um eine Ermessensentscheidung („kann“). Anders als im Fall des § 48 Abs. 6 Satz 1 RVG, bei dem die Wirkung mit der Pflichtverteidigerbestellung eintritt, soll bei verbundenen Verfahren die gebührenrechtliche Rückwirkung nur dann eintreten, wenn dies ausdrücklich durch das Gesetz vorgesehen ist.

Voraussetzung für die Anwendbarkeit ist dabei zunächst, dass es ein Verfahren gibt, bei dem § 48 Abs. 6 Satz 1 RVG vorliegt („auch“). Da § 48 Abs. 6 Satz 1 RVG das Vorliegen einer Beiordnung oder Bestellung eines Rechtsanwalts voraussetzt, können die Gründe hierfür – isoliert – nicht in der Ermessensentscheidung ausschlaggebend sein.

Daher sind die von dem Beschwerdegegner vorgebrachten Umstände, dass die Beschuldigte unter einer gesetzlichen Betreuung steht, die Frage ihrer Schuldfähigkeit bei den Verfahren im Raume steht und die Vielzahl der einzelnen Verfahren für die Ermessensentscheidung zwar zu berücksichtigende Punkte sein. Wenn diese – wie hier – vorliegen, führt dies aber nicht automatisch zu der Annahme, dass die Erstreckung erklärt werden müsse.

Auch der Umstand, dass sich die Entscheidung über die notwendige Vertretung verzögert hat, führt nicht automatisch zu der Annahme, dass die Erstreckung erklärt werden muss. Zwar wäre bei zeitiger Entscheidung vor Verbindung die Problematik wegen § 48 Abs. 6 Satz 1 RVG gar nicht erst entstanden. Jedoch gibt es gerade für diese Fallkonstellatiön den § 48 Abs. 6 Satz 3 RVG.

Die ebenfalls zu berücksichtigenden konkreten Tätigkeiten des Beschwerdegegners wurden nicht hinreichend dargelegt. Das Amtsgericht Siegen hat mit Verfügung vom 23.10.2023 (BI. 243 d.A.) darauf hingewiesen, dass § 48 Abs. 6 Satz 1, Satz 3 RVG voraussetzt, dass es bereits zu Tätigkeiten des Rechtsanwalts gekommen ist („für seine Tätigkeit“). Auf den hierauf eingehenden Schriftsatz des Beschwerdegegners vom 24.10.2023 (BI. 244-245 d.A.) hat die Staatsanwaltschaft Siegen mit Verfügung vom 07.11.2023 (BI. 246 d.A.) ausführlich Stellung genommen, welche dem Beschwerdegegner mit Verfügung vom 10.11.2023 mit dreiwöchiger Stellungnahmefrist vom Amtsgericht Siegen übersandt wurde (BI. 246R d.A.). Weder in dem darauf er-widernden Schreiben des Beschwerdegegners vom 14.11.2023 (BI. 247-252 d.A.) noch im Weiteren sind die jeweiligen konkreten Tätigkeiten ersichtlich vorgetragen worden. Hier wurde in den jeweiligen Ermittlungsverfahren nur der Antrag auf Bestellung zum Pflichtverteidiger gestellt, um Akteneinsicht gebeten und teilweise mitgeteilt, dass an einer Beschuldigtenvernehmung nicht teilgenommen wird. Aus diesem Grund führen auch die Ausführungen auf Seite 4 im Schreiben vom 26.01.2024 zu keinem anderen Ergebnis, weil sich diese Ausführungen gerade auf eine Vernehmungssituation beziehen. Lediglich in einem Fall (auf BI. 51 d.A.) wurde angeregt, das Verfahren im Hinblick auf das Verfahren 83 Js 1331/19 einzustellen. In dem Ver-fahren (66 Js 123/23) erfolgte jedoch eine ausdrückliche Bestellung zum Pflichtverteidiger. Die von dem Beschwerdegegner genannten Tätigkeiten wie Besprechung mit der Mandantin oder Einarbeiten in die Akte genügen den Anforderungen an eine konkrete Tätigkeit nicht, weil der Gesetzgeber hierfür die Grundgebühr nach Nr. 4100 und die Verfahrensgebühr nach Nr. 4104 als Pauschale vorsieht, unabhängig davon, wie umfangreich der Sachverhalt ist oder wieviele Verfahren vor der Bestellung verbunden wurden.

Unter Berücksichtigung der obigen Ausführungen kam eine Erstreckung nach § 48 Abs. 6 Satz 3 RVG bei einer Gesamtbetrachtung nicht in Betracht. Der Grundgedanke des § 48 Abs. 6 Satz 3 RVG besteht darin, frühere Tätigkeiten, die als Wahlverteidiger vorgenommen wurden, nach der Bestellung als Pflichtverteidiger zu vergüten, obwohl durch die Verbindung hierüber nicht entschieden wurde. Diese Tätigkeiten gab es hier nicht, weil unmittelbar im ersten Schreiben in jedem Verfahren der Antrag vorlag, als Pflichtverteidiger bestellt zu werden. Dann erfolgte die Verbindung der Verfahren bereits durch die Staatsanwaltschaft und nicht erst durch das Gericht nachdem jeweils eine Anklageschrift vorlag. In diesen Konstellationen fehlt es bereits an den Tätigkeiten im Ermittlungsverfahren, die vergütet werden sollen. Das gilt insbesondere hier, wenn wie vom Beschwerdegegner ausgeführt, immer die gleiche Frage relevant ist, inwieweit die Beschuldigte schuldfähig ist.

Soweit das Amtsgericht Siegen in dem angefochtenen Beschluss die Entscheidung über die Erstreckung in den Verfahren 66 Js 660/23 und 66 Js 661/23 abgelehnt hat (zweiter Absatz auf Seite des Beschlusses, BI. 262 d.A.) schließt sich die Kammer insoweit der dortigen Argumentation an, dass es hierzu keiner Entscheidung bedarf. Ob es eine tatsächliche Tätigkeit vor der Verbindung gab (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 16.05.2017 – 1 Ws 95/17 Rn. 20), ist dann im Festsetzungsverfahren zu prüfen.“

Dazu Folgendes: Die Ausführungen des LG zur Begründetheit des Rechtsmittels lassen den Leser der Entscheidung ratlos, wenn nicht fassungslos“ zurück? Denn die Ausführungen des LG zu den konkreten Tätigkeiten des Rechtsanwalts/Pflichtverteidigers offenbaren m.E. dann doch bei der entscheidenden Strafkammer einen erheblichen Mangel an gebührenrechtlichen Grundkenntnissen.

Zutreffend ist es (noch), wenn die Strafkammer darauf verweist, dass die Erstreckungsentscheidung nach § 48 Abs. 6 S. 3 RVG eine „Ermessensentscheidung“ ist, die natürlich voraussetzt, dass in dem Verfahren, auf das erstreckt werden soll, die Voraussetzungen für eine Pflichtverteidigerbestellung nach §§ 140 ff. StPO vorgelegen haben. Grundsätzlich zutreffend ist es auch, wenn das LG ausführt, dass eine Erstreckung nach § 48 Abs. 6 Satz 3 RVG nur in Betracht kommt, wenn der Rechtsanwalt in dem oder den Verfahren, auf die erstreckt werden soll, Tätigkeiten erbracht hat.

An der Stelle liegt dann aber auch der grobe Fehler, den das LG macht und der einen – immerhin handelt es sich um eine Beschwerdekammer, die in „Dreierbesetzung“ entschieden hat – ratlos, wenn nicht fassungslos zurücklässt. Denn das LG meint, in den Verfahren, auf die erstreckt werden sollte, seien bei dem Pflichtverteidiger keine Gebühren entstanden. Aber: Es sind Gebühren entstanden, und zwar, da man sich noch im Verfahrensstadium „Ermittlungsverfahren“ befunden hat (vgl. Anm. zur Nr. 4104 VV RVG) die Gebühren Nr. 4100 VV RVG – Grundgebühr – und die Nr. 4105 VV RVG – Verfahrensgebühr für das vorbereitende Verfahren und diese beiden Gebühren immer nebeneinander. Voraussetzung für das Entstehen der Gebühren des Rechtsanwalts sind von ihm für den Mandanten erbrachte Tätigkeiten. Dazu hatte der Pflichtverteidiger „Tätigkeiten wie Besprechung mit der Mandantin oder Einarbeiten in die Akte“ genannt. Warum diese Tätigkeiten nicht – wie das LG meint – den Anforderungen an eine konkrete Tätigkeit genügen sollen, erschließt sich mir nicht. Ich empfehle die Lektüre eines gängigen Kommentars zum Entstehen und zum Abgeltungsbereich der Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG und zur Verfahrensgebühr Nr. 4104 VV RVG. Beide Gebühren entstehen mit der ersten Tätigkeit des Rechtsanwalts für den Mandanten, wozu die genannten Tätigkeiten gehören. Ganz sicher ist es keine Begründung, wenn das LG meint: „weil der Gesetzgeber hierfür die Grundgebühr nach Nr. 4100 und die Verfahrensgebühr nach Nr. 4104 als Pauschale vorsieht, unabhängig davon, wie umfangreich der Sachverhalt ist oder wie viele Verfahren vor der Bestellung verbunden wurden“. Der erste Teil dieser Begründung ist unverständlich, der zweite falsch, weil es für die Erstreckungsentscheidung nicht darauf ankommt, wie viele Verfahren verbunden worden sind, auch wenn das wegen der Höhe der entstehenden gesetzlichen Gebühren vielleicht die Staatsanwaltschaft und das LG gestört haben. Ohne Bedeutung ist auch der Umstand, dass „immer die gleiche Frage relevant ist, inwieweit die Beschuldigte schuldfähig ist.

Und schließlich: Falsch sind/waren im Übrigen auch die Ausführungen der Staatsanwaltschaft im Erstreckungsverfahren, die mir vorliegen. Dort hatte der Staatsanwalt

höflich [sic!!] darauf hingewiesen, dass soweit von der Verteidigung vorgetragen wird, dass „sich jeweils auf die anstehenden Vernehmungen vorbereitet“ wurde (BI. 224 d. A.), dies i.E. unwahrscheinlich sein dürfte, da die gegenüber der Beschuldigten erhobenen Vorwürfe im Einzelnen (gemeint ist das ihr insoweit zur Last gelegte Handeln) nicht bekannt gewesen sein dürften (vgl. BI. 119x d. A.) insoweit aber auch und gerade Akteneinsicht beantragt wurde (vgl. Bl. 123x d. A). Auf Grund des Antrages des Verteidigers konnte es auch nicht zu einer Vernehmungssituation kommen, sodass insoweit auch keine Vorbereitung auf eine anstehende Vernehmung erfolgt sein kann. Wie eine nachhaltige Erörterung sachgerecht erfolgen kann, ohne dass der Verteidiger sich über die Polizei oder die Staatsanwaltschaft Einblick in die Ermittlungsunterlagen verschafft und erwartbar vorhandene Zeugenaussagen studiert, ist bereits fraglich (vgl. hierzu etwa LG Münster, Beschluss vom 4. September 2020 – 20 Qs 9/20 -, Rn. 29, juris). Dies umso mehr, als das der Verteidiger gerade keinen Kontakt zur Mandantin schildert, sondern lediglich zu deren Betreuerin (vgl. BI. 224x d. A.). Verfahrensbezogene Vergütungsansprüche können aber nur dadurch entstehen, dass der Rechtsanwalt eine konkrete Tätigkeit in dem jeweiligen Verfahren erbringt, wobei ihm in derselben Angelegenheit die Gebühren nur einmal zustehen. Dass dem Rechtsanwalt ein Verfahren bekannt ist, ist noch keine gebührenauslösende Tätigkeit. Auch ein pauschales Legitimationsschreiben belegt nur, dass der Rechtsanwalt mandatiert worden ist, aber gerade noch nicht, dass er eine konkrete, verfahrensbezogene Tätigkeit entfaltet hat (Kammerbeschl. v. 22. April 2021, 22 Qs 3/21). Ebenso reicht die bloße Beantragung von Akteneinsicht nicht aus (vgl. LG Hildesheim, Beschluss vom 31. Januar 2022 – 22 Qs 1/22 -, Rn. 25, juris m.w.N.).“

Soweit auf LG Münster, Beschl. v. 4.9.2020 – 20 Qs 9/20, AGS 2021, 371) verwiesen wird, handelt es sich um eine andere Problematik, nämlich die Frage der ausreichenden Glaubhaftmachung und nicht die der ausreichenden Tätigkeiten. Soweit auf LG Siegen (Beschl. v. 22.4.2021 – 22 Qs 3/21) und LG Hildesheim (LG Hildesheim, Beschl. v. 31.1.2022 – 22 Qs 1/22) verwiesen wird, wonach ein pauschales Legitimationsschreiben oder ein Antrag auf Akteneinsicht für das das Entstehen der Grundgebühr und Verfahrensgebühr nicht ausreichen soll, sondern (erst) die Gewährung von Akteneinsicht, ein (glaubhaft gemachtes) verfahrensbezogenes Mandantengespräch oder eine verfahrensbezogene Erklärung gegenüber den Ermittlungsbehörden, ist das aus den vorstehenden Gründen gleichfalls falsch. Grundgebühr und Verfahrensgebühr setzen nicht gewährte Akteneinsicht voraus, sondern der Verteidiger verdient die Gebühren schon bei auf Akteneinsicht gerichtete Tätigkeiten. Alles andere wäre auch widersinnig, da bei Richtigkeit der Ansicht des LG Siegen ein gebührenfreier Raum entstehen würde, den das RVG aber nicht vorsieht. Soweit der beschwerdeführende Staatsanwalt dann schließlich in seiner Beschwerdeschrift auch noch auf OLG Rostock (Beschl. v. 25.11.2013 – Ws 359/13, AGS 2014, 178) verweist, führt auch das zu nichts, da auch das OLG in dem Verfahren die vom Verteidiger erbrachten Tätigkeiten falsch bewertet hat.

Fazit: Wegen der verfahrensrechtlichen Ausführungen kann man dem LG folgen. Wegen der materiellen Fragen wird dringend empfohlen, sich mit der Gebührenstruktur des RVG (besser) vertraut zu machen. Das gilt vor allem auch für den Vertreter der Staatsanwaltschaft. Wenn man schon meint, gebührenrechtlich tätig werden zu müssen, dann sollte man auch richtig gerüstet sein. Denn eins sollte man nicht übersehen. Bei den Erstreckungsfragen geht es ggf., so z.B. hier wegen der Vielzahl der Verfahren, um erhebliche Gebührenforderungen des Rechtsanwalts. Und wenn man schon aus Gründen der „Rechtsklarheit“ als Staatsanwalt als beschwerdebefugt angesehen wird, sollte man nicht durch unbegründete Rechtsmittel, denen das LG dann aber stattgibt, „Rechtsunklarheit“, herbeiführen.

Terminsvertreter I: Gebühren aus Teil 4 Abschnitt 1 VV, oder: Aber keine Verfahrensgebühr?

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Am Gebührenfreitag stelle ich heute zwei Entscheidungen zu den Gebühren des Terminsvertreters vor. Beide Entscheidungen sind m.E. nur teilweise zutreffend.

Ich beginne mit dem OLG Brandenburg, Beschl. v. 26.02.2024 – 1 Ws 13/24 (S). Ergangen ist der Beschluss in deinem vor einer Strafkammer geführten Strafverfahren gegen sechs Angeklagte wegen Verbrechen nach dem BtmG, In dem hat der Kammervorsitzende mit Einverständnis des Angeklagten B. Rechtsanwalt R für den Hauptverhandlungstag am 26.09.2022 als Pflichtverteidiger beigeordnet, nachdem der für das Verfahren beigeordnete Pflichtverteidiger für diesen Tag seine Verhinderung angezeigt hatte. In der Hauptverhandlung am 26.09.2022 wurde das Hauptverfahren gegen einen Mitangeklagten wegen dessen Verhandlungsunfähigkeit „auf unbestimmte Zeit“ abgetrennt,

Rechtsanwalt R hat beantragt seine Gebühren festzusetzen. Geltend gemacht worden sind eine Grundgebühr Nr. 4100 Verteidiger, eine Verfahrensgebühr Nr. 4112 VV RVG und eine Terminsgebühr Nr. 4114 VV RVG sowie Auslagen und Umsatzsteuer. Die Kostenbeamtin hat bei der Kostenfestsetzung die Grundgebühr und die Verfahrensgebühr, jeweils nebst Umsatzsteuer, in Abzug gebracht . Auf die gegen diese Kostenfestsetzung erhobene Erinnerung des Rechtsanwalts R hat das LG  die Kostenfestsetzungsentscheidung dahingehend geändert, dass auch die beantragten Grund- und Verfahrensgebühr festzusetzen seien. Gegen diese Entscheidung hat dann der Bezirksrevisor, Beschwerde eingelegt, denn es darf ja nicht sein, was nicht sein kann. Und: Die Beschwerde hatte beim OLG teilweise Erfolg.

Ich lasse mal die Ausführungen des OLG zu den beiden zu den Gebühren des Terminsvertreters vertretenen Auffassungen weg. Das OLG schließt sich der (zutreffenden) h.M. an und führt aus:

„Dem anstelle des verhinderten Pflichtverteidigers für einen gerichtlichen Termin beigeordneten Verteidiger ist für den in der Beiordnung bezeichneten Verfahrensabschnitt die Verteidigung ohne jede inhaltliche Beschränkung mit sämtlichen Verteidigerrechten und -pflichten übertragen. Eine Beiordnung eines Verteidigers lediglich als „Vertreter“ des bereits bestellten Verteidigers sieht die Strafprozessordnung nicht vor. Dies folgt bereits daraus, dass der bestellte Verteidiger eine Untervollmacht für die Verteidigung des Angeklagten einem anderen Rechtsanwalt nicht erteilen kann, auch nicht mit Zustimmung des Gerichts, weil die Bestellung zum Verteidiger auf seine Person beschränkt ist (vgl. BGH StV 1981, 393; BGH StV 2011, 650, BGH, Beschluss vom 15, Januar 2014, 4 StR 346/13, zit. nach juris; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 9. Februar 2023, 2 Ws 13/23, zit. n. juris). Eine solche Vertretung in der Verteidigung ist nur dem entweder amtlich (§ 53 Abs. 2 Satz 3 BRAO) oder vom Verteidiger selbst (§ 53 Abs. 2 Satz 1 oder 2 BRAO) bestellten allgemeinen Vertreter des Pflichtverteidigers möglich (BGH, Beschluss vom 15. Januar 2014, a.a.O.). Durch die Beiordnung eines Verteidigers für die Wahrnehmung eines Termins anstelle des verhinderten Pflichtverteidigers wird vielmehr ein eigenständiges, öffentlich-rechtliches Beiordnungsverhältnis begründet, aufgrund dessen der bestellte Verteidiger während der Dauer seiner Bestellung die Verteidigung des Angeklagten umfassend und eigenverantwortlich wahrzunehmen hat. Eine solche umfassende, eigenverantwortliche Verteidigung setzt auch eine Einarbeitung in den Fall voraus, ohne die eine sachgerechte Verteidigung nicht möglich ist. Gerade für diese erstmalige Einarbeitung in den Rechtsfall entsteht die Grundgebühr. Eine Unterscheidung danach, welchen Aufwand diese Einarbeitung im Einzelfall erfordert (vgl. dazu OLG Stuttgart, Beschluss vom 3. Februar 2011, 4 Ws 195/10, NJOZ 2012, 213) verbietet sich schon deshalb, weil es sich bei den Gebühren des Pflichtverteidigers nach Anlage 1 Teil 4 Abschnitt 1 zu § 2 Abs. 2 RVG um Festgebühren handelt, die grundsätzlich unabhängig von dem im Einzelfall erforderlichen Aufwand anfallen (ausf. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 9. Februar 2023, 2 Ws 13/23, zit. n. juris). Der Anspruch des wegen Verhinderung des zuvor bestellten Verteidigers zeitlich beschränkt bestellten weiteren Verteidigers scheitert auch nicht daran, dass die Gebühr aus VV Nr. 4100/4101 pro Rechtsfall nur einmal entsteht und auf Seiten des ursprünglich bestellten Pflichtverteidigers bereits entstanden ist; denn die Einmaligkeit der Gebühr pro Rechtsfall ist ausschließlich personen- und nicht verfahrensbezogen zu verstehen (vgl. OLG Karlsruhe a.a.O.; Knaudt in BeckOK RVG, a.a.O. RVG VV Vorbemerkung, Rn. 20). Auch im Falle eines Pflichtverteidigerwechsels nach § 143a StPO steht die Grundgebühr sowohl dem zunächst bestellten Pflichtverteidiger als auch dem an seiner Stelle bestellten neuen Pflichtverteidiger zu.

c) Unter Berücksichtigung der vorgenannten Grundsätze steht dem Beschwerdegegner für seine am 26. September 2022 erbrachte Pflichtverteidigertätigkeit die Grundgebühr nach Nr. 4100 VV RVG in Höhe von 176,00 Euro, die Termingebühr nach Nr. 4114 VV RVG in Höhe von 282,00 Euro, die Pauschale für Post- und Telekommunikationsdienstleistungen nach Nr. 7002 VV RVG in Höhe von 20,00 Euro, die Fahrtkosten nach Nr. 7003 VV RVG in Höhe von 33,60 E, das Tage- und Abwesenheitsgeld nach Nr. 7005 VV RVG, jeweils nebst gesetzlicher Umsatzsteuer, zu.

Hingegen ist die Verfahrensgebühr nach Nr. 4112 VV RVG für das Betreiben der Geschäfte einschließlich der Information im vorliegenden Fall nicht angefallen. Eine in den Geltungsbereich der Verfahrensgebühr fallende Tätigkeit hat der Pflichtverteidiger nicht entfaltet. Zwar wird mit der Verfahrensgebühr die Tätigkeit des Pflichtverteidigers im Strafverfahren des ersten Rechtszuges nach Abschluss des vorbereitenden Verfahrens abgegolten. Ausgenommen sind davon aber Tätigkeiten, für die besondere Gebühren vorgesehen sind, wie z.B. die Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG und die Termingebühr für die Hauptverhandlung Nr. 4114 VV RVG (vgl. OLG München, Beschluss vom 27. Februar 2014, 4c Ws 2/14, zit. n. juris m.w.N.). Aus dem Protokoll der Hauptverhandlung vom 12. Verhandlungstag am 26. September 2022 ergibt sich, dass an diesem Tage keine Beweisaufnahme durchgeführt worden ist, für die eine Einarbeitung in das bisherige Beweisergebnis oder das Entwerfen einer Verteidigungsstrategie erforderlich gewesen wäre. Dem Protokoll über die 20 Minuten dauernde Hauptverhandlung ist lediglich die Beiordnung von vier Pflichtverteidigern für den Verhandlungstag sowie die Abtrennung des Verfahrens gegen den Mitangeklagten pp wegen Verhandlungsunfähigkeit „auf unabsehbare Zeit“ zu entnehmen…..“

Der Entscheidung ist – wie gesagt – teilweise zuzustimmen, teilweise aber auch zu widersprechen.

Zuzustimmen ist der grundsätzlichen Aussage des OLG zu den für den Terminsvertreter entstehenden Gebühren. Es ist zutreffend, wenn sich das OLG der insoweit herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur anschließt (vgl. dazu auch Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG, Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl., 2021, Vorbem. 4.1 VV Rn 5 mit weiteren Nachweisen aus Rechtsprechung und Literatur).

2. Aber: Das war es dann aber auch schon. Denn nicht folgen kann man m.E. dem OLG hinsichtlich seiner Begründung, warum eine Verfahrensgebühr Nr. 4112 VV RVG nicht entstanden sein soll. Zwar beschränkt das OLG seine Ausführungen auf den vorliegenden Fall, wenn es mit „im vorliegenden Fall“ formuliert. Aber unabhängig davon sind die Ausführungen nicht zutreffend. Denn die Verfahrensgebühr Nr. 4112 VV RVG ist auf jeden Fall entstanden. Das OLG übersieht nämlich, dass nach den Änderungen durch das 2. KostRMoG Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG und jeweilige Verfahrensgebühr immer nebeneinander entstehen (vgl. zur Grundgebühr Burhoff AGS 2022, 433 m.w.N.). Dabei kommt es auf den Umfang der jeweiligen Tätigkeit beim Pflichtverteidiger, mit dem wir es hier zu tun haben, nicht an. Denn er erhält unabhängig vom Umfang der von ihm erbrachten Tätigkeiten Festgebühren, die mit Erbringung der ersten Tätigkeit für den Mandanten entstehen. Und das OLG irrt bzw. wählt den falschen Ansatz, wenn es für die Frage des Entstehens der Verfahrensgebühr Nr. 4112 VV RVG allein darauf abstellt, was in dem Termin am 26.09.2022 geschehen ist. Das ist unerheblich, da diese Tätigkeiten durch die Terminsgebühr Nr. 4112 VV RVG abgegolten werden. Alle übrigen Tätigkeiten werden aber durch Grundgebühr- bzw. Verfahrensgebühr abgegolten. Und das ist eben nicht nur, wie das OLG offenbar meint, die Vorbereitung auf eine Beweisaufnahme, sondern jede zusätzliche Tätigkeit die vom Rechtsanwalt  erbracht wurde. Ausreichend sind eine Gespräch mit dem eigentlichen Pflichtverteidiger über die Übernahme der Vertretung im Termin, ein Gespräch mit dem Mandanten, das im Zweifel vor der dem Hauptverhandlungstermin geführt worden ist, usw. Dass es sich dabei um nur geringe Tätigkeiten handelt, ist wegen der Festgebührencharakter der Pflichtverteidigergebühren ohne Bedeutung. Daher hätte hier die Verfahrensgebühr Nr. 4112 VV RVG auch festgesetzt werden müssen. Die Entscheidung des LG war zutreffend. Dort hatte man offenbar mal in einen Kommentar geschaut. 🙂