Schlagwort-Archive: Bußgeldverfahren

Pflichti I: 5 x Beiordnungsgründe, oder: Betreuung, OWi, Ausländer, Gesamtstrafe, Beweisverwertungsverbot

© bluedesign – Fotolia.com

Heute dann ein Pflichtverteidigungstag. Ich könnte auch schreiben. Heute ist der Tag des LG Kiel :-). Grund: Ein Kollege aus Kiel hat neulich „die Ecken sauber gemacht“ und mir einige Entscheidungen geschickt, die ich dann dann heute vorstelle. Zum Teil sind sie etwas älter, aber ich bringe sie dennoch.

Ich beginne mit insgesamt fünf Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen (§§ 140 ff. StPO). Ich stelle aber – schon aus Platzgründen nur die Leitsätze vor. Den Rest muss man dann bitte selst lesen. Im Einzelnen handelt es sich um folgende Entscheidungen:

Steht der Angeklagte unter umfassender Betreuung, insbesondere auch in Rechts-/Antrags- und Behördenangelegenheiten, begründet dies erhebliche Zweifel daran, dass sich der Angeklagte selbst verteidigen kann.

    1. Von einer schwierigen Rechtslage ist auszugehen, wenn es bei der Anwendung des materiellen oder formellen Rechts auf die Entscheidung nicht ausgetragener Rechtsfragen ankommt, oder wenn die Subsumtion voraussichtlich aus sonstigen Gründen Schwierigkeiten bereiten wird. Hiervon umfasst sind auch Fälle, in denen sich Fallgestaltungen aufdrängen, ob ein Beweisergebnis einem Verwertungsverbot unterliegt.
    2. Etwaige ausländerrechtliche Folgen im Falle einer Verurteilung sind nicht geeignet, die Beiordnung eines Pflichtverteidigers zu rechtfertigen.
    3. Dass die Verteidigungsfähigkeit der Beschuldigten aufgrund ihrer fehlenden Deutschkenntnisse eingeschränkt ist, reicht für sich allein genommen nicht aus, um die Beiordnung eines Verteidigers zu rechtfertigen.

Gemäß § 140 Abs. 2 StPO liegt ein Fall notwendiger Verteidigung auch vor, wenn wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint. Dies ist anzunehmen, wenn eine Straferwartung von mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe besteht, wobei es in einem Fall möglicher Gesamtstrafenbildung auf die Höhe der zu erwartenden Gesamtstrafe und nicht auf die Straferwartung hinsichtlich der Einzelstrafe aus einem in die Gesamtstrafenbildung einzubeziehenden Verfahren ankommt.

Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge i. S. d. § 140 Abs. 2 StPO ist im Wege einer Gesamtbetrachtung aller ggf. zu erwartenden Rechtsfolgen zu ermitteln. Somit kommt es für die Beurteilung der Gesamtwirkung der Strafe lediglich darauf an, ob im hiesigen Verfahren mit einer (nachträglichen) Gesamtstrafenbildung zu rechnen ist.

Kann die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, dass eine Verurteilung des Betroffenen im (Bußgeld) Verfahren Einfluss bei der Entscheidung über mögliche ausländerrechtliche Konsequenzen für den Betroffenen haben könnte, ist eine Pflichtverteidigerbeiordnung gerechtfertigt.

Notwendige Auslagen nicht zu Lasten der Landeskasse, oder: Willkürlich, wenn keine Begründung

Bild von Arek Socha auf Pixabay

Und als zweite Entscheidung etwas zur Auslagenentscheidung im Bußgeldverfahren, und zwar der VerfGH Berlin, Beschl. v. 27.04.2022 – VerfGH 130/20. Das AG Berlin-Tiergarten hatte ein Verfahren nach § 47 Abs. 2 OWiG eingestellt. Es hat dabei zwar die Kosten des Verfahrens, nicht aber die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Landeskasse auferlegt. Die Entscheidung wurde nicht begründet. Der VerfGH Berlin hat auf die Verfassungsbeschwerde aufgehoben:

„Die Auslegung des Gesetzes und seine Anwendung auf den Einzelfall sind Sache der Fachgerichte und der Nachprüfung durch den Verfassungsgerichtshof grundsätzlich entzogen. Ein Richterspruch verstößt nicht schon dann gegen das Verbot objektiver Willkür, wenn die angegriffene Rechtsanwendung oder das Verfahren fehlerhaft sind. Hinzukommen muss, dass Rechtsanwendung oder Verfahren unter keinem denkbaren Aspekt mehr rechtlich vertretbar sind und sich daher der Schluss aufdrängt, dass die Entscheidung auf sachfremden Erwägungen beruht. Dies ist etwa der Fall, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder der Inhalt einer Norm in krasser Weise missdeutet oder sonst in nicht mehr nachvollziehbarer Weise angewendet wird (BVerfG, Beschlüsse vom 13. Oktober 2015 – 2 BvR 2436/14 – juris Rn. 21; vom 24. September 2014 – 2 BvR 2782/10 – juris Rn. 29).

Dieser materiell-verfassungsrechtliche Prüfungsmaßstab verlangt mit Rücksicht auf die Bindung des Richters an Recht und Gesetz eine Begründung auch letztinstanzlicher Entscheidungen jedenfalls dann und insoweit, als von dem eindeutigen Wortlaut einer Rechtsnorm abgewichen wird und der Grund hierfür sich nicht schon eindeutig aus den den Beteiligten bekannten und für sie ohne Weiteres erkennbaren Besonderheiten des Falles ergibt (BVerfG, Beschluss vom 13. Oktober 2015, a. a. O., Rn. 22).

Nach diesem Maßstab verletzt der Beschluss vom 11. März 2020 hinsichtlich der angegriffenen Auslagenentscheidung das Grundrecht des Beschwerdeführers auf eine willkürfreie Entscheidung gemäß Art. 10 Abs. 1 VvB. Der Beschluss enthält – ungeachtet der vom Beschwerdeführer rechtlich und tatsächlich in Abrede gestellten Verdachtslage einer Ordnungswidrigkeit – keinen Hinweis auf die Rechtsgrundlage der Auslagenentscheidung und auch keinerlei Erwägungen zu den maßgeblichen rechtlichen Gesichtspunkten für eine vom Grundsatz des § 467 Abs. 1 StPO i. V. m. § 46 OWiG abweichende Kostentragung gemäß § 467 Abs. 4 StPO. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass das Amtsgericht sich insoweit von sachfremden Erwägungen hat leiten lassen. Anders als in Fällen, in denen eine Begründung vorhanden ist und auf ihre Vertretbarkeit geprüft werden kann, kann Willkür im Falle des Fehlens einer Begründung schon dann vorliegen, wenn eine andere Entscheidung – hier gerichtet auf die Erstattung notwendiger Auslagen als dem gesetzlichen Regelfall – nahegelegen hätte und eine nachvollziehbare Begründung für das Abweichen hiervon fehlt (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 13. Oktober 2015, a. a. O., Rn. 33; vom 25. Februar 1993 – 2 BvR 251/93 – juris Rn. 4; vgl. zur Frage der Berufungszulassung Beschluss vom 12. März 2008 – 2 BvR 378/05 – juris Rn. 33).

Wird das gerichtliche Verfahren gegen einen Betroffenen nach § 47 Abs. 2 OWiG eingestellt, fallen seine notwendigen Auslagen nach § 467 Abs. 1 StPO i. V. m. § 46 Abs. 1 OWiG grundsätzlich der Staatskasse zur Last. Ausnahmen hiervon sind in § 467 Abs. 2 Satz 2 StPO, § 467 Abs. 3 StPO oder nach § 109a Abs. 2 OWiG geregelt für den Fall, dass der Betroffene Auslagen durch schuldhafte Säumnis, eine unwahre Selbstanzeige oder eine wahrheitswidrige Selbstbelastung verursacht hat oder die Einstellung allein auf einem Verfahrenshindernis beruhte – was vorliegend jeweils erkennbar nicht gegeben war. Zwar kann ein Gericht im Falle einer in seinem Ermessen liegenden Verfahrenseinstellung gemäß § 467 Abs. 4 StPO in Verbindung mit § 46 Abs. 1 OWiG davon absehen, die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Staatskasse aufzuerlegen. Die Entscheidung des Amtsgerichts über die notwendigen Auslagen enthält jedoch keinerlei Erwägungen, weshalb hier von dem gesetzlichen Regelfall des § 467 Abs. 1 StPO abgewichen wurde. Es fehlt schon der Hinweis, auf welcher Rechtsgrundlage die Auslagenentscheidung getroffen wurde. Auch das Anhörungsschreiben vom 26./27. Februar 2020 und der Rügebeschluss vom 29. Juni 2020 enthalten insoweit keinerlei Begründung. Damit ist ein Verstoß gegen das Willkürverbot festzustellen, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich das Amtsgericht von sachfremden Erwägungen hat leiten lassen.

Ob der Beschwerdeführer durch die Auslagenentscheidung des Amtsgerichts in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 15 Abs. 1 VvB verletzt worden ist, bedarf daneben keiner Entscheidung.“

 

OWi III: Nochmals Bindung an den Entbindungsantrag, oder: Nachträgliche Ergänzung des (Protokoll)Urteils

© lhphotos – Fotolia.com

Und im letzten Posting dann noch zwei Entscheidungen zu Verfahrensfragen. Nichts wesentliche Neues, aber man kann mal wieder daran erinnern.

Ich stelle zunächst den OLG Naumburg, Beschl. v. 02.05.2022 – 1 Ws 97/22 – noch einmal zum Entbindungsantrag und zur Verwerfung des Einspruchs (§§ 73, 74 OWiG) vor, und zwar mit folgendem Leitsatz:

Nach § 73 Abs. 2 OWiG hat das Gericht den Betroffenen auf seinen Antrag von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung zu entbinden, wenn er sich zur Sache geäußert oder wenn er erklärt hat, er werde sich in der Hauptverhandlung nicht „weiter“ zur Sache äußern, und seine Anwesenheit zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhaltes nicht erforderlich ist. Die Entscheidung über den Entbindungsantrag steht hierbei nicht im Ermessen des Gerichtes, vielmehr ist es verpflichtet, dem Antrag nachzukommen, sofern die Voraussetzungen des § 73 Abs. 2 OWiG vorliegen.

Und dann noch der BayObLG, Beschl. v. 30.05.2022 – 202 ObOWi 718/22 – mit folgendem Leitsatz:

Die nachträgliche Ergänzung eines Urteils ist grundsätzlich nicht zulässig – und zwar auch nicht innerhalb der Urteilsabsetzungsfrist des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO -, wenn es bereits aus dem inneren Dienstbereich des Gerichts herausgegeben worden ist. Für das Bußgeldverfahren folgt daraus, dass ein vollständig in das Sitzungsprotokoll aufgenommenes, nicht mit Gründen versehenes Urteil, das den inneren Dienstbereich des Gerichts bereits verlassen hat, nicht mehr verändert werden darf, es sei denn, die nachträgliche Urteilsbegründung ist gemäß § 77b Abs. 2 OWiG zulässig.

Auch nichts Neues, Und auch die Formulierung: „Die nach § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 OWiG statthafte und auch sonst zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet und zwingt den Senat auf die (unausgeführte) Sachrüge hin zur Aufhebung des angefochtenen Urteils.“ ist nicht neu, m.E. aber unschön. Wieso: „zwingt“?

 

OWi I: Umfang der Einsicht in Messunterlagen, oder: Was will der Verteidiger mit den Daten „anstellen“?

entnommen wikimedia.org
Urheber Jepessen

In der Wochenmitte dann heute einige Owi-Entscheidungen.

Ich beginne in diesem Posting mit zwei AG-Entscheidungen zum Umfang des Einsichtsrecht in Messunterlagen.

Zunächst ein Beschluss des AG Leer. Das Bemerkenswerte an dem Beschluss ist m.E. das Zitat uralter Rechtsprechung aus 2011. Hier der Leitsatz zu dem AG Leer, Beschl. v. 25.05.2022 – 111 OWi 175/22:

Es besteht grundsätzlich kein Anspruch des Betroffenen auf Beiziehung weiterer, nicht zur Akte gehörender Unterlagen. Nach § 46 Abs. 1 OWiG in Verbindung mit § 147 StPO besteht lediglich das Recht auf Einsicht in die vorliegende Verfahrensakte, nicht jedoch auf eine inhaltliche Gestaltung derselben durch Hinzufügen weiterer Unterlagen.

Ob das alles so richtig ist, was das AG da schreibet, wage ich dann doch zu bezweifeln.

Und als zweite Entscheidung dann der AG Tübingen, Beschl. v. 26.05.2022 – 15 OWi 628/22 – mit folgendem Leitsatz:

Die Einsicht in Informationen, die nicht zur Bußgeldakte gehören, aber dennoch vorhanden sind, kann die Verwaltungsbehörde beschränken, zum Beispiel auf eine Einsicht in den Diensträumen.

Das Bemerkenswerte an dem Beschluss ist die Formulierung: “ Insbesondere ist es nicht zu beanstanden, wenn die Bußgeldbehörde insoweit eine Erklärung verlangt, weshalb sie in die geschützten Belange Dritter eingreifen soll. Der Verteidiger hat im vorliegenden Fall aber gar nicht vorgetragen, was er den mit den grundrechtlich geschützten Daten Dritter anstellen möchte.“

Ah, der „Verteidiger stellt etwas an“ (?), wenn er verteidigt. Bemerkenswert.

OWi I: Selbstbelastungsfreiheit im OWi-Verfahren, oder: Das BVerfG und das Auskunftsverweigerungsrecht

© Klaus Eppele – Fotolia.com

Ich stelle dann heute mal wieder drei OWi-Entscheidungen vor. Derzeit ist es im (straßenverkehrsrechtlichen) Bußgeldverfahren recht ruhig. Hoffentlich nicht die Ruhe vor dem Sturm 🙂 .

Ich beginne mit dem schon etwas älteren BVerG, Beschl. v. 25.01.2022 – 2 BvR 2462/18. Das BVerfG nimmt in ihm zur Selbstbelastungsfreiheit im Bußgeldverfahren Stellung. Folgender Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer des verfassungsgerichtlichen Verfahrens ist geschäftsführender Inhaber eines Speditionsunternehmens. Die Polizei kontrollierte ein Lastfahrzeug seines Unternehmens und stellte dabei fest, dass das Fahrzeug nicht mit Feuerlöschgeräten ausgerüstet war und seit mehr als zwei Jahren keine Nachprüfung eines Kontrollgerätes stattgefunden hatte. Das Unternehmen des Beschwerdeführers wurde „zur Ermittlung des für den Sachverhalt Verantwortlichen“ zur Mitteilung aufgefordert, wer im Sinne des § 9 Abs. 1, Abs. 2 OWiG die für die Einhaltung der gefahrgutrechtlichen Vorschriften im Betrieb verantwortliche und beauftragte Person sei. Es wurde darauf hingewiesen, dass der Unternehmer oder Inhaber des Betriebs gemäß § 9 Abs. 2, Abs. 5 GGBefG zur vollständigen und unverzüglichen Auskunftserteilung verpflichtet sei und die Verletzung dieser Auskunftspflicht gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 3 GGBefG mit einer Geldbuße geahndet werden könne.

Daraufhin teilte eine Fahrzeugführer N mit, er sei die für den Verstoß verantwortliche Person. Hierauf erwiderte die Polizei mit einem an das Unternehmen gerichteten Schreiben, der Fahrzeugführer könne rechtlich nicht der verantwortliche Beförderer sein und habe keine Unternehmenspflichten. Da offensichtlich im Betrieb keine verantwortliche beauftragte Person bestellt sei, sei der Beschwerdeführer als eingetragener Geschäftsführer selbst verantwortlich und werde aufgefordert, seine vollständigen Personalien in den beiliegenden Anhörungsbogen einzutragen und diesen unverzüglich zurückzusenden. Der Beschwerdeführer teilte seine Personalien mit. Zudem gab er an, dass im Betrieb eine verantwortlich beauftragte Person bestellt sei. Da er aber weder sich selbst noch einen Familienangehörigen belasten müsse oder wolle, mache er von seinem „Zeugnisverweigerungsrecht gem. § 9 GGBefG“ Gebrauch.

Gegen den Beschwerdeführer wurde vom AG wegen vorsätzlich nicht erteilter Auskunft gemäß § 9 Abs. 2 und Abs. 5, § 10 Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 2 GGBefG in Verbindung mit § 9 Abs. 2, § 17 OWiG zu einer Geldbuße verurteitl. Die dagegen gerichtete Rechtsbeschwerde hatte beim OLG Bamberg keinen Erfolg. Das BVerfG hat es dann aber „gerichtet“:

„1. Die in Bezug auf die fachgerichtlichen Entscheidungen zulässige und annahmefähige Verfassungsbeschwerde ist begründet. Das Urteil des Amtsgerichts Regensburg vom 14. Juli 2017 (Ziffern 1 und 4 des Tenors) und der Beschluss des Oberlandesgerichts Bamberg vom 26. Juni 2018 verletzen den Beschwerdeführer in seinem Recht auf Selbstbelastungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG sowie aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG.

a) Die Aussagefreiheit des Beschuldigten und das Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung (nemo tenetur se ipsum accusare) sind notwendiger Ausdruck einer auf dem Leitgedanken der Achtung der Menschenwürde beruhenden rechtsstaatlichen Grundhaltung. Denn durch rechtlich vorgeschriebene Auskunftspflichten kann die Auskunftsperson in die Konfliktsituation geraten, sich entweder selbst einer strafbaren Handlung zu bezichtigen oder durch eine Falschaussage gegebenenfalls ein neues Delikt zu begehen oder aber wegen ihres Schweigens Zwangsmitteln ausgesetzt zu werden (vgl. BVerfGE 56, 37 <41>). Der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit ist zum einen im allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG sowie zum anderen im Rechtsstaatsprinzip verankert und wird von dem Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG umfasst (vgl. BVerfGE 38, 105 <113 f.>; 55, 144 <150 f.>; 56, 37 <41 ff.>; 80, 109 <119 ff.>; 95, 220 <241>; 109, 279 <324>; 110, 1 <31>; 133, 168 <201 Rn. 60>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 6. September 2016 – 2 BvR 890/16 -, Rn. 34 m.w.N.). Ein Zwang, durch selbstbelastendes Verhalten zur eigenen strafrechtlichen Verurteilung beitragen zu müssen, wäre mit Art. 1 Abs. 1 GG unvereinbar (vgl. BVerfGE 80, 109 <121>; 95, 220 <241 f.>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 1. Dezember 2020 – 2 BvR 916/11 u.a. -, Rn. 190).

Das Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung umfasst das Recht auf Aussage- und Entschließungsfreiheit im Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren. Dazu gehört, dass im Rahmen des Straf- oder Ordnungswidrigkeitenverfahrens niemand gezwungen werden darf, sich durch seine eigene Aussage einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit zu bezichtigen oder zu seiner Überführung aktiv beizutragen. Der Beschuldigte beziehungsweise Betroffene muss frei von Zwang eigenverantwortlich entscheiden können, ob und gegebenenfalls inwieweit er mitwirkt (vgl. BVerfGE 38, 105 <113>; 56, 37 <43>; 133, 168 <201 Rn. 60>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 6. September 2016 – 2 BvR 890/16 -, Rn. 35).

Aus der Verfassung ergibt sich zwar kein ausnahmsloses Gebot, dass niemand zu Auskünften oder zu sonstigen Handlungen gezwungen werden darf, durch die er eine von ihm begangene strafbare Handlung offenbart (vgl. BVerfGE 56, 37 <42, 49>; BVerfGK 4, 105 <108>; 18, 144 <150>). Handelt es sich um Auskünfte zur Erfüllung eines berechtigten Informationsbedürfnisses, ist der Gesetzgeber befugt, die Belange der verschiedenen Beteiligten gegeneinander abzuwägen. Eine außerhalb des Strafverfahrens erzwungene Selbstbezichtigung ist aber nur dann zulässig, wenn sie mit einem strafrechtlichen Verwertungsverbot einhergeht (vgl. BVerfGE 56, 37 <49 f.>; BVerfGK 4, 105 <108>). Auch bloße Mitwirkungspflichten verletzen das Verbot der Selbstbelastung nicht, wenn durch sie Aussage- und Zeugnisverweigerungsrechte im Ordnungswidrigkeiten- oder Strafverfahren nicht berührt werden (vgl. BVerfGE 55, 144 <150 f.>; BVerfG, Beschluss des Dreierausschusses des Zweiten Senats vom 7. Dezember 1981 – 2 BvR 1172/81 -, juris, Rn. 7; Beschluss des Zweiten Senats vom 1. Dezember 2020 – 2 BvR 916/11 u.a. -, Rn. 310). Daher schützt das Verbot der Selbstbelastung nicht davor, dass Erkenntnismöglichkeiten, die den Bereich der Aussagefreiheit nicht berühren, genutzt werden und insoweit die Freiheit des Betroffenen eingeschränkt wird (vgl. BVerfGE 55, 144 <151>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 1. Dezember 2020 – 2 BvR 916/11 u.a. -, Rn. 310). So betreffen gesetzliche Aufzeichnungs- und Vorlagepflichten nicht den Kernbereich der grundgesetzlichen Selbstbelastungsfreiheit, sondern können zum Schutz von Gemeinwohlbelangen verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein (vgl. BVerfGE 81, 70 <97>; BVerfGK 17, 253 <264>).

Unzumutbar und mit der Würde des Menschen unvereinbar ist aber ein Zwang, durch eigene Aussagen die Voraussetzungen für eine strafgerichtliche Verurteilung oder die Verhängung entsprechender Sanktionen liefern zu müssen (vgl. BVerfGE 56, 37 <49>; BVerfGK 1, 156 <157>; 15, 457 <471>; 17, 253 <264>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 6. September 2016 – 2 BvR 890/16 -, Rn. 35). Die in den jeweiligen Prozessordnungen und sonstigen Gesetzen vorgesehenen Aussageverweigerungsrechte dienen der Verwirklichung des rechtsstaatlichen Grundsatzes, dass niemand gezwungen werden darf, gegen sich selbst auszusagen (vgl. BVerfG, Beschluss des Dreierausschusses des Zweiten Senats vom 7. September 1984 – 2 BvR 159/84 -, S. 2).

Dies gilt sowohl für die strafprozessuale Aussagefreiheit gemäß §§ 136, 163a, 243 Abs. 5 Satz 1 StPO (vgl. BVerfGE 56, 37 <43>), die gemäß § 46 Abs. 1 OWiG auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren Anwendung findet (vgl. Lutz, in: Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Aufl. 2018, § 55 Rn. 15), als auch für das in § 9 Abs. 4 GGBefG normierte Auskunftsverweigerungsrecht (vgl. Begründung des Bundesrates zum Ergänzungsvorschlag zu § 9 <Absatz 4> des Gesetzes vom 6. August 1975, zitiert aus Hole, in: GGBefG Kommentar, 2015, Auszug aus der Loseblattsammlung Busch <Hrsg.>, Gefahrgut für die Praxis, Bd. 2, § 9, S. 95; zur ähnlich konzipierten Regelung in § 4 Abs. 4 FPersG vgl. BVerfG, Beschluss des Dreierausschusses des Zweiten Senats vom 7. September 1984 – 2 BvR 159/84 -, S. 2). Die in § 9 GGBefG angeordnete behördliche Überwachungsbefugnis und die entsprechenden Auskunfts- und Mitwirkungspflichten des Verantwortlichen dienen dem Schutz vor Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die von der Beförderung gefährlicher Güter ausgehen (vgl. Hole, in: GGBefG Kommentar, 2015, Auszug aus der Loseblattsammlung Busch <Hrsg.>, Gefahrgut für die Praxis, Bd. 2, § 9, S. 96 Rn. 1; vgl. auch § 1, S. 29 Rn. 30). Um die Wirksamkeit der Auskunfts- und Mitwirkungspflichten und damit der Überwachungsmaßnahmen sicherzustellen, ist eine Verweigerung der Auskunftserteilung und Mitwirkung grundsätzlich bußgeldbewehrt (vgl. Begründung des Bundesrates zum Ergänzungsvorschlag zu § 10 <neuer Absatz 1 Nr. 5>, zitiert aus: Hole, in: GGBefG Kommentar, 2015, Auszug aus der Loseblattsammlung Busch <Hrsg.>, Gefahrgut für die Praxis, Bd. 2, § 10, S. 116). Jedoch darf der zur Auskunft Verpflichtete nach § 9 Abs. 4 GGBefG die Auskunft auf solche Fragen verweigern, deren Beantwortung ihn oder einen nahen Angehörigen der Gefahr straf- oder ordnungswidrigkeitenrechtlicher Verfolgung aussetzen würde. Damit überträgt die Norm die allgemeinen prozessualen Grundsätze der Zeugenvernehmung auf das Überwachungsverfahren in Bezug auf den an sich auskunftsverpflichteten Verantwortlichen nach § 9 GGBefG (vgl. Hole, in: GGBefG Kommentar, 2015, Auszug aus der Loseblattsammlung Busch <Hrsg.>, Gefahrgut für die Praxis, Bd. 2, § 9, S. 102 Rn. 15). Die Einschränkung der Auskunftspflicht bezieht sich auf Verfahren wegen möglicher Verstöße bei der Beförderung gefährlicher Güter. Deshalb kann der Auskunftspflichtige eine Antwort verweigern, wenn er sich dadurch der Gefahr eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens nach § 10 Abs. 1 GGBefG aussetzen würde (vgl. Hole, in: GGBefG Kommentar, 2015, Auszug aus der Loseblattsammlung Busch <Hrsg.>, Gefahrgut für die Praxis, Bd. 2, § 9, S. 103 Rn. 16, 18).

Nichts anderes ergibt sich aus der von den Fachgerichten herangezogenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 7. September 1984 (vgl. BVerfG, Beschluss des Dreierausschusses des Zweiten Senats vom 7. September 1984 – 2 BvR 159/84 -, S. 2). Zum einen betraf das damals festgesetzte Bußgeld eine verweigerte Herausgabe von Unterlagen und nicht eine verweigerte Auskunft. Gesetzliche Aufzeichnungs- und Vorlagepflichten betreffen den Kernbereich der grundgesetzlichen Selbstbelastungsfreiheit auch dann nicht, wenn die zu erstellenden oder vorzulegenden Unterlagen auch zur Ahndung von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten verwendet werden dürfen. Vielmehr können solche anderweitigen Mitwirkungspflichten nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts namentlich zum Schutz von Gemeinwohlbelangen verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein (vgl. BVerfGK 17, 253 <264>). Zum anderen bestätigt die Entscheidung das nach § 4 Abs. 4 Fahrpersonalgesetz (entspricht § 9 Abs. 4 GGBefG) bestehende Recht, die Auskunft auf solche Fragen zu verweigern, deren Beantwortung den Betroffenen der Gefahr strafgerichtlicher Verfolgung oder eines Verfahrens nach dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten aussetzen würde. Die weiteren Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts bezogen sich auf solche Fragen, mit deren Beantwortung sich der Betroffene nicht selbst belastet.

b) Im vorliegenden Verfahren verstößt die Verurteilung wegen Nichterteilung einer Auskunft gegen den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit.

Der Beschwerdeführer war aufgrund der Gefahr einer ordnungswidrigkeitenrechtlichen Verfolgung wegen eines vorherigen gefahrgutrechtlichen Verstoßes nicht zur Auskunft über seine Verantwortlichkeit verpflichtet. Denn das polizeiliche Auskunftsersuchen diente nicht der allgemeinen Überwachung von gefahrgutbefördernden Transportunternehmen und war damit nicht präventiv auf den Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gerichtet. Vielmehr verfolgte die Polizeiinspektion bereits mit dem ersten Anhörungsschreiben ersichtlich repressive Ziele, namentlich die Verfolgung von zwei zuvor begangenen Ordnungswidrigkeiten. Dies zeigt sich bereits darin, dass schon das erste Anhörungsschreiben vom 15. Dezember 2014 eine Anlage namens „Anhörung wegen einer Ordnungswidrigkeit“ enthielt, das Schreiben den Vorwurf begangener Ordnungswidrigkeiten erhob und eine Belehrung nach § 55 OWiG beigefügt war. Dieses Ordnungswidrigkeitenverfahren richtete sich spätestens mit Schreiben vom 13. Juli 2015 gegen den Beschwerdeführer persönlich, als diesem ein nicht an sein Unternehmen, sondern an ihn persönlich adressiertes Schreiben zur „Anhörung des Betroffenen wegen einer Ordnungswidrigkeit“ bekanntgegeben wurde, wobei die Belehrung nun mit der Belehrung zu § 55 OWiG begann. Im letzten Anhörungsschreiben vom 21. September 2015 teilte die Polizeiinspektion dem Beschwerdeführer mit, dass er selbst als eingetragener Geschäftsführer für die Verstöße nach dem Gefahrgutrecht angezeigt werde, sollte er nicht die Personalien der beauftragten Person mitteilen. Die Polizeiinspektion zog den Beschwerdeführer folglich nach § 9 Abs. 1 Nr. 1 OWiG ernstlich als Täter der verfahrensgegenständlichen Ordnungswidrigkeiten in Betracht. Darüber hinaus zeigt sich der Verfolgungswille der Polizeiinspektion deutlich in der späteren Realisierung dieser Verfolgungsgefahr, als der Beschwerdeführer zeitgleich nicht nur einen Bußgeldbescheid wegen der verweigerten Auskunft, sondern auch wegen der gefahrgutrechtlichen Verstöße in Bezug auf den Feuerlöscher und das Kontrollgerät erhielt. Durch den Erlass dieses Bußgeldbescheids gab die Polizeiinspektion eindeutig zu erkennen, dass sie den Beschwerdeführer als Verantwortlichen für die gefahrgutrechtlichen Verstöße ansah. Das Verfahren gegen den Beschwerdeführer war daher von Beginn an repressiv auf die Verfolgung einer Ordnungswidrigkeit gerichtet, sodass der Beschwerdeführer nicht verpflichtet war, sich im laufenden Ordnungswidrigkeitenverfahren durch das Eingeständnis seiner Verantwortlichkeit für die bußgeldbewehrten Verstöße gegen das Gefahrgutbeförderungsgesetz selbst zu bezichtigen. Darüber hinaus war sein Auskunftsverweigerungsrecht in § 9 Abs. 4 GGBefG gesetzlich verankert.

Die Ausübung dieses Rechts darf nicht – wie hier geschehen – mit einer Geldbuße sanktioniert werden, weil hiervon eine nötigende Wirkung ausgeht und der Betroffene andernfalls gezwungen wäre, zur Vermeidung einer (weiteren) Geldbuße auf sein Auskunftsverweigerungsrecht zu verzichten.

Soweit die Generalstaatsanwaltschaft meint, der Beschwerdeführer habe sich „nur“ im gefahrgutrechtlichen Verfahren in Bezug auf die Feuerlöscher und das Kontrollgerät, nicht aber im auskunftsrechtlichen Verfahren ausdrücklich auf sein Auskunftsverweigerungsrecht berufen, greift dieser Einwand nicht durch. Die eindeutige Erklärung des Beschwerdeführers mit E-Mail vom 25. August 2015, von nun an im Hinblick auf sein Auskunftsverweigerungsrecht zu schweigen und keine weiteren Auskünfte mehr zu erteilen, brauchte nicht bei jedem neuen Anhörungsschreiben „aktualisiert“ zu werden. Darüber hinaus bezog sich das Auskunftsverweigerungsrecht auf den gefahrgutrechtlichen Verstoß in Bezug auf die Feuerlöscher und das Kontrollgerät. In diesem Verfahren hat der Beschwerdeführer berechtigterweise sein Auskunftsverweigerungsrecht ausgeübt.“