Archiv der Kategorie: Ermittlungsverfahren

BtM II: Besitz von BtM und Beleidigung eine Tat?, oder: Enger sachlicher Bezug der Beleidigung zum Besitz

Bild von Alexas_Fotos auf Pixabay

Der zweiten Entscheidung, dem BGH, Beschl. v. 09.11.2022 – 2 StR 368/21 – liegt auch eine Verurteilung u.a. wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zugrunde. Der BGH hat das Verfahren insoweit wegen des Verfahrenshindernisses der anderweitigen Rechtshängigkeit eingestellt:

„1. Das Landgericht hat den Angeklagten im Fall II.1 der Urteilsgründe wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt. Nach den Feststellungen der Strafkammer hatte der Angeklagte am 17. Juli 2018 gegen 21.40 Uhr in einer Gemeinschaftsunterkunft in A. insgesamt 136 Gramm Marihuana mit einem Mindestwirkstoffgehalt von 11,32% in Besitz, 134,65 Gramm davon in seiner Unterhose und den Rest in dem allein von ihm bewohnten Zimmer.

Hinsichtlich von damit im (zeitlichen) Zusammenhang stehenden Beleidigungen von Polizeibeamten stellte die Strafkammer (ergänzend) fest, dass die Staatsanwaltschaft den Angeklagten mit Anklage vom 17. Januar 2019 wegen Beleidigung in zwei Fällen angeklagt und ihm dabei folgenden Sachverhalt zur Last gelegt hatte:

„Am 17.7.2018 zwischen 22.24 Uhr und 22.28 Uhr beleidigte der Angeschuldigte in der Gemeinschaftsunterkunft in A.   die PM’in M. mit den Worten: „Du Pisser, ich ficke Dich, ich ficke dein Leben“, um seine Missachtung auszudrücken.

In der Folge, nämlich zwischen 22.30 und 23.18 Uhr, beleidigte der Angeschuldigte ebenda in A. den PM S. mit den Worten: „Du Wichser, ich hole Dich, verpiss dich du Affe“, um seine Missachtung auszudrücken.“

Nach den weiteren Feststellungen des Landgerichts hatte das Amtsgericht mit Beschluss vom 13. März 2019 dieses Verfahren eröffnet und den Angeklagten nach Durchführung der Hauptverhandlung mit nicht rechtskräftigem Urteil vom 28. März 2019 unter anderem auch wegen Beleidigung in zwei Fällen verurteilt. Der Verurteilung legte das Amtsgericht folgenden Sachverhalt zugrunde:

„Am 17.7.2018 fand in den Abendstunden vor der Gemeinschaftsunterkunft in A. ein Polizeieinsatz statt, nachdem die Polizei seitens des Wachschutzes über Drogenkonsum informiert worden war. Während die Beamten PM’in M. und PM S. gegen 22.25 Uhr vor dem Haus eine Personenkontrolle durchführten, kam der Angeklagte hinzu, wobei er den Beamten gegenüber aggressiv auftrat. Gegenüber der Zeugin M. äußerte er: „Du Pisser, ich ficke dich! Und kurze Zeit später: „Ich ficke dein Leben, ich arbeite mit Bande.“ Er ging zunächst in die Gemeinschaftsunterkunft, kam aber etwa 10-15 Minuten später wieder aus dem Gebäude zurück. Nun fiel den Beamten eine deutliche Beule in seiner Hose und Marihuanageruch auf, weswegen sie sich zu einer Durchsuchung entschlossen. Der Angeklagte wurde wieder aggressiv, schrie Beleidigungen und wedelte mit den Armen, worauf er schließlich zu Boden gebracht wurde. Bei der folgenden Durchsuchung fanden die Zeugen 250 Gramm Marihuana versteckt in der Unterhose des Angeklagten. Während der Maßnahme äußerte er gegenüber dem Zeugen S. „Du Wichser, ich hole Dich. Verpiss dich du Affe“.

2. Die Annahme des Landgerichts, der Aburteilung stehe kein Verfahrenshindernis entgegen, da die (nicht rechtskräftige) Verurteilung des Amtsgerichts Apolda vom 28. März 2019 unter anderem wegen zwei Beleidigungen von Polizeibeamten eine andere prozessuale Tat betreffe, hält einer revisionsgerichtlichen Nachprüfung nicht stand. Jedenfalls die zweite Beleidigung, die nach den amtsgerichtlichen Feststellungen während der Durchsuchung des Angeklagten zur Auffindung von Betäubungsmitteln erfolgt ist, bildet mit dem im landgerichtlichen Verfahren im Raum stehenden Vorwurf des unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge eine prozessuale Tat (§ 264 StPO).

a) Gegenstand der Urteilsfindung ist gemäß § 264 Abs. 1 StPO die in der Anklage bezeichnete Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung darstellt. Tat im Sinne dieser Vorschrift ist ein einheitlicher geschichtlicher Vorgang, der sich von anderen ähnlichen oder gleichartigen unterscheidet und innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschluss vom 13. Februar 2019 – 4 StR 555/18, NStZ 2020, 46; Urteil vom 22. Juni 2006 – 3 StR 79/06, NStZ-RR 2006, 317; Beschluss vom 1. Dezember 2015 – 1 StR 273/15, NJW 2016, 1747). Die Tat als Prozessgegenstand ist dabei nicht nur der in der Anklage umschriebene und dem Angeklagten darin zur Last gelegte Geschehensablauf; vielmehr gehört dazu das gesamte Verhalten des Angeklagten, soweit es mit dem durch die Anklage bezeichneten geschichtlichen Vorgang nach der Auffassung des Lebens ein einheitliches Vorkommnis bildet (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 30. September 2020 – 5 StR 99/20, NStZ-RR 2020, 377, 378; vom 17. Oktober 2019 – 3 StR 170/19, NStZ 2021, 120, 121; Beschluss vom 13. Februar 2019 – 4 StR 555/18, NStZ 2020, 46).

b) Gemessen daran ist hinsichtlich des im Rahmen der Durchsuchung festgestellten Besitzes von Betäubungsmitteln und der dabei begangenen zweiten Beleidigung unabhängig von der Frage der materiell-rechtlichen Konkurrenz von einer prozessualen Tat auszugehen. Dafür spricht nicht nur der nahe zeitliche und räumliche Zusammenhang beider Taten, sondern auch der enge sachliche Bezug der Beleidigung zu der Durchsuchung (vgl. KG StV 2020, 578 zur Annahme einer prozessualen Tat bei Beleidigung eines Polizeibeamten nach Anhalten eines Verkehrsteilnehmers zur Eröffnung eines Ordnungswidrigkeitenvorwurfs). Dabei ist es für die Annahme einer prozessualen Tat nicht erforderlich, dass der Angeklagte damit etwa die Entdeckung des Besitzes von Betäubungsmitteln verhindern wollte. Dass der Angeklagte auch bei anderen Gelegenheiten Polizeibeamte beleidigte, hebt den festgestellten Zusammenhang zwischen Durchsuchung und Beleidigung im konkreten Fall nicht auf. Ein anderes Ergebnis stellte sich insoweit als unnatürliche Aufspaltung eines einheitlich zu betrachtenden Lebensvorgangs dar.

3. Die Rechtshängigkeit des amtsgerichtlichen Verfahrens, das wie festgestellt dieselbe prozessuale Tat betrifft, führt zu einem Verfahrenshindernis für das landgerichtliche Verfahren hinsichtlich der Tat in II.1 der Urteilsgründe.

a) Die Sache ist insoweit am 13. März 2019 durch Eröffnung des Hauptverfahrens beim Amtsgericht anhängig geworden. Dies führte zum Verfahrenshindernis der anderweitigen Rechtshängigkeit, das es ausschließt, dass wegen derselben Tat gegen denselben Beschuldigten ein anderes Verfahren durchgeführt wird (Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO; 65. Aufl., § 156, Rn. 1; § 207, Rn. 13). Die Rechtshängigkeit des – zeitlich gesehen – ersten Verfahrens ist damit Verfahrenshindernis für das zweite Verfahren, das gar nicht eröffnet werden darf und dann, wenn es trotzdem eröffnet worden ist, eingestellt werden muss (BGHSt 22, 185, 186; vgl. auch BGHSt 22, 232, 235). Dies gilt auch noch im Revisionsverfahren (BGHSt 22, 232, 235).

b) Dass das Landgericht (als zur Entscheidung über die Berufung gegen das amtsgerichtliche Urteil vom 28. März 2019 zuständiges Gericht) mittlerweile mit Beschluss vom 7. April 2022 das Verfahren auch hinsichtlich der im Zusammenhang mit der Durchsuchung erfolgten Beleidigung nach § 154 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 StPO eingestellt hat, ist für die zu treffende Entscheidung ohne Bedeutung. Denn dies ändert nichts daran, dass das Landgericht sich des vor ihm erhobenen Vorwurfs des Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge niemals hätte annehmen dürfen. Im Übrigen ist das Landgericht (als Berufungsgericht) nicht gehindert, das Verfahren ggf. wiederaufzunehmen (§ 154 Abs. 5 iVm § 154 Abs. 4 StPO).“

StPO III: Terminsverlegungsantrag wird abgelehnt, oder: Anfechtbarkeit der Entscheidung

Bild von Andreas Lischka auf Pixabay

Ich komme dann zum Tagesschluss noch einmal auf den OLG Oldenburg, Beschl. v. 10.01.2023 1 Ws 6 u. 9/23 – zurück. Denn hatte ich neulich ja schon wegen der „Entpflichtungsfrage“ vorgestellt des Pflichtverteidigers wegen gröblicher Pflichtverletzung.

Die Entscheidung enthält noch eine zweite Thematik, nämlich eine Beschwerde gegen die Ablehnung des Antrags Antrag auf Verlegung eines Berufungshauptverhandlungstermin. Auch insoweit hatte die Beschwerde keinen Erfolg.

„Mit seinem durch Rechtsanwalt pp. angebrachten Rechtsmittel vom 29. Dezember 2022 wendet sich der Angeklagte gegen den Beschluss der Vorsitzenden der 1. kleinen Strafkammer des Landgerichts Aurich vom 22. Dezember 2022, durch den sein Antrag auf Verlegung des Berufungstermins am 11. Januar 2023 zurückgewiesen worden. Diese hat dem als (einfache) Beschwerde anzusehenden Rechtsmittel mit Beschluss vom 30. Dezember 2022 nicht abgeholfen und die Sache dem Senat zur Entscheidung vorgelegt.

Das Rechtsmittel bleibt ohne Erfolg

Nach § 305 Abs. 1 Satz 1 StPO unterliegen Entscheidungen des erkennenden Gerichts, die der Urteilsfindung vorausgehen – abgesehen von hier nicht vorliegenden Ausnahmen -, nicht der Beschwerde durch die Verfahrensbeteiligten. Ob durch diese Bestimmung die Beschwerde des Angeklagten bzw. seines Verteidigers gegen eine Terminsverfügung bereits generell ausgeschlossen ist (so OLG Hamm, Beschluss v. 01.09.2009, NStZ-RR 2010, 283) oder diese allenfalls dann mit der Beschwerde angefochten werden kann, wenn die Entscheidung evident fehlerhaft ist, kann vorliegend dahinstehen.

Denn Letzteres ist nur dann der Fall, wenn eine in rechtsfehlerhafter Ermessensausübung getroffene Entscheidung für einen Angeklagten eine besondere, selbständige Beschwer beinhaltet, weil sein Recht, sich eines Verteidigers seines Vertrauens zu bedienen, beeinträchtigt worden ist, dies leicht zu vermeiden gewesen wäre und die Rechtswidrigkeit der angefochtenen Entscheidung offen-sichtlich ist (vgl. OLG Celle, Beschluss v. 18.11.2011, 1 Ws 453/11, NJW 2012, 246 m.w.N.).

Ein solcher Ausnahmefall ist hier nicht gegeben.

Zwar hat ein Angeklagter grundsätzlich das Recht, sich in einem Strafverfahren von einem Rechtsanwalt seines Vertrauens verteidigen zu lassen. Daraus folgt aber nicht, dass bei jeder Verhinderung des gewählten Verteidigers eine Hauptverhandlung gegen den Angeklagten nicht durchgeführt werden könnte. Die Terminierung ist grundsätzlich Sache des Vorsitzenden. Hierüber und insbesondere über Anträge auf Terminsverlegungen oder -aufhebungen hat er nach pflichtgemäßem Ermessen unter Berücksichtigung der eigenen Terminsplanung, der Gesamtbelastung der Kammer, des Gebots der Verfahrensbeschleunigung und der berechtigten Interessen aller Prozessbeteiligten zu entscheiden (vgl. BGH, Beschluss v. 20.06.2006, 1 StR 169/06, NStZ-RR 2006, 271).

Dem wird die Entscheidung des Vorsitzenden der 1. kleinen Strafkammer gerecht. Der Termin zur Berufungshauptverhandlung am 11. Januar 2023 war bereits mit Verfügung vom 11. Juli 2022 festgesetzt worden. Der Angeklagte hatte hiervon jedenfalls mit Zustellung der Ladung am 9. August 2022 Kenntnis. Die Vertretung des Angeklagten durch Rechtsanwalt pp. war dem Landgericht erst mit Schriftsatz vom 11. November 2022 mitgeteilt worden. Erst mit Schriftsatz vom 19. November 2022 hatte dieser zudem mitgeteilt, am vorgesehenen Termin verhindert zu sein.

Bei dieser Sachlage stellt sich Ablehnung des Verlegungsantrages nicht als ermessensfehlerhaft dar, zumal eine Terminsaufhebung wegen der Arbeitsbelastung der Berufungskammer zu einer erheblichen Verzögerung führen würde.“

StPO II: Nachholung des rechtlichen Gehörs, oder: Rechtsmittel und Verletzung des rechtlichen Gehörs

Bild von Anemone123 auf Pixabay

Als zweite Entscheidung hier dann der schon etwas ältere KG, Beschl. v. 26.08.2021 – 5 Ws 169/21 -, der mir aber jetzt erst vor kurzem zugesandt worden ist.

Das KG nimmt Stellung zur Zulässigkeit und Begründetheit der Beschwerde im sog Nachverfahren nach § 33a StPO und führt dazu aus:

„1. Die Beschwerde ist zulässig.

Das Nachverfahren nach § 33a StPO unterteilt sich in zwei Abschnitte: die Nachholung des rechtlichen Gehörs oder die Ablehnung eines darauf gerichteten Antrages (Nachholungsverfahren) und die Überprüfung des Beschlusses, sofern das rechtliche Gehör nachträglich zu gewähren war (Überprüfungsverfahren). Der Beschwerde unterliegen (nur) im Nachholungsverfahren ergangene Entscheidungen, mit denen die Nachholung des rechtlichen Gehörs abgelehnt worden ist (vgl. Senat, Beschluss vom 7. September 2016 – 5 Ws 75/16 –, juris Rn. 14; KG, Beschluss vom 12. März 2007 – 4 Ws 23/07 –, juris Rn. 4), unabhängig davon, ob die Anhörungsrüge als unzulässig (etwa weil der Antrag unsubstantiiert, das Antragsrecht verwirkt oder die Beschwerde eröffnet sei) oder unbegründet (weil die Entscheidung nicht auf dem Fehler beruhe oder eine Verletzung des rechtlichen Gehörs nicht vorliege) zurückgewiesen worden ist (vgl. Senat, a. a. O.; KG, Beschluss vom 14. Oktober 2015 – 4 Ws 78/15 –, juris Rn. 5; Graalmann-Scheerer in Löwe/Rosenberg, StPO 27. Aufl., § 33a Rn. 27; a. A. OLG Celle, Beschluss vom 1. August 2012 – 1 Ws 290/12 –, juris Rn. 4 f. [Statthaftigkeit der Beschwerde nur bei Ablehnung des Antrags aus formellen Gründen]; OLG Frankfurt, Beschluss vom 5. August 2011 – 3 Ws 530/11 –, juris Rn. 11 ff.; Maul in Karlsruher Kommentar, StPO 8. Aufl., § 33a Rn. 13 [vollständiger Ausschluss der Beschwerde]); denn diese Entscheidungen betreffen allein die verfahrensrechtliche Frage, ob das rechtliche Gehör nachzuholen ist (vgl. Senat, a. a. O.; Graalmann-Scheerer a. a. O.). Das Beschwerdeverfahren beschränkt sich folgerichtig auf die Prüfung, ob die Ablehnung der Durchführung des Nachverfahrens zu Recht ergangen ist (vgl. Senat, a. a. O.; KG, a. a. O.). Der Kontrolle durch das Beschwerdegericht entzogen sind dagegen die im Überprüfungsverfahren ergehenden Beschlüsse, das heißt die aufgrund des (im Nachholungsverfahren) nachträglich gewährten rechtlichen Gehörs getroffenen sachlichen Überprüfungsentscheidungen; denn § 33a StPO eröffnet keinen neuen Rechtszug zur Nachprüfung einer unanfechtbaren Sachentscheidung (vgl. Senat, a. a. O.; KG, a. a. O.; OLG Celle, a. a. O.; Graalmann-Scheerer, a. a. O., § 33a Rn. 26 m. w. N.; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 64. Aufl., § 33a Rn.10).

Danach ist die Beschwerde im vorliegenden Fall statthaft. Das Landgericht hat den Antrag auf Nachholung des rechtlichen Gehörs mit dem angefochtenen Beschluss vom 7. Juni 2021 als unzulässig verworfen; eine erneute Sachprüfung hat nicht stattgefunden.

2. Das Rechtsmittel hat auch in der Sache Erfolg. Das Landgericht hat die Nachholung des rechtlichen Gehörs zu Unrecht abgelehnt; denn der Erlass des Verwerfungsbeschlusses vom 22. März 2021 hat den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör verletzt.

a) Das Gebot des rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, soweit sie nicht nach den Prozessvorschriften ausnahmsweise unberücksichtigt bleiben müssen oder können. Art. 103 Abs. 1 GG ist allerdings erst verletzt, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass das Gericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist. Denn grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Gerichte das von ihnen entgegengenommene Parteivorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben. Sie sind dabei nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen, namentlich nicht bei letztinstanzlichen, mit ordentlichen Rechtsmitteln nicht mehr angreifbaren Entscheidungen. Deshalb müssen, damit ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG festgestellt werden kann, im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22. November 1983 – 2 BvR 399/81 –, juris Rn. 11 m. w. N.). Geht das Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags einer Partei zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, in den Entscheidungsgründen nicht ein, so lässt dies auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen, sofern er nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder aber offensichtlich unsubstantiiert war (zum Ganzen vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 30. Juni 2015 – 2 BvR 433/15 –, juris Rn. 9; 17. Dezember 1998 – 2 BvR 1556/98 –, juris Rn. 10; 19. Mai 1992 – 1 BvR 986/91 –, juris Rn. 39). Die Gewährleistung des Art. 103 Abs. 1 GG beschränkt sich dabei nicht darauf, sich zu dem der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt zu äußern, sondern verbürgt dem Verfahrensbeteiligten auch das Recht, sich zur Rechtslage zu äußern (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 24. Februar 2009 – 1 BvR 182/09 –, juris Rn. 21).

Das Maß der aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör folgenden Erörterungspflicht wird nicht nur durch die Bedeutung des Vortrags der Beteiligten für das Verfahren, sondern auch durch die Schwere eines zur Überprüfung gestellten Grundrechtseingriffs bestimmt (vgl. BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 8. März 2004 – 2 BvR 27/04 –, juris Rn. 18; Senat, a. a. O., Rn. 18; Schmitt, a. a. O., § 34 Rn. 4). Danach wären hier Ausführungen geboten gewesen.

Der mit dem angegriffenen Beschluss des Landgerichts vom 22. März 2021 für rechtmäßig befundene Bestätigungsbeschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 18. Januar 2021 trifft allenfalls für die sichergestellte externe Festplatte Samsung eine endgültige Beschlagnahmeanordnung im Sinne von § 98 Abs. 1 StPO, hinsichtlich der übrigen Speichermedien und des Mini-PCs handelt es sich um eine Bestätigung der vorläufigen Sicherstellung analog § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO, da im Wege der Durchsicht nach § 110 StPO erst ermittelt werden soll, ob auf den sichergestellten Geräten und Datenträgern Daten gespeichert sind, die als Beweismittel von Bedeutung sein können (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 20. September 2018 – 2 BvR 708/18 –, juris Rn. 22). Das Sichtungsverfahren gemäß § 110 StPO wird zwar noch der Durchsuchung zugerechnet, ist jedoch angesichts der fortdauernden Besitzentziehung in seiner Wirkung für den Betroffenen der Beschlagnahme angenähert. Die Beschlagnahme oder Maßnahmen nach § 110 StPO, die nur mittelbar aus der Durchsuchung der Wohn- und Geschäftsräume folgen, unterfallen dabei nicht mehr dem Schutzbereich des Art. 13 Abs. 1 GG, sondern sind, sofern – wie hier – Daten betroffen sind, am Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG (vgl. BVerfG, a. a. O., Rn. 23; Beschluss vom 12. April 2005 – 2 BvR 1027/02 –, juris Rn. 80; Beschluss vom 16. Juni 2009 – 2 BvR 902/06 –, juris Rn. 51) zu messen, weil dieses Recht die Befugnis des Einzelnen gewährleistet, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 20. November 2019 – 2 BvR 31/19 –, juris Rn. 37).

Die gesetzliche Grundlage der Beschränkungen des Art. 2 Abs. 1 GG stellen die §§ 94 ff. StPO dar, die die Sicherstellung und Beschlagnahme von Datenträgern und den hierauf gespeicherten Daten als Beweisgegenstände im Strafverfahren erlauben (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. April 2005, a. a. O., Rn. 98).

Insbesondere im Strafprozessrecht setzt jedoch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dem staatlichen Handeln Grenzen. Dabei muss der besonderen Eingriffsintensität der Sicherstellung und Beschlagnahme von Datenträgern und den darauf vorhandenen Daten Rechnung getragen werden. (vgl. BVerfG, a. a. O., Rn. 106).

b) Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist vorliegend eine Verletzung des rechtlichen Gehörs anzunehmen.

Die Beschlagnahme bzw. die Sicherstellung zum Zwecke der Durchsicht der bei dem Beschwerdeführer aufgefundenen Datenträger und der darauf befindlichen Daten greift in das Recht des Beschwerdeführers auf informationelle Selbstbestimmung ein.

Zwar hat das Landgericht in seinem Beschluss vom 22. März 2021 sich mit dem Beschwerdevortrag betreffend die Eingrenzungsfunktion des Durchsuchungsbeschlusses des Amtsgerichts Hamburg und einer durch die Durchsuchungsbeamten am Ort der Durchsuchung einzuräumenden Möglichkeit der freiwilligen Herausgabe der Beweismittel auseinandergesetzt. Darüber hinaus hatte der Beschwerdeführer jedoch beanstandet, dass die bei dem im Ausgangsverfahren wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung – von der Durchsuchung betroffenen – Nichtverdächtigen sichergestellten Datenträger im Rahmen einer physikalischen Sicherung einer – jedenfalls teilweisen – Sichtung der Daten zu einem Zeitpunkt unterzogen wurden, zu dem der Beschwerdeführer die in dem Durchsuchungsbeschluss aufgeführten Buchführungsunterlagen bereits freiwillig herausgegeben hatte. Die begonnene Durchsicht als Teil der Durchsuchung könnte zu diesem Zeitpunkt aufgrund der zuvor erfolgten freiwilligen Herausgabe der Buchführungsunterlagen als möglicherweise unverhältnismäßiger Eingriff in das Recht des Beschwerdeführers auf informationelle Selbstbestimmung nicht mehr zulässig gewesen sein und ein Verwertungsverbot nach sich gezogen haben.

Der Beschluss des Landgerichts vom 22. März 2021 setzt sich damit nicht auseinander, obwohl sich dies im Hinblick auf die Grundrechtsrelevanz der Maßnahme geradezu aufdrängte.

Das Schweigen des Beschlusses vom 22. März 2021 zu einem der Kernpunkte der Beschwerdebegründung lässt – gerade auch in Anbetracht der Grundrechtsrelevanz der Sicherstellung von Datenträgern im Rahmen einer Durchsuchung bei einem Nichtverdächtigen – auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen. Soweit das diesbezügliche Vorbringen des Beschwerdeführers nach dem Rechtsstandpunkt der Strafkammer unbeachtlich gewesen sein sollte, hätte es im konkreten Fall jedenfalls einer kurzen, für den Beschwerdeführer nachvollziehbaren Darlegung der Rechtsauffassung der Kammer bedurft, um die Auseinandersetzung mit dem Beschwerdevorbringen zu dokumentieren. Der bloße – formelhafte – Satz, es liege kein Verwertungsverbot hinsichtlich der Zufallsfunde vor, genügt hierfür nicht.“

StPO III: Verwertbarkeit einer Bild-Ton-Aufzeichnung, oder: Ist der Zeuge ordnungsgemäß belehrt?

© sss78 – Fotolia.com

Und als dritte StPO-Entscheidung dann noch das BGH, Urt. v. 14.12.2022 – 6 StR 340/21 – u.a. zur Verfahrensrüge betreffend eine Bild-Tonaufzeichnung und zu deren Verwertbarkeit.

Das LG hat den Angeklagten vom Vorwurf des sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in zwei Fällen aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Mit der Anklage hatte die Staatsanwaltschaft dem Angeklagten zur Last gelegt, seinen im Jahre 2013 geborenen Sohn J. im Zeitraum 01.01.2017 bis 30.01.2020 im elterlichen Schlafzimmer sowie in einer Gartenlaube aufgefordert zu haben, am Penis des Angeklagten zu manipulieren, wobei der Junge dem jeweils bis zum Samenerguss nachgekommen sei.

Die Strafkammer hat zu den Anklagevorwürfen keine näheren Feststellungen getroffen. Der Angeklagte hat sich auf sein Schweigerecht berufen. Sein Sohn als einziger unmittelbarer Tatzeuge hat in der Hauptverhandlung das Zeugnis verweigert. Die Bild-Ton-Aufzeichnung seiner ermittlungsrichterlichen Videovernehmung hat die Strafkammer als unverwertbar angesehen.

Gegen den Freispruch hat die Staatsanwaltschaft Revision eingelegt. Sie hat ihre Verfahrensrüge u.a. auf die unzutreffende Annahme eines Beweisverwertungsverbotes gestützt und insoweit die Aufklärungsrüge erhoben. Die Revision hatte keinen Erfolg:

„Den erhobenen Verfahrensrügen bleibt der Erfolg versagt.

1. Die auf die unzutreffende Annahme eines Beweisverwertungsverbotes gestützte Aufklärungsrüge (Verfahrensrüge II.1.a) ist bereits unzulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO).

a) Ihr liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

Auf Antrag der Staatsanwaltschaft wurde der sechsjährige Zeuge J.G. am 21. Februar 2020 ermittlungsrichterlich vernommen; hiervon wurde eine Bild-Ton-Aufzeichnung gefertigt. Der mit Blick auf ein – irrtümlich angenommenes – gemeinsames Sorgerecht des Angeklagten und der Kindsmutter bestellte Ergänzungspfleger hatte tags zuvor schriftlich gegenüber dem Amtsgericht erklärt, dass das Kind von seinem Zeugnisverweigerungsrecht keinen Gebrauch machen werde. Zu Beginn der Vernehmung wurde der Zeuge richterlich auf seine Wahrheitspflicht hingewiesen und ferner wie folgt belehrt: „Und wenn wir jetzt Fragen stellen nach deinem Papa und du sagst, ach, das will ich lieber nicht beantworten, dann sagst du mir das. Dann sagst du mir, das will ich lieber nicht erzählen, okay?“. Anschließend sagte der Zeuge zur Sache aus. Der Verteidiger konnte mittels elektronischer Nachrichten an der Vernehmung aus einem Nebenzimmer mitwirken, in das die Vernehmung audio-visuell übertragen wurde.

Die Kindsmutter, die Zeugin G., erklärte im August 2020 im Rahmen eines familiengerichtlichen Verfahrens zu Protokoll, mit der Verwertung der Bild-Ton-Aufzeichnung der ermittlungsrichterlichen Vernehmung durch das Landgericht einverstanden zu sein. In der Hauptverhandlung vor der Strafkammer wiederholte sie dieses Einverständnis. Dort berief sich indes J.G. nach Belehrung auf sein Zeugnisverweigerungsrecht. Sodann wurde er gefragt, ob er mit Blick auf die fehlerhafte Belehrung bei seiner ermittlungsrichterlichen Vernehmung „bei ordnungsgemäßer Belehrung zu einer Aussage bereit gewesen wäre“.

b) Die Beschwerdeführerin trägt die für eine revisionsgerichtliche Prüfung des Geschehens erforderlichen Tatsachen nicht vollständig vor (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO).

aa) Nach dem Beschwerdevorbringen wäre die Bild-Ton-Aufzeichnung wegen einer rechtsfehlerhaften Belehrung des Zeugen durch den Ermittlungsrichter grundsätzlich unverwertbar.

(1) Zwar steht die nachträgliche Ausübung eines Zeugnisverweigerungsrechts der Verwertung der Bild-Ton-Aufzeichnung einer früheren richterlichen Vernehmung nach § 255a Abs. 2 StPO grundsätzlich nicht entgegen (vgl. BGH, Beschluss vom 26. November 2019 − 5 StR 555/19, NStZ 2020, 181; nicht tragend bereits BGH, Urteil vom 12. Februar 2004 – 3 StR 185/03, BGHSt 49, 72, 83; Beschluss vom 15. Juli 2016 – GSSt 1/16, BGHSt 61, 221, 239; BeckOK StPO/Berg, 45. Ed., § 255a Rn. 11 mwN; LR/Mosbacher, 27. Aufl., § 255a Rn. 21; SK-StPO/Rogall, 5. Aufl., § 52 Rn. 94). Die vernehmungsersetzende Vorführung dieses Beweissurrogats nach § 255a Abs. 2 StPO setzt aber eine vorangegangene ordnungsgemäße Beweiserhebung unter Wahrung der wesentlichen Verfahrensvorschriften voraus (vgl. KK-StPO/Diemer, 9. Aufl., § 255a Rn. 9; KMR/R. Fischer, StPO, 107. Lfg., § 255a Rn. 44; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 255a Rn. 8a). Bei einer richterlichen Zeugenvernehmung, welche in Bild und Ton aufgezeichnet wird (§ 58a StPO), sind deshalb namentlich die rechtlich geschützten Belange des Beschuldigten, etwa seine Gelegenheit zur Mitwirkung (vgl. § 255a Abs. 2 Satz 1 StPO; BGH, Urteil vom 12. Februar 2004 – 3 StR 185/03, aaO S. 82 f.; im Einzelnen KMR/R. Fischer, aaO Rn. 45 ff.), zu wahren. Dies gilt gleichermaßen für Zeugenrechte (vgl. BeckOK StPO/Berg aaO; KK-StPO/Diemer aaO). Denn die rechtlichen Maßgaben des § 255a Abs. 2 StPO stehen im regelungssystematischen Zusammenhang mit § 58a StPO. Dieser ermöglicht unter näher bestimmten Voraussetzungen eine Videodokumentation der Vernehmungsinhalte und ergänzt insoweit die Übrigen – unbeschränkt fortgeltenden – Verfahrensregeln über richterliche Zeugenvernehmungen etwa im Ermittlungsverfahren (vgl. §§ 162, 48 ff. StPO).

Ist die gebotene ordnungsgemäße Zeugenbelehrung nach § 52 Abs. 3 Satz 1 StPO versehentlich unterblieben, kann die Bild-Ton-Aufzeichnung grundsätzlich nicht vernehmungsersetzend eingeführt werden. Über § 255a Abs. 2 StPO kann die aufgezeichnete ermittlungsrichterliche Vernehmung – als Beweissurrogat – eine unmittelbare Zeugenvernehmung in der Hauptverhandlung aus Gründen des Opferschutzes ersetzen. Die Vernehmung durch den Ermittlungsrichter (§ 162 StPO) erweist sich damit gleichsam als vorverlagerter Teil der Hauptverhandlung (vgl. BGH, Urteil vom 12. Februar 2004 – 3 StR 185/03, aaO S. 81 f.). Für diese ist anerkannt, dass eine Zeugenaussage bei versehentlich unterbliebener Zeugenbelehrung oder Einholung einer Zustimmung nach § 52 Abs. 2 StPO – im selben Umfang wie bei § 252 StPO – weder verlesen noch verwertet werden darf (vgl. BGH, Urteile vom 2. März 1960 – 2 StR 44/60, BGHSt 14, 159, 160; vom 10. Februar 2021 – 6 StR 326/20, NStZ-RR 2021, 142, 143). Dies gilt gleichermaßen, wenn die aufgezeichnete ermittlungsrichterliche Vernehmung (§ 58a StPO) die Zeugenvernehmung über § 255a Abs. 2 StPO in der Hauptverhandlung als deren vorverlagerter Teil ersetzen soll. Auch dann fehlt es wegen des Belehrungsmangels an einer wirksamen Disposition des Zeugen im Rahmen der richterlichen Vernehmung über sein Recht aus § 52 Abs. 1 StPO und mithin an einem ordnungsgemäß vorangegangenen Verfahren (vgl. aber zur fehlenden Zustimmung des gesetzlichen Vertreters – nicht tragend – BGH, Urteil vom 12. Februar 2004 – 3 StR 185/03, aaO S. 82 f.).

(2) Hier reichte die dem Zeugen erteilte Belehrung nicht aus, um den Weg zu einer Vorführung der aufgezeichneten Zeugenvernehmung (§ 255a Abs. 2 StPO) zu öffnen. Die Belehrung nach § 52 Abs. 3 StPO erweist sich bereits mit Blick auf den Umfang des Zeugnisverweigerungsrechts aus § 52 Abs. 1 StPO als mangelhaft. Die gewählten Formulierungen legen – auch eingedenk der gebotenen und hier ersichtlich vorgenommenen kindgerechten Fassung – nahe, dass der Zeuge zwar die Antworten auf einzelne Fragen (vgl. § 55 StPO), nicht aber – wie ihm gesetzlich garantiert – die Aussage vollständig verweigern kann. Überdies fehlte es an dem Hinweis an den Zeugen, dass er sein Recht auf Verweigerung des Zeugnisses auch ungeachtet der vom Ergänzungspfleger erteilten Zustimmung ausüben kann.

bb) Der Senat kann die Verwertbarkeit des Beweismittels anhand des Revisionsvortrags allerdings nicht abschließend beurteilen. Die Verwertbarkeitsfrage könnte nämlich anders zu bewerten sein, wenn der Zeuge die Verwertung der Angaben mit der Folge der Heilung des Verfahrensfehlers genehmigt hätte (vgl. BGH, Urteil vom 23. September 1999 – 4 StR 189/99, BGHSt 45, 203, 208; Beschlüsse vom 10. Februar 2015 – 1 StR 20/15, NStZ 2015, 232; vom 25. August 2020 – 2 StR 202/20, NStZ 2021, 58). Hierzu schweigt die Revision; die ohne nähere Erörterungen zusammengestellten Auszüge aus der Sitzungsniederschrift ersetzen den notwendigen Revisionsvortrag nicht.“

Pflichti III: Rückwirkende Bestellung unzulässig?, oder: Wenn schon, dann aber bitte „sauber argumentieren“

Bild von Christian Dorn auf Pixabay

Und zum Tagesschluss dann – wie könnte es anders sein – noch zwei Entscheidungen zur Zulässigkeit der rückwirkenden Beiordnung. Das ist der Dauerbrenner und er wird es wahrscheinlich auch bleiben, wenn nicht der Gesetzgeber oder der BGH – aber da muss man erst mal hinkommen 🙂 – die Frage endlich klären.

Bei den beideb Beschlüssen, die ich hier vorstelle, handelt es sich um den LG Berlin, Beschl. v. 21.12.2022 – 534 Qs 97/22 – und um den AG Neuruppin, Beschl. v. 10.11.2022 – 89 Gs 1790/22. Beide halten die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers für nicht zulässig.

Ich erspare mir, die Beschlüsse hier weiter einzustellen. Denn sie bringen nichts Neues. Allerdings eine Anmerkung muss sein.

Es ist immer „erfrischend“, wenn zu der neuen Rechtslage – die Neuregelung ist seit 2019 in Kraft – mit Rechtsprechung aus den 90-ziger Jahren argumentiert wird, so in beiden Beschlüssen. Das LG Berlin stellt die beiden Auffassungen da und führt aus, dass die Meinung, die die rückwirkende Bestellung für zulässig ist, eine „Mindermeinung“ gewesen sei, was m.E. nicht stimmt. Und dann kommt man zur Ablehnung dieser Mindermeinung auch nach neuem Recht zwar mit dazu ergangener Rechtspechung, unterschlägt aber, dass es reichlich Entscheidungen von LG/AG und auch OLG gibt, die das anders sehen. Nun ja, kann man ja mal vergessen. Aber eine saubere Argumentation/Diskussion ist das nicht.

Das AG Neuruppin macht es nicht viel besser. Es schreibt zu „Mindermeinung“ einfach gar nichts.