Schlagwort-Archive: Erstattung

AVP-Erstattung für den ortsansässigen Verteidiger I, oder: AG Tiergarten versus VerfGH Berlin

© fotomek – Fotolia.com

Die Berichterstattung zu Gebühren, Kosten und/oder Auslagen beginne ich in 2025 mit einem Beschluss, der auch in der Rubrik: Manche lernen es nie, laufen könnte. Es geht nämlich noch einmal um die Erstattungshigkeit der Aktenversendungspauschale Nr. 9003 KV GKG. Darüber ist ja inzwischen ein recht heftiger Streit entbrannt, wenn es um dem ortsansässigen Verteidiger geht. An dem Streit nimmt auch das AG Tiergarten teil, das wegen seiner Auffassung, ggf. nicht zu erstatten, ja schon vom VerfGH Berlin gerügt worden ist. Aber nichts desto trotz:

Ich habe dann hier den AG Tiergarten, Beschl. v. 12.11.2024 – 332a OWi 64/22, in dem das AG erneut ausführt, warum nicht zu erstatten ist:

„Die Erinnerung ist jedoch unbegründet. Die Auslage des Verteidigers für die Aktenversendungspauschale war im vorliegenden Einzelfall nicht notwendig im Sinne von § 464a Abs. 2 Nr. 2 StPO.

Nach § 467 Abs. 1 StPO i.V.m. § 46 OWiG fallen bei Verfahrenseinstellung nur die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Staatskasse zur Last. Demnach fallen der Staatskasse nicht alle Auslagen eines Betroffenen zur Last, sondern nur diejenigen, die notwendig sind. Was notwendig in diesem Sinne ist, regelt § 464a Abs. 2 Nr. 2 StPO, der über § 46 OWiG auch für das Bußgeldverfahren gilt.

Gemäß § 464a Abs. 2 Nr. 2 StPO gehören zu den notwendigen Auslagen auch die Gebühren und Auslagen eines Rechtsanwalts, aber nur, soweit sie nach § 91 Abs. 2 ZPO zu erstatten sind. § 91 Abs. 2 ZPO hat folgenden Wortlaut: „Die gesetzlichen Gebühren und Auslagen des Rechtsanwalts der obsiegenden Partei sind in allen Prozessen zu erstatten, Reisekosten eines Rechtsanwalts, der nicht in dem Bezirk des Prozessgerichts niedergelassen ist und am Ort des Prozessgerichts auch nicht wohnt, jedoch nur insoweit, als die Zuziehung zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendig war.“

Die nach § 91 Abs. 2 ZPO zu erstattenden gesetzlichen Gebühren und Auslagen des Rechtsanwalts richten sich nach dem Vergütungsverzeichnis zum RVG (VV RVG).

Bei der Aktenversendungspauschale handelt es sich um eine Auslage des Verteidigers, nämlich die Auslage nach Nr 9003 VV RGV. Danach beträgt die Pauschale für die bei der Versendung von Akten auf Antrag anfallenden Auslagen an Transport- und Verpackungskosten je Sendung 12,00 €.
Nach § 28 Abs. 2 GKG schuldet die Auslagen nach Nummer 9003 des Kostenverzeichnisses nur, wer die Versendung der Akte beantragt hat.

Mit den im VV RVG geregelten gesetzlichen Gebühren werden auch die allgemeinen Geschäftskosten des Verteidigers entgolten, siehe Vorbemerkung 7 Satz 1 zum Teil 7 des mit „Auslagen“ überschriebenen Teils 7 zum W RGV. Und Satz 2 regelt: „Soweit nachfolgend nichts anderes bestimmt ist, kann der Rechtsanwalt Ersatz der entstandenen Aufwendungen (§ 675 i.V.m. § 670 BGB) verlangen.“ Die einzelnen Auslagentatbestände sind in den Nummern 7000 bis 7008 aufgelistet. Die Kosten für Aktenversendung sind nicht darunter. Aufgeführt sind aber u.a. Bestimmungen für Fahrtkosten für eine Geschäftsreise; diese betragen bei Benutzung eines eigenen Kraftfahrzeugs für jeden gefahrenen Kilometer 0,42 € (Nr. 7003 VV RVG) und bei Benutzung eines anderen Verkehrsmittels, soweit sie angemessen sind, in voller Höhe (Nr. 7004 VV RVG)

Gem. § 670 BGB sind Aufwendungen zu ersetzen, die der Rechtsanwalt den Umständen nach für erforderlich halten darf. Voraussetzung für einen Vergütungsanspruch für Auslagen ist demnach auch, dass die sie verursachende Tätigkeit notwendig war (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Auflage 2023, § 464a Rn. 1 1; Gerold/Schmidt/Müller-Rabe, 26. Aufl. 2023, RVG W Vorbemerkung 7 Rn. 24, 25, beck-online).

Nach § 32f Abs. 2 StPO i.V.m. § 46 OWiG wird die Einsicht in Akten, die — wie im vorliegenden Verfahren – in Papierform vorliegen, durch Einsichtnahme in die Akten in Diensträumen gewährt. Die Akteneinsicht kann, soweit nicht wichtige Gründe entgegenstehen, auch durch Bereitstellen des Inhalts der Akten zum Abruf, durch Übermittlung des Inhalts der Akte auf einem sicheren Übermittlungsweg oder durch Bereitstellen einer Aktenkopie zur Mitnahme gewährt werden. Auf besonderen Antrag werden einem Verteidiger oder Rechtsanwalt, soweit nicht wichtige Gründe entgegenstehen, die Akten zur Einsichtnahme in seine Geschäftsräume oder in seine Wohnung mitgegeben.

Demnach stellt die Akteneinsicht an Gerichtsstelle der Regelfall und die Mitnahme die Ausnahme vor. Eine Aktenübersendung ist für ortsansässige Verteidiger nicht vorgesehen.

Im Rahmen der notwendigen Kosten der Verteidigung sind die Kosten der Akteneinsicht nicht gesondert anzusetzen, sondern in der Grund- und Verfahrensgebühr nach dem RVG enthalten (AG Tiergarten, Beschl. v. 12.07.2023 — 327 Ds 10/19). Da die Kosten für die auf Antrag des Verteidigers erfolgte Aktenübersendung zu den allgemeinen Geschäftskosten des Verteidigers gehören, die durch die im VV RVG geregelten gesetzlichen Gebühren bereits abgegolten sind, kann der Verteidiger die Aktenversendungspauschale auch nicht auf seinen Mandanten abwenden; bei der Aktenversendungspauschale handelt es sich bei Anwälten mit Berliner Kanzleisitz deshalb nicht um notwendige Auslagen (LG Berlin, Beschl. v. 30.08.2022, 528 Qs 53/22). Ist die Übersendung nicht zur Ausführung des erteilten Mandats erforderlich, ist die verauslagte Aktenversendungspauschale keine Aufwendung, die der Verteidiger seiner Mandantin zusätzlich in Rechnung stellen könnte (AG Köln, Beschl. v. 10.09.2024 — 581 Cs 391/23, zu einem vergleichbaren Fall). Bei der Aktenübersendung an ortsansässige Rechtsanwälte handelt es sich vielmehr um eine vom Gesetz nicht umfasste zusätzliche Leistung des Gerichts (BVerfG, Beschluss vom 06.03.1996, 2 BvR 386/96, NStZ 1997, 42, beck-online), die dem Verteidiger die zwar kostenlose, jedoch mit zeitlichem Aufwand verbundene Akteneinsicht bei Gericht oder die Mitnahme der Akte von dort erspart und auf deren Erstattung im Kostenfestsetzungsverfahren kein Anspruch besteht (LG Berlin Beschl. v. 22.09.2011, 517 Qs 93/11, und Beschl. v. 22.3.2012, 517 Qs 5/12, BeckRS 2012, 11923, beck-online). Die in der Rechtsprechung vertretene andere Ansicht (AG Köln, Beschl. v. 13.03.2024, 651 Ds 256/23, und AG Tiergarten, Beschl. v. 30.08.2023, 336 OWi 238/23) vermag nicht zu überzeugen, da sie die Besonderheiten der im RGV geregelten gesetzlichen Gebühren und Auslagen nicht hinreichend berücksichtigt.

Aus der von der Verteidigung ins Feld geführten Entscheidung des VerfGH Berlin (Beschl. v. 18.05.2022, VerfGH 91/21, BeckRS 2022, 11824) folgt nicht, dass ein in Berlin ansässiger Rechtanwalt einen Anspruch auf Erstattung der Aktenversendungspauschale hat. Der VerfGH hat die ablehnende Entscheidung des Amtsgerichts Tiergarten vom 27.04.2021 (288 OWi 223/21) lediglich wegen unzureichender Begründung und demzufolge als Verstoß gegen das Willkürverbot aufgehoben und an das Amtsgericht Tiergarten zurückverwiesen. Hinsichtlich der Aktenversendungspauschale führt der VerfGH aus, diese könne auch als notwendige Auslage angesehen werden. Notwendig sei eine Auslage, wenn sie zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder zur Geltendmachung prozessualer Rechte erforderlich war. Dies könne schon dann anzunehmen sein, wenn der vernünftige und besonnene Verfahrensbeteiligte sie für geboten halten durfte. Dem Fall lag aber die vom vorliegenden Fall abweichende Konstellation zugrunde, dass es gar keine Papierakte gab, sondern es sich um eine elektronisch geführte Akte in einer Verkehrsbußgeldsache handelte. Aufgrund der nicht vergleichbaren Verfahrenskonstellation kommt der Entscheidung des VerfGH Berlin keine Bindungswirkung im Sinne von § 30 Abs. 1 VerfGHG für das vorliegende Verfahren zu.

Nur bei einem auswärtigen Verteidiger ist die Aktenübersendung notwendig in diesem Sinn, da er bei persönlicher Abholung einen Anspruch auf Vergütung der Reisekosten hätte, die in aller Regel höher als die Aktenversendungspauschale sind. In diesem Fall ist die Aktenübersendung die für den Mandanten kostengünstigste Maßnahme zur Durchführung der Akteneinsicht mit der Folge, dass die Kosten für die Aktenübersendung eine notwendige Auslage ist.“

M.E. ist die Entscheidung falsch und im Grunde ein Schlag ins Gesicht der VerfGH Berlin. Es ist zwar richtig, dass der VerfGH in seinem Beschluss v. 18.5.2022 – VerfGH 91/21 – die Entscheidung des AG Tiergarten v. 27.04.2021 – 288 OWi 223/21 – wegen mangelnder Begründung aufgehoben hat, aber: Der VerfGH formuliert doch mehr als deutlich, wenn er ausführt: “Die Aktenversendungspauschale kann auch als notwendige Ausla-ge angesehen werden. Notwendig ist eine Auslage, wenn sie zur zweckentsprechenden Rechts-verfolgung oder zur Geltendmachung prozessualer Rechte erforderlich war (vgl. Gieg, a. a. O.). Das kann schon dann anzunehmen sein, wenn der vernünftige und besonnene Verfahrensbeteilig-te sie für geboten halten durfte. Angesichts des Umstandes, dass die einzige andere Möglichkeit, Akteneinsicht zu erlangen, vorliegend eine Einsichtnahme in die elektronisch geführte Verfahrens-akte an einem Bildschirm in den Räumen des Polizeipräsidenten in Berlin war, dürfte dies auch naheliegen. Denn diese Möglichkeit der Akteneinsicht stellt sich gegenüber der von dem Verteidi-ger der Beschwerdeführerin erbetenen Übersendung eines Ausdrucks der Verfahrensakte zweifel-los als die deutlich zeit- und kostenaufwändigere Alternative dar.“. Wohlgemerkt: Nicht – wie das AG ausführt – mit „könne“, also dem Konjunktiv, sondern mit „kann“, dem Indikativ. Es ist zwar auch richtig, dass der VerfGH auf die elektronisch geführte Verfahrensakte abstellt, die, wenn nicht übersandt wird, „an einem Bildschirm in den Räumen des Polizeipräsidenten am Bildschirm einzusehen“ ist. Aber damit ist doch nicht ausgeschlossen, dass auch in den Fällen der Papierakten zu übersenden ist. Denn auch hier bleibt ja dem ortsansässigen Verteidiger letztlich nur, dass er – auf Kosten des Mandanten (sic!) – einen Ausflug durch Berlin macht bzw. machen muss, um die Akten einzusehen.

Und was nun? Nun: In Berlin werden – wie man sieht – Verteidiger weiter um die 12,00 EUR kämpfen müssen und es hoffentlich auch tun und ggf. die Frage noch einmal zum VerfGH Berlin bringen. Der wird sich sicherlich freuen, wenn er liest, wie man mit seinen Entscheidungen umgeht.

Etwas Verkehrzivilrechtliches „aus der Instanz“, oder: Unklare Verkehrslage, falsches Betanken, USt usw.

Und dann kommt hier ein kleiner Überblick zu verkehrsrechtlichen Entscheidungen, die nicht vom BGH stammen, und zwar auch wieder nur die Leitsätze und: Ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

1. Eine unklare Verkehrslage i. S. d. § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO und damit ein unzulässiges Überholen kommt in Betracht, wenn das vorausfahrende Fahrzeug bei einem ordnungsgemäß angekündigten Rechtsabbiegen in ein Grundstück zunächst erkennbar – unter Verstoß gegen § 9 Abs. 1 S. 2 StVO – nach links ausholt. In diesem Fall hat der Überholende mit einem weiteren Ausscheren des Vorausfahrenden nach links vor dem eigentlichen Abbiegen zu rechnen.

2. Im Falle einer seitlichen Kollision zwischen einem unter Verstoß gegen § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO bei unklarer Verkehrslage Überholenden und einem nach rechts in ein Grundstück abbiegenden Vorausfahrenden, der sich entgegen § 9 Abs. 1 S. 2, Abs. 5 StVO zunächst nach links zur Fahrbahnmitte hin einordnet und unmittelbar vor dem Rechtsabbiegen nach links ausholt, kommt eine Haftungsverteilung von 60 % zu 40 % zulasten des Überholenden in Betracht.

Es ist nicht der Betriebsgefahr i. S. d. § 7 Abs. 1 StVG eines Tanklastwagens zuzurechnen, wenn sich ein eigenständiger Gefahrenkreis aus der Risikosphäre des Bestellers verwirklicht (hier: fehlerhafte Füllstandsanzeige am Tank) und der Schadenseintritt beim Befüllvorgang weder auf ein Verschulden des Tanklastwagenfahrers noch auf einen Defekt des Tanklastwagens oder seiner Einrichtungen zurückzuführen ist.

    1. Nach den AKB 2015 ist eine Mehrwertsteuer in der Kaskoversicherung nur zu erstatten, wenn und soweit diese für den Versicherungsnehmer bei der von ihm gewählten Schadensbeseitigung tatsächlich angefallen ist.
    2. Eine solche Mehrwertsteuer ist nicht angefallen, wenn schon Monate vor dem Unfallereignis ein Nachfolgefahrzeug im Rahmen einer Fahrzeugfinanzierung bestellt worden ist, der Vertrag dann wegen Lieferschwierigkeiten für eine Bereitstellung des Ersatzfahrzeuges verlängert wird und in der Zwischenzeit vor der Lieferung des Ersatzfahrzeuges der Versicherungsfall eintritt.
    1. Es ist anerkannt, dass eine Beschaffenheitsvereinbarung auch konkludent oder stillschweigend zustande kommen kann. Dabei ist für die Beantwortung der Frage, ob eine bestimmte Beschaffenheit als vereinbart gilt, nicht nur auf die Beschreibung der Beschaffenheit im Kaufvertrag abzustellen, sondern es sind auch weitere schriftliche Angaben des Verkäufers an anderer Stelle des Vertragsformulars oder auch sonstiger Erklärungen des Verkäufers außerhalb der Vertragsurkunde in die Bewertung einzubeziehen.
    2. In dem bloßen Bestreiten von Mängeln kann nicht ohne weiteres eine endgültige Nacherfüllungsverweigerung gesehen werden. Etwas anderes gilt aber dann, wenn neben dem Bestreiten des Vorhandenseins von Mängeln weitere Umstände hinzutreten, welche die Annahme rechtfertigen, dass der Schuldner über das Bestreiten der Mängel hinaus bewusst und endgültig die Erfüllung seiner Vertragspflichten ablehnt und es damit ausgeschlossen erscheint, dass er sich von einer ordnungsgemäßen Nacherfüllungsforderung werde umstimmen lassen.

Kostenerstattung aus einer Vergütungsvereinbarung?, oder: Erstattung nur der gesetzlichen VwGO-Gebühren

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Und als zweite Entscheidung dann der OVG Lüneburg, Beschl. v. 10.10.2023 – 4 OA 39/23 – zur Erstattungsfähigkeit von aufgrund einer Vergütungsvereinbarung mit dem Rechtsanwalt anfallenden Kosten.

Der Kläger wollle im Kostenfestsetzungsverfahren erstreiten, dass ihm vom Beklagten über die für die Vertretung durch einen Rechtsanwalt gesetzlich vorgesehenen Gebühren und Auslagen hinaus weitere Kosten erstattet werden, die auf einer Vergütungsvereinbarung beruhen. Damit hatte er beim OVG keinen Erfolg:

„Die Beschwerde ist jedoch unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat im Rahmen der Entscheidung über die Erinnerung gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss vom 29. März 2023 die Festsetzung von weiteren dem Kläger vom Beklagten zu erstattenden Kosten zu Recht abgelehnt. Mit dem vorangegangenen Kostenfestsetzungsbeschluss vom 18. Oktober 2022 sind zugunsten des Klägers bereits (neben Aufwendungen für die Vorlage eines Privatgutachtens) für die anwaltliche Vertretung im Verwaltungsprozess die in Höhe der gesetzlich vorgesehenen Gebühren und Auslagen entstandenen Kosten festgesetzt worden. Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, dass darüber hinaus weitere, auf einer Vergütungsvereinbarung beruhende Kosten als erstattungsfähig festgesetzt werden. Denn auf der Grundlage von § 162 Abs. 2 Satz 1 VwGO sind stets nur die gesetzlich vorgesehenen Gebühren und Auslagen eines Rechtsanwalts erstattungsfähig. Zur Begründung verweist der Senat auf die zutreffenden Gründe der mit der Beschwerde angegriffenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts und die dort zitierte Rechtsprechung und Kommentarliteratur (vgl. nur: OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 16.1.2023 – OVG 6 K 81/22 -, juris Rn. 3 m.w.N.). Das Beschwerdevorbringen des Klägers führt nicht zu einer anderen Beurteilung der Rechtslage.

Ohne Erfolg macht der Kläger mit der Beschwerde geltend, dass nach dem Wortlaut des § 162 Abs. 2 Satz 1 VwGO anders als nach § 91 Abs. 2 Satz 1 ZPO die erstattungsfähigen Kosten nicht ausdrücklich auf die „gesetzlichen“ Gebühren und Auslagen eines Rechtsanwalts beschränkt sind. Es sind keine Anhaltspunkte dafür gegeben, dass die fehlende Verwendung des Wortes „gesetzlich” vor den Worten „Gebühren und Auslagen” in § 162 Abs. 2 Satz 1 VwGO davon motiviert war, für den Bereich der Verwaltungsgerichtsbarkeit eine von der gesetzlichen Vergütung abweichende höhere Honorarvereinbarung erstattungsfähig zu machen. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass die sprachliche Fassung des jetzigen § 162 Abs. 2 Satz 1 VwGO erfolgt ist, weil die Hinzufügung des Wortes „gesetzlich” vor den Worten „Gebühren und Auslagen” entbehrlich und überflüssig erschien, da unter Gebühren und Auslagen ohnehin die gesetzliche Vergütung des Rechtsanwalts zu verstehen ist. Diese Auslegung erscheint auch deshalb richtig, weil eine gegenteilige Gesetzesinterpretation zu einer Änderung des gesamten Gefüges der Kostenfestsetzung für den Rechtsanwalt führen würde, womit die Prüfung der Angemessenheit einer abweichenden höheren Honorarvereinbarung in das Kostenfestsetzungsverfahren verlagert würde. Hätte der Gesetzgeber eine so weitgehende Verschiedenheit der Kostenerstattung für die anwaltliche Vertretung im Verwaltungsprozess von derjenigen im Zivilprozess beabsichtigt, so hätte dies in § 162 Abs. 2 Satz 1 VwGO klarer zum Ausdruck kommen müssen (vgl. zum Ganzen: OVG NRW, Beschl. v. 25.10.1968 – IV B 566/68 -, NJW 1969, 709 = BeckRS 1968, 105533). Für das gegenteilige Verständnis des Klägers finden sich zudem auch in der Entstehungsgeschichte des § 162 Abs. 2 Satz 1 VwGO keine Anhaltspunkte (vgl. die Begründung des Gesetzentwurfs einer Verwaltungsgerichtsordnung zu § 159 Abs. 2 Satz 1 VwGO-E, BT-Drs. III/55, S. 48).

Auch die Ausführungen des Klägers zur Erstattungsfähigkeit der notwendigen außergerichtlichen Kosten im Sinne des § 162 Abs. 1 VwGO und insbesondere zu den Grundsätzen, die sich für die Erstattungsfähigkeit von Privatgutachten herausgebildet haben (vgl. dazu den Senatsbeschl. v. 19.1.2021 – 4 OA 203/20 -, juris), vermögen ein anderes Entscheidungsergebnis nicht begründen.

Gemäß § 162 Abs. 1 VwGO gehören zu den erstattungsfähigen Kosten neben den Gerichtskosten auch die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtverteidigung notwendigen Aufwendungen. Der damit vorgegebene Maßstab der Notwendigkeit für die Erstattung von außergerichtlichen Kosten wird durch die Vorschrift des § 162 Abs. 2 Satz 1 VwGO hinsichtlich der Vertretung durch einen Rechtsanwalt allerdings konkretisiert. Es ist daher grundsätzlich entbehrlich, die Notwendigkeit der Zuziehung des Rechtsanwalts im Einzelfall zu prüfen; gleiches gilt auch für die Höhe der hierfür entstandenen Aufwendungen, soweit im Rahmen der Kostenerstattung die gesetzliche Rechtsanwaltsvergütung abgerechnet wird (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 6.3.2019 – 5 OA 23/19 -, juris Rn. 20 m.w.N.). Das spricht dafür, dass § 162 Abs. 2 Satz 1 VwGO als lex specialis einen Rückgriff auf § 162 Abs. 1 VwGO hinsichtlich von über die gesetzlichen Gebühren und Auslagen hinausgehenden Aufwendungen, die auf einer Vergütungsvereinbarung mit dem Rechtsanwalt beruhen, ausschließt (vgl. Bay. VGH, Beschl. v. 19.7.2013 – 3 ZB 08.2979 -, juris Rn. 12 m.w.N.).

Im Übrigen ergäbe sich aber auch bei einer ergänzenden Anwendung von § 162 Abs. 1 VwGO kein anderes Entscheidungsergebnis. Denn die dem Kläger über die gesetzlich vorgesehenen Gebühren und Auslagen hinaus entstandenen Kosten für die anwaltliche Vertretung wären dann jedenfalls nicht als notwendig für die zweckentsprechende Rechtsverfolgung anzusehen.

Ob Kosten notwendig im Sinne von § 162 Abs. 1 VwGO sind, beurteilt sich danach, wie ein verständiger Beteiligter, der bemüht ist, die Kosten so niedrig wie möglich zu halten, in gleicher Lage seine Interessen wahrgenommen hätte (vgl. Senatsbeschl. v. 19.1.2021 – 4 OA 203/20 -, juris Rn. 3). Die Beteiligten im Verwaltungsprozess unterliegen somit einer Kostenminimierungspflicht (vgl.BVerwG, Beschl. v. 4.7.2017 – 9 KSt 4.17 -, juris Rn. 2; Nds. OVG, Beschl. v. 6.3.2019 – 5 OA 23/19 -, juris Rn. 19 m.w.N.). Wählt ein Beteiligter diesen Weg nicht, so wirkt er bei der Entstehung der darüber hinaus entstehenden Kosten mit und muss sie selbst tragen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 6.11.1984 – 2 BvL 16/83 -, juris Rn. 39). Aufgrund dessen können über die gesetzlichen Gebühren und Auslagen hinaus weitere Aufwendungen für die Beauftragung eines Rechtsanwalts allenfalls dann als notwendig angesehen werden, wenn in Fällen, die besonders umfangreich oder schwierig sind oder spezielle Rechtskenntnisse verlangen, insbesondere bei einem geringen Streitwert die Gefahr bestünde, dass der Beteiligte ohne Abschluss einer Honorarvereinbarung keinen zur Vertretung bereiten Rechtsanwalt fände (vgl. dazu Bay. VGH, Beschl. v. 19.7.2013 – 3 ZB 08.2979 -, juris Rn. 12 m.w.N.).

Für einen solchen Ausnahmefall ist hier aber nichts ersichtlich. Dem Vorbringen des Klägers sind keine Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, dass es ihm aufgrund der Komplexität der naturschutzrechtlichen Angelegenheit trotz entsprechender Bemühungen nicht gelungen ist, einen geeigneten Rechtsanwalt zu finden, der bereit gewesen wäre, auf der Grundlage der gesetzlich vorgesehenen Vergütung das Mandat zu übernehmen.“

Keine Erstattung der Aktenversendungspauschale? oder: Man möchte schreien, wenn man es liest

Bild von Christian Dorn auf Pixabay

Bei der zweiten AG-Entscheidung, die ich vorstelle, handelt es sich um den AG Tiergarten, Beschl. v. 12.07.2023 – (327 Ds) 232 Js 312/19 29207 V (10/19). Wenn  man den liest bzw. gelesen hat, möchte man schreien.

Entschieden hat das AG über die Erstattung der sog. Aktenversendungspauschale Nr. 9003 KV GKG. Der Kollege, der mir die Entscheidung geschickt hat, war Verteidiger des Beschuldigten. Der in Berlin ansässige Kollege hat nach Beendigung die Erstattung der zu ersetzenden Kosten  beantragt. Darin waren die 12,00 EUR für die Übersendung der Ermittlungsakte enthalten. Die Rechtspflegerin hat diese als nicht erstattungsfähig angesehen. Die dagegen eingelegte Erinnerung des Kollegen hatte keinen Erfolg. Das AG meint:

„Nach eigener Prüfung sieht das Gericht den von der Rechtspflegerin im Kostenfestesetzungsbeschluss gewählten und vom Bezirksrevisor am 03.07.2023 bestätigten Ansatz zur Berechnung der erstattungsfähigen Gebühren als zutreffend an.

Im Rahmen der notwendigen Kosten der Verteidigung sind die Kosten der Akteneinsicht nicht gesondert anzusetzen sondern in der Grund- und Verfahrensgebühr des RVG enthalten. Es bleibt dem insbesondere ortsansässigen Anwalt überlassen, ob er sich die Akte bei Gericht zur Einsicht abholt und wieder zurückbringt, ohne dass er Zeit-, Fahrt- und Parkaufwand hierfür gesondert in Rechnung stellen kann oder sich dies als persönlichem und bereits abgegoltenem Vorteil ersparen möchte und das Gericht bittet, die Akte ausnahmsweise entgegen der ansonsten üblichen Praxis und unter Zusage der Kostenübernahme übersenden zu lassen. Notwendig ist dies aus der vorgenannten Alternativmöglichkeit allerdings schon sprachnotwendig nicht (dazu auch LG Berlin v. 30.08.2022 in 528 Qs 53/22). Auch die Kosten der Rücksendung der Akte sind über die pauschalen Postauslagen hinaus übrigens nicht in Ansatz zu bringen.“

Wenn man es gelesen hat, mag man es nicht glauben. Die Aktenversendungspauschale Nr. 9003 KV GKG soll beim ortsansässigen Verteidiger nicht erstattungsfähig sein?. Man fühlt sich zurückgesetzt ins vorige Jahrhundert, als um diese Frage gestritten worden ist.

Was bei dem Beschluss aber vor allem sauer aufstößt, ist der Umstand, dass der entscheidende Amtsrichter offenbar die Rechtsprechung anderer Abteilungen des AG Tiergarten nicht kennt, die die Frage genau anders lösen (vgl. AG Tiergarten, Beschl. v. 21.02.2023 – 336 Cs 209/18). Und noch schlimmer: Abgesehen davon, dass ihn, aber auch die Rechtspflegerin und den Bezirksrevisor, die andere Auffassung der h.M. in Rechtsprechung und Literatur nicht zu interessieren scheint, erwähnt er mit keinem Wort den VerfGH Berlin, Beschl. v. 18.5.2022 – 91/21 (StraFo 2023, 27 = AGS 2022, 557 = StRR 12/2022, 33 = VRR 2/2023, 27); „mia san eben mia“. Vielleicht kennt er den Beschluss aber auch nicht, was die Sache nicht besser macht. Das VerfGH hat die Nichterstattung der Aktenversendungspauschale mit der Begründung, es handle sich um eine „Serviceleistung“ des Gerichts als willkürlich angesehen. Die einzige andere Möglichkeit, Akteneinsicht zu erlangen, sei nämlich eine Einsichtnahme in den Räumen der Ermittlungsbehörden, was aber eine deutlich zeit- und kostenaufwändigere Alternative darstelle.

Zudem: Der Amtsrichter scheint auch den Unterschied zwischen anwaltlicher Vergütung und Auslagen nicht zu kennen (vgl. § 1 Abs. 1 RVG). Gebühren sind das Entgelt für die Anwaltstätigkeit. Davon zu unterscheiden sind die Auslagen. Die Auslagen, die nicht zu den allgemeinen Geschäftskosten gehören, kann der Rechtsanwalt geltend machen. Dies ist ausdrücklich in Vorbem. 7 Abs. 1 S. 2 VV geregelt. Die Gebühren, die dem Rechtsanwalt zustehen, decken die von ihm gezahlten Auslagen nicht ab. Im Übrigen ist es Unsinn, wenn das AG meint, die Kosten der Akteneinsicht seien nicht gesondert anzusetzen, sondern in der Grund- und Verfahrensgebühr enthalten. Das ist nicht der Fall, weil diese Frage mit „anwaltlicher Tätigkeit“ nicht zu tun hat. Das wird bisher, soweit ersichtlich, auch nicht vertreten.

Für die Frage der Erstattung gilt: Bei der Übersendung der Akten zur Akteneinsicht handelt es sich nicht um eine „Serviceleistung“ des Gerichts. Zur Erstattung im Übrigen eingehend Burhoff/Volpert/Volpert, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl. 2021, Teil A Rn 212 ff.). Die zum Pflichtverteidiger teilweise vertretene a.A. ist durch die Entscheidung des BGH v. 06.04.2011 (IV ZR 232/08, NJW 2011, 3041) überholt.

Und: Man kann angesichts der Rechtslage, dem betroffenen Verteidiger nur empfehlen, noch einmal den Weg zum VerfGH Berlin zu wählen. Die Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde sind m.E. groß. Diesen Weg sollte er allein schon deshalb wählen, weil solche falschen Entscheidungen sonst schnell Schule machen. Eine (unheilige) Allianz zwischen Rechtspfleger, Bezirksrevisor und AG ist, wie die Entscheidung zeigt, schnell gebildet. Die Landeskasse (Berlin) wird es freuen, die Verteidiger weniger. Zwar handelt es sich nur um einen Betrag von 12 EUR, aber: „Auch Kleinvieh macht Mist.“ Zudem: Durch eine Verfassungsbeschwerde erfährt man am VerfGH Berlin dnan auch, was die Instanz von den Entscheidungen des Verfassungsgerichts hält. Offenbar leider nichts.

 

War das (fristwahrende) Rechtsmittel notwendig?, oder: Überprüfung der Verteidigerentscheidung?

Bild von Ralphs_Fotos auf Pixabay

Und heute dann RVG-Tag. Zum Glück habe ich in den letzten Tagen zwei Entscheidungen geschickt bekommen, so dass ich die vorstellen kann. Mein Aufruf, mir (gebührenrechtliche) Entscheidungen zu schicken, gilt aber nach wie vor.

Hier dann also der LG Heidelberg, Beschl. v. 09.05.2023 – 12 Qs 16/23 -, den mir der Kollege Nagel aus Limburg geschickt hat. Der hat um seine Gebühren im Rechtsmittelverfahren kämpfen müssen. Der Kollege hatte als Pflichtverteidiger den Angeklagten in einem Verfahren wegen Beleidigung in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte u.a. verteidigt. Nachdem der Angeklagte vom AG zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten verteilt worden war, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde, hat der Kollege hiergegen im Namen des Angeklagten Berufung eingelegt. Zur Begründung hat er ausgeführt, dass die Einlegung zunächst fristwahrend erfolge, um dem Mandanten die Möglichkeit zu geben, sich erneut mit ihm zu besprechen. Hintergrund sei, dass die Staatsanwaltschaft im Hauptverhandlungstermin eine Freiheitsstrafe von zwölf Monaten ohne Bewährung beantragt und in der Hauptverhandlung keinen Rechtsmittelverzicht erklärt habe, weswegen nicht abgeschätzt werden könne, ob diese das Urteil akzeptiere.

Nachdem die Staatsanwaltschaft kein Rechtsmittel eingelegt hat, hat der Kollege, der die Sach- und Rechtslage zwischenzeitlich sowohl mit seinem Mandanten als auch mit dem Vorsitzenden der Berufungskammer erörtert hatte, die Berufung namens und im Auftrag seines Mandanten zurückgenommen.

Das AG hat – dem Kostenfestsetzungsantrag des Verteidigers folgend – die Pflichtverteidigervergütung festgesetzt und dabei auch die Gebühren nach Nrn. 4124, 4141 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 VV RVG gewährt. Der Vertreter der Staatskasse hat das beanstandet und Erinnerung eingelegt, mit der er beantragt hat, die festgesetzten Pflichtverteidigergebühren – durch Abzug der Gebühren für das Berufungsverfahren – zu reduzieren. Zur Begründung hat er ausgeführt, dass die insoweit geltend gemachten und festgesetzten Gebühren auf nicht notwendigem Verteidigerhandeln beruhten und daher nicht erstattungsfähig seien. Der Pflichtverteidiger dürfe nicht besser gestellt werden, als er stünde, wenn er als Wahlverteidiger beauftragt und die Staatskasse erstattungspflichtig wäre. Auch in diesem Fall würde nur die durch notwendige Verteidigung entstandene Vergütung ersetzt werden. Da dem Angeklagten nach der Berufungsrücknahme die Kosten auferlegt worden seien, bestünde in diesem Fall für einen Wahlverteidiger kein Erstattungsanspruch; der Pflichtverteidiger dürfe insoweit nicht bessergestellt werden. Werde die Berufung zurückgenommen, so sei davon auszugehen, dass schon die Einlegung nicht notwendig gewesen sei.

Das AG ist dem dann gefolgt. Die dagegen gerichtete Beschwerde des Kollegen hatte Erfolg. Das LG hat sowohl die Nr. 4124 VV RVG als auch die Nr. 4141 VV RVG gewährt:

„Der Beschwerdeführer hat einen Anspruch auf Festsetzung von Pflichtverteidigergebühren in Höhe von insgesamt 1.982,25 €, weshalb der angefochtene Beschluss des Amtsgerichts mit dem dieser Betrag um die Gebühren für das Berufungsverfahren gekürzt wurde, aufzuheben war.

Sowohl die Verfahrensgebühr für die Berufung (Nr. 4124 VV RVG) als auch die Gebühr für die Berufungsrücknahme (Nr. 4141 Abs. 1 Nr. 3 VV RVG) sind entstanden. Letztgenannte Gebühr entsteht gemäß Nr. 4141 Abs. 2 VV RVG nur dann nicht, wenn eine auf die Förderung des Verfahrens gerichtete Tätigkeit (des Verteidigers) nicht ersichtlich ist, was hier nicht der Fall ist. Die Berufungseinlegung selbst sowie beratende Tätigkeit vor der Einlegung werden mit der Verfahrensgebühr für das erstinstanzliche Verfahren abgegolten; Tätigkeiten des Verteidigers nach Einlegung des Rechtsmittels aber über die Verfahrensgebühr für die Rechtsmittelinstanz (vgl. KG Berlin v. 20.01.2009 (1 Ws 382/08). Nach Aktenlage hat der Verteidiger nach der Berufungseinlegung sowohl mehrere Beratungsgespräche mit seinem Mandanten geführt als auch die Sach- und Rechtslage mit dem Vorsitzenden der Berufungskammer erörtert, so dass ein Tätigwerden nach Berufungseinlegung vorliegt.

Wie der Bezirksrevisor in seiner Stellungnahme vom 22.03.2022 zutreffend ausführt, ist die Frage, ob Gebührenansprüche des Verteidigers entstanden sind, grundsätzlich von der Frage zu unterscheiden, ob diese auch von der Staatskasse zu erstatten sind. Vorliegend hat jedoch eine Erstattung zu erfolgen, weil das Tätigwerden des Verteidigers im Rahmen des Berufungsverfahrens – entgegen der Ansicht des Bezirksrevisors und des Amtsgerichts – kein „nicht notwendiges Verteidigerhandeln“ darstellt.

Soweit im angefochtenen Beschluss auf einen Vergleich mit einem Wahlverteidiger abgestellt und ausgeführt wird, dass der Pflichtverteidiger keine Erstattung verlangen könne, weil er ansonsten besser stehe als der Wahlverteidiger, der – aufgrund der vollständigen Kostentragung des Angeklagten bei Berufungsrücknahme – keinen Erstattungsanspruch habe, trägt diese Argumentation nicht. Zum einen handelt es sich um andere, nicht vergleichbare Konstellationen, zum anderen hätte sie zur Konsequenz, dass der Pflichtverteidiger in keinem Fall, in dem sein Mandant verurteilt wird und dementsprechend die Kosten zu tragen hat, eine Erstattung verlangen könnte. Auch der Begründung des Bezirksrevisors, woraus sich schon aus der Rücknahme des Rechtsmittels ergebe, dass deren Einlegung nicht notwendig gewesen sei, vermag die Kammer nicht zu teilen.

Denkbar wäre allenfalls die Notwendigkeit des Verteidigerhandelns nach der Berufungseinlegung dann zu verneinen, wenn die Berufungseinlegung allein vorsorglich für den Fall einer Einlegung auch durch die Staatsanwaltschaft erfolgt wäre. In einem solchen Fall könnte man – in Anlehnung an die bestehende und in der Erinnerung des Bezirksrevisors zitierte Rechtsprechung, wonach Verteidigertätigkeit auf ein allein von der Staatsanwaltschaft eingelegtes Rechtsmittel noch vor dessen Begründung nicht notwendig und damit nicht erstattungsfähig sei (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, 65. A. 2022, § 464a Rn 10 m.w.N.) – möglicherweise von einem nicht notwendigen Verteidigerhandeln ausgehen. Ob die genannte Rechtsprechung auf eine solche Fallgestaltung übertragen werden kann, kann aber letztlich dahinstehen, da ein solcher Fall nicht vorliegt. Der Verteidiger führte im Rahmen seiner Berufungseinlegung vom 24.07.2019 zwar aus, dass diese vor dem Hintergrund erfolge, dass man nicht wisse, ob das Urteil seitens der Staatsanwaltschaft akzeptiert werde, nannte als weiteren Beweggrund aber auch den Umstand, dass die Einlegung erfolge, um nochmals die Möglichkeit zu haben, sich mit seinem Mandanten zu besprechen. In der Folge machte er deutlich, dass er sich für den Fall, dass die Staatsanwaltschaft kein Rechtsmittel einlege, erneut mit seinem Mandanten beraten und die Berufung dann gegebenenfalls zurücknehmen werde. Dass die Einlegung ausschließlich für den Fall einer Rechtsmitteleinlegung auch durch die Staatsanwaltschaft erfolgte, lässt sich dem gerade nicht entnehmen. Dass die eigene Berufung im Falle einer Nichteinlegung der Staatsanwaltschaft wieder zurückgenommen wird, wird zwar als Möglichkeit in Aussicht gestellt, aber keineswegs verbindlich angekündigt.

Auch wenn das Amtsgericht im erstinstanzlichen Verfahren im Wesentlichen dem Antrag der Verteidigung gefolgt ist, so lässt sich auch daraus nicht entnehmen, dass das Weiterverfolgen der eigenen Berufung (auch ohne gleichzeitige Einlegung der Staatsanwaltschaft) mit dem Ziel, eine für den Mandanten günstigere Entscheidung zu erwirken, von vornherein sinn- oder zwecklos wäre. Das Amtsgericht hat den Angeklagten zwar – dem Antrag des Verteidigers folgend – zu einer Bewährungsstrafe verurteilt und dabei auch die vom Verteidiger vorgeschlagenen Bewährungsauflagen übernommen, es ging aber auch über den Verteidigerantrag hinaus, indem es eine Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Monaten ausgesprochen hat, während der Verteidiger eine solche von sieben Monaten beantragt hatte. Hinzu kommt, dass der Angeklagte die ihm vorgeworfenen Taten ausweislich des Protokolls in der Hauptverhandlung zwar weitgehend, aber nicht vollumfänglich eingeräumt hat. Hinsichtlich einer der vier angeklagten Taten hatte der Verteidiger zudem eine Einstellung nach § 154 Abs. 2 StPO angeregt, welcher die Staatsanwaltschaft entgegengetreten war. Schließlich kommt hinzu, dass nach Einlegung der Berufung wegen neuerlicher Straffälligkeit eines neues Verfahren seitens der Staatsanwaltschaft Heidelberg gegen den Angeklagten geführt wurde (am 08.08.2019 erging deshalb erneut Haftbefehl gegen ihn) und für die Verteidigung nunmehr auch die Möglichkeit einer Gesamtstrafenbildung im Falle der Weiterverfolgung der Berufung zu bedenken war. Diese Thematik wurde seitens des Verteidigers am 26.09.2019 mit dem Vorsitzenden der Berufungskammer erörtert, wobei der Verteidiger dabei noch erklärte, dass er sich wegen dieses Umstandes zunächst an einer Berufungsrücknahme gehindert sehe und er die Angelegenheit nochmals mit seinem Mandanten besprechen wolle.

Angesichts dieser Umstände vermag die Kammer nicht festzustellen, dass die Einlegung der Berufung bzw. das weitere Tätigwerden im Berufungsverfahren – auch nachdem bekannt war, dass die Staatsanwaltschaft kein Rechtsmittel eingelegt hat – nicht notwendig gewesen wäre. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund, dass die Entscheidung über die Art und Weise der Verteidigung grundsätzlich dem Verteidiger und seinem Mandanten obliegt und im Rahmen einer gerichtlichen Überprüfung dieser Entscheidung im Hinblick auf die Notwendigkeit einzelner Verteidigungshandlungen eine gewisse Zurückhaltung geboten erscheint.“

Dazu kurz Folgendes:

  1. Das LG „verteilt“ die vom Kollegen, der auch im Ausgangsverfahren tätig war, in Zusammenhang mit einem Rechtsmittel zu erbringenden Tätigkeiten zutreffend: Die Rechtsmitteleinlegung selbst sowie beratende Tätigkeit vor der Einlegung werden mit der Verfahrensgebühr für das erstinstanzliche Verfahren abgegolten, was aus § 19 Abs. 1 Satz. 2 Nr. 10 RVG folgt. Alles Tätigkeiten des Verteidigers nach Einlegung des Rechtsmittels werden aber von der jeweiligen Verfahrensgebühr für die Rechtsmittelinstanz erfasst, was sowohl für das Berufungsverfahren gilt (Nr. 4124 VV RVG) als auch für das Revisionsverfahren.
  2. Der Kollege hatte Verteidiger bei der Einlegung seiner Berufung darauf hingewiesen hatte, dass die Einlegung zunächst nur fristwahrend erfolge. Daraus und aus der später erfolgten Berufungsrücknahme nun den Schluss ziehen zu wollen – was der Vertreter der Staatskasse tut –, dass deshalb die Verfahrensgebühren für das Berufungsverfahren nicht entstanden seien, ist m.E. abwegig. Entscheidend ist – und darauf will das LG auch wohl abstellen – die Sicht „ex ante“. Aus der Sicht war die Berufungseinlegung aber notwendig, schon um ggf. in Gesprächen mit der Staatsanwaltschaft nach Rücknahme einer ggf. von dort aus eingelegten Berufung über die beiderseitige Rücknahme „verhandeln“ zu können. Wohltuend ist in dem Zusammenhang der Hinweis des LG, dass die Entscheidung über die Art und Weise der Verteidigung grundsätzlich dem Verteidiger und seinem Mandanten obliege und im Rahmen einer gerichtlichen Überprüfung dieser Entscheidung im Hinblick auf die Notwendigkeit einzelner Verteidigungshandlungen eine gewisse Zurückhaltung geboten erscheine. Das liest man leider viel zu selten und das wird leider noch viel seltener beachtet. Im Grunde geht es die Vertreter der Staatskasse gar nichts an, warum Berufung eingelegt worden ist.
  3. Aber Vorsicht. Die Entscheidung ist kein Freibrief für Verteidigerhandeln im Rechtsmittelverfahren. Das LG lässt m.E. deutlich erkennen, dass es ggf. zu einer Beurteilung gekommen wäre, wenn der Verteidiger die Rücknahme der Berufung verbindlich angekündigt hätte, falls die Staatsanwaltschat ein ggf. von ihr eingelegtes Rechtsmittel wieder zurücknimmt. „Gerettet“ hat den Verteidiger/Mandanten hier der Umstand, dass man auch in dem Fall die Sach- und Rechtslage noch einmal mit dem Mandanten erörtern wollte. Das sollte bei der Rechtsmitteleinlegung beachtet und ggf. ausgeführt werden.