Archiv der Kategorie: Ermittlungsverfahren

Divers II: Erkennungsdienstliche Behandlung?, oder: Welche Stärke hat der Anfangsverdacht noch?

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Urheber Fotografie: Frank C. Müller, Baden-Baden

Die zweite Entscheidung, die ich vorstelle, kommt aus dem verwaltungsrechtlichen Bereich, hat aber Bezüge zum Straf(verfahrens)recht. Der OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 27.2.2023 – OVG 1 M 21/22 – äußert sich zur Notwendigkeit einer erkennungsdienstlichen Behandlung nach § 81b Abs. 2 Alt. 2 StPO.

Geklagt wird gegen die Anordnung durch die Polizeibehörde. Der Kläger hatte PKH beantragt, die vom VG nicht bewilligt worden ist. Das OVG sieht das anders und bewilligt:

„Zunächst legt das Verwaltungsgericht für die Beurteilung der Notwendigkeit der erkennungsdienstlichen Behandlung einen zutreffenden rechtlichen Maßstab zugrunde, insbesondere dass – wie hier – in Fällen der Einstellung der Anlasstat nach § 170 Abs. 2 StPO Behörden und Gerichte unter Abwägung des Für und Wider sorgfältig begründen müssen, aus welchen Gründen sie dennoch eine erkennungsdienstliche Behandlung für notwendig halten (stRspr, vgl. zuletzt BVerwG, Urteil vom 27. Juni 2018 – 6 C 39.16 – juris Rn. 21 bis 23).

Das Verwaltungsgericht hat die Notwendigkeit bejaht und sie damit begründet, dass gegen den (minderjährigen) Kläger „in den Jahren 2018 bis 2021 mehrere Ermittlungsverfahren geführt werden mussten. … dass diese Ermittlungsverfahren, darunter insbesondere das den Anlass der Anordnung darstellende Ermittlungsverfahren, wegen Sachbeschädigung an 43 Kraftfahrzeugen, überwiegend auf der Grundlage von § 170 Abs. 2 StPO, eingestellt worden sind und lediglich Ermittlungsverfahren wegen Beleidigung von Polizeivollzugsbeamten zu einer Anklage vor dem Jugendrichter geführt“ hätten. Die Verfahrenseinstellung beruhe nicht auf der Feststellung, dass der Kläger die Straftaten nicht begangen habe, sondern allein darauf, dass sie dem Kläger nicht hätten nachgewiesen werden können. Dass er zur Begehung derartiger Straftaten bereit sei, zeige sich aber an den Angaben des Herrn pp.. Dieser habe erklärt, der Kläger habe, nachdem er sich durch einen Einbruchsdiebstahl in den Besitz einer Axt gebracht habe, vorgeschlagen, bei einem geparkten Golf die Scheibe „einzuhauen“. Nach Angaben des pp. habe der Kläger ihm gegenüber außerdem erwähnt, in einem BVG-Bus randaliert zu haben. Für die Notwendigkeit spreche schließlich, dass gegen den Kläger nach der Anlasstat ein (ohne Auflagen nach § 154 StPO eingestelltes) Ermittlungsverfahren wegen Bedrohung eingeleitet worden sei und wegen der Beleidigung eines Polizeivollzugsbeamten Anklage vor dem Jugendrichter erhoben worden sei.

Die Beschwerde moniert zu Recht, dass das Verwaltungsgericht das Vorliegen eines Restverdachts und eine sich daraus ergebende Notwendigkeit zur Durchführung erkennungsdienstlicher Maßnahmen ungenügend geprüft habe, denn die bisher und im maßgeblichen Zeitpunkt der Bewilligungsreife dem Erstgericht vorliegenden Informationen reichen nicht aus, um die Notwendigkeit einer erkennungsdienstlichen Behandlung abschließend zu beurteilen.

Da die Anfertigung und Aufbewahrung von erkennungsdienstlichen Unterlagen einen gewichtigen Eingriff in die Persönlichkeitssphäre des Betroffenen und dessen Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) darstellt, darf darin nur „soweit“ eingegriffen werden, wie dies zum Schutz öffentlicher Interessen unerlässlich geboten und verhältnismäßig ist. Bei nicht volljährigen Betroffenen sind auch das jugendliche Alter und die möglichen negativen Wirkungen für die weitere Entwicklung des Jugendlichen oder Kindes besonders zu berücksichtigen (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 13. Januar 1999 – 5 B 2562/98 – juris Rn. 17 ff.; Senatsbeschluss vom 3. Dezember 2013 – OVG 1 S 234.13 -, S. 3, n.v.).

Nach diesem Maßstab ist es offen, ob die erkennungsdienstliche Behandlung des Klägers zu Recht angeordnet worden ist. Zwar weist das Verwaltungsgericht zutreffend darauf hin, dass die Einstellung der Anlasstat nicht auf der Feststellung beruhe, dass der Kläger die ihm zur Last gelegten Straftaten nicht begangen habe. Die staatsanwaltschaftliche Einstellungsverfügung führt insoweit aus, der Beschuldigte habe von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht, Tatzeugen und auch sonstige zur Überführung geeignete Beweismittel seien nicht vorhanden, weshalb weitere Nachforschungen keinen Erfolg versprächen. Jedoch fehlt die Notwendigkeit der erkennungsdienstlichen Behandlung nicht erst dann, wenn der Anfangsverdacht, der Anlass zur Einleitung des Ermittlungsverfahrens gegeben hat, vollständig ausgeräumt ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 25. März 2019 – 6 B 163/18, 6 PKH 10/18 – juris Rn. 11). Vielmehr kommt es darauf an, ob sich aus dem (verbliebenen) Ergebnis des Ermittlungsverfahrens (noch) eine Notwendigkeit zur erkennungsdienstlichen Behandlung herleiten lässt.

Dies war zum Zeitpunkt der Bewilligungsreife sowie nach den bisher vorliegenden Unterlagen zweifelhaft. Zwar sprechen der Seriencharakter, die Schadenshöhe und die Zerstörungsweise für eine gesteigerte Gewaltbereitschaft und erhöhte kriminelle Energie des Täters der Anlasstat. Jedoch gab es in dem Ermittlungsverfahren zu keiner Zeit Erkenntnisse darüber, dass der Kläger derartige Zerstörungshandlungen tatsächlich ausgeführt hat. Vielmehr konnte nur der Umstand ermittelt werden, dass der Kläger, der eine kurz zuvor aus einem Gewächshaus entwendete Axt mitführte, den pp. mit Blick auf einen parkenden Golf IV gefragt haben soll: „ey wollen wir die Scheibe einhauen“? Von dieser Idee lies der Kläger jedoch gleich ab, nachdem der pp. abgelehnt hatte. Die aus einer abgegebenen Erklärung geschlossene bloße „Bereitschaft“ zu einer solchen Zerstörungshandlung, wie sie das Verwaltungsgericht annimmt, genügt insofern nicht.

Der Verdacht der angezeigten 45 Sachbeschädigungen beruht damit im Ergebnis nur auf einer Vermutung, was die Staatsanwaltschaft Potsdam offenbar selbst so beurteilt hat. So wird in der vom Kläger erstinstanzlich eingereichten staatsanwaltschaftlichen Verfügung vom 21. Juli 2020 (vgl. S. 5 der Antragsbegründung vom 2. Dezember 2021) ausgeführt: „Bezüglich der angezeigten Sachbeschädigungen enthält der Bericht vom 08.07.2020 allenfalls Vermutungen, dass der Beschuldigte Täter der angezeigten Taten sein könnte. Die Vermutung wird darauf gestützt, dass er bereits einschlägig in Erscheinung getreten ist, sich in Tatortnähe aufhielt und am 26.05.2020 gegen 03.45 Uhr mit einer mitgeführten Axt, …, in jenem Gebiet in pp. angetroffen wurde, in dem zuvor Sachbeschädigungen begangen wurden. Konkrete Anhaltspunkte für eine Täterschaft liegen bislang nicht vor.“

Diese staatsanwaltschaftliche Bewertung hat das Verwaltungsgericht bei seiner Prognose der Erfolgsaussichten der Klage ebenso wenig berücksichtigt wie die Tatsache, dass der Beschuldigte am Ende seiner Vernehmung vom 27. Mai 2020 (S. 7) seine Aussage, der Kläger habe vor etwa zwei Jahren in einem BVG-Bus randaliert, korrigierte und stattdessen angab,, pp. sei das damals mit dem Bus gewesen, der Kläger habe den  pp.  bisher nur nicht verraten.

Soweit das Verwaltungsgericht für die Begründung der Notwendigkeit weiter ganz allgemein andere gegen den Kläger in den Jahren 2018 bis 2021 geführte Ermittlungsverfahren ergänzend heranzieht, hat es nicht berücksichtigt, dass hierzu keinerlei konkrete Erkenntnisse vorlagen. Die Existenz dieser Ermittlungsverfahren lässt sich dem Verwaltungsvorgang nur anhand von mehreren formularmäßigen Auskünften aus dem Zentralen Staatsanwaltschaftlichen Verfahrensregister (ZStV) „ZStV Detailansicht – Personenauskunft (Polizeirecht)“ entnehmen (Bl. 35 bis 48 des Verwaltungsvorgangs), die lediglich Stammdaten zur Person, Aktenzeichen der mitteilenden Behörde, Strafnorm und Tattag enthalten sowie ein Stichwort zum jeweiligen Verfahrensausgang (Einstellung nach § 170 Abs. 2 oder § 154 StPO oder Anklage vor dem Jugendrichter). Die Auskünfte belegen, dass von den insgesamt sieben Ermittlungsverfahren fünf nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt wurden. Ob in diesen Verfahren jeweils überhaupt Anhaltspunkte für einen verbliebenen Restverdacht bestehen, ist anhand der gegenwärtigen Aktenlage nicht zu beurteilen und bedarf ggf. näherer Aufklärung im Klageverfahren.

Lässt sich im Ergebnis bisher kein Restverdacht hinsichtlich der anlassgebenden Sachbeschädigung von 43 Kraftfahrzeugen und der anderen vier nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellten Verfahren feststellen, bleiben lediglich ein nach der Anlasstat gegen den Kläger eingeleitetes Ermittlungsverfahren wegen Bedrohung, dass ausweislich der ZStV-Auskunft ohne Auflagen nach § 154 StPO als unwesentliche Nebenstraftat eingestellt wurde, sowie die Beleidigung eines Polizeivollzugsbeamten, die zu einer Anklage vor dem Jugendrichter führte, übrig. Ungeachtet dessen, dass bislang auch hierfür keine Erkenntnisse über den jeweils konkreten Tatverlauf bzw. -vorwurf vorliegen, könnte es sich bei den Delikten möglicherweise um jugendtypische Verfehlungen aus dem Bagatellbereich handeln, hinsichtlich derer, angesichts des gegenüber Minderjährigen geltenden besonderen Verhältnismäßigkeitsmaßstabes, eine erkennungsdienstliche Behandlung außer Verhältnis stünde. Ob dies zutrifft, ist ggf. im Klageverfahren zu klären.“

Divers I: Fahrtenbuchanordnung und Messung, oder: Kein Zugang zu den Rohmessdaten beim BVerwG

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Und heute dann ein Tag mit „diversen“ 🙂 Entscheidungen. „Divers“ deshlab, weil es quer durch den Garten geht.

Ich beginne mit dem BVerwG, Urt. v. 02.02.2023 – 3 C 14.21 -, von dem dann jetzt der Volltext zur Verfügung steht. Das urteil betrifft eine Fahrtbuchanordnung hat aber Berühungspunkte zum straßenverkehrsrechtlichen Bußgeldverfahren unter dem Stichwort: Zugang zu Rohmessdaten.

Folgender Sachverhalt: Dem Kläger wurde mit Bescheid vom 11.10.2019 eine Fahrtenbuchauflage (§ 31a StVZO) erteilt. Zugrunde lag eine gemessene Geschwindigkeitsüberschreitung um 41 km/h bei erlaubten 80 km/h auf einer Bundesautobahn. Die Messung erfolgte mit dem Gerät Vitronic PoliScan FM 1.

Der Kläger legte Widerspruch ein und bezog sich zur Begründung auf das Urt. des VerfGH des Saarlandes v. 5.7.2019 – LV 7/17. Die Verwertung der Messdaten sei unzulässig, da die zur Überprüfung der Messung notwendigen Rohmessdaten nicht gespeichert worden seien.

Nach erfolglosem Widerspruch nebst Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes wurde Klage erhoben. Das VG hat die Klage abgewiesen, da „als gesichert davon ausgegangen werden“ könne, dass das verwendete Messgerät die Rohmessdaten zuverlässig speichere und eine nachträgliche Überprüfung ermögliche. Der Kläger habe die Daten im Verwaltungsverfahren nicht angefordert; das gehe zu seinen Lasten. Auch verpflichte der Amtsermittlungsgrundsatz die Behörde nicht, das Ergebnis der Geschwindigkeitsmessung „ins Blaue hinein“ zu hinterfragen. Ermittlungen seien erst geboten, wenn der Fahrzeughalter Unstimmigkeiten der Messung aufzeige oder sie sich der Behörde aufdrängen müssten. Dazu müsse er substanziierte Angaben machen. Das sei hier mit dem pauschalen Verweis auf die Rspr. des VerfGH nicht geschehen.

Auch vor dem OVG hatte der Kläger keinen Erfolg. Die Behauptung des Klägers, das Messgerät habe die zur Überprüfung notwendigen Rohmessdaten nicht gespeichert, treffe nicht zu; das habe die Sachaufklärung im Berufungsverfahren ergeben. Der Kläger habe den Datenzugang erst beantragt, als die ihm gegenüber ergangene Anordnung bereits in der Hauptsache erledigt gewesen sei.

Die Revision gegen das Urteil des OVG hat das BVerwG zurückgewiesen. Hier die Leitsätze des BVerwG, die m.E., da die Thematik ziemlich „ausgekaut“ ist, reichen:

  1. Wird eine Fahrtenbuchanordnung auf die mit einem standardisierten Messverfahren ermittelte Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit gestützt, muss das Ergebnis der Geschwindigkeitsmessung von Amts wegen nur überprüft werden, wenn der Adressat der Anordnung plausible Anhaltspunkte für einen Messfehler vorträgt oder sich solche Anhaltspunkte sonst ergeben.
  2. Wendet sich der Adressat einer Fahrtenbuchanordnung gegen die Verwertbarkeit der Geschwindigkeitsmessung mit einem standardisierten Messverfahren, kann er sich nicht mit Erfolg auf die Verweigerung des Zugangs zu bei der Bußgeldstelle gespeicherten Daten berufen, wenn er nicht seinerseits alles ihm Zumutbare unternommen hat, um den gewünschten Zugang von der Bußgeldstelle zu erhalten.

Aufklärung I: Bestand ein Beweisverwertungsverbot?, oder: Vertrauensperson mit Sperrerklärung

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Und heute am Pfingstmontag hier „normales“ Programm. Der ein oder andere wird arbeiten, alle anderen können dann morgen lesen.

Zur Thematik: Ich stelle heute zwei Entscheidungen des BGH vor, die mit Aufklärung und Aufklärungspflicht zu tun haben.

Ich beginne mit dem BGH, Urt. v. 15.02.2023 – 2 StR 270/22 – zur Aufklärungsrüge und zu unzutreffende Annahmer eines Beweisverwertungsverbots.

Das LG hat die Angeklagten in einem Verfahren wegen Verstoßes gegen das BtMG von Verstößen gegen das BtM unter Verurteilung im Übrigen teilfreigesprochen. In dem Verfahren hatte das LKA, nachdem es Hinweise auf einen Handel mit Kokain und Marihuana erhalten hatte, eine Vertrauensperson mit dem Decknamen M auf die Angeklagten angesetzt. M hatte von deneb in drei Fällen Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge erworben. Das LG hatte ein Verwertungsverbot hinsichtlich der Angaben der wegen einer vollumfänglichen Sperrerklärung nicht vernehmbaren Vertrau­ensperson M gegenüber dem Vernehmungsbeamten angenommen. Dagegen die Revision der StA, die erfolgreich war. Der BGh hat umfassen begründet, warum ein Verwertungsverbot nicht bestanden hat.

„2. Die erhobene Aufklärungsrüge ist zulässig. Die Beschwerdeführerin beanstandet, dass sich das Landgericht aus Rechtsgründen gehindert sah, Beweise im Zusammenhang mit der Vertrauensperson M.   zu erheben, wozu es sich ansonsten gedrängt gesehen hätte. Dies genügt.

Die Aufklärungsrüge ist auch begründet. Das Landgericht hat es entgegen § 244 Abs. 2 StPO unterlassen, Beweis über die Angaben der wegen einer vollumfänglichen Sperrerklärung nicht vernehmbaren Vertrauensperson M.  gegenüber dem Vernehmungsbeamten sowie über die Erkenntnisse aus einer mit ihr zusammenhängenden akustischen Überwachung gemäß § 100f StPO zu erheben.

a) Die Angaben der wegen einer vollumfänglichen Sperrerklärung nicht vernehmbaren Vertrauensperson M.  gegenüber dem Vernehmungsbeamten sowie die Erkenntnisse aus einer mit dem Einsatz der Vertrauensperson zusammenhängenden akustischen Überwachung gemäß § 100f StPO sind verwertbar.

Das Landgericht hat in einem Hinweisbeschluss die Angaben der Vertrauensperson M.  gegenüber dem Vernehmungsbeamten sowie die Erkenntnisse aus einer mit dem Einsatz der Vertrauensperson zusammenhängenden akustischen Überwachung gemäß § 100f StPO für nicht verwertbar erklärt. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass der Grundsatz des fairen Verfahrens verletzt sei. Die Vertrauensperson stehe aufgrund der vollumfänglichen Sperrerklärung des Thüringer Innenministeriums für eine konfrontative Befragung durch die Verfahrensbeteiligten nicht zur Verfügung. Aus diesem Grund sei es sowohl der Kammer als auch den Verfahrensbeteiligten verwehrt, sich von der Glaubwürdigkeit der Vertrauensperson einen eigenen Eindruck zu verschaffen. Hinzu komme, dass die Vertrauensperson zumindest auch eingesetzt worden sei, um die Vorschriften über den Verdeckten Ermittler nach §§ 110a ff. StPO zu umgehen. Die Vertrauensperson dürfe nicht gezielt Nachforschungen anstellen, sondern sich nur umhören, um Informationen zu beschaffen, die geeignet seien, einen Anfangsverdacht zu begründen. Darüber hinaus gehende Ermittlungsmaßnahmen, wie die Durchführung von Abhörmaßnahmen, oblägen allein den Ermittlungsbehörden. Das Aufzeichnen von Ausforschungsgesprächen nach § 100f StPO könne nicht auf die Ermittlungsgeneralklausel gestützt werden, da hierfür ein gehobener Verdachtsgrad erforderlich sei.

Dieser Rechtsauffassung ist nicht zu folgen.

aa) Der Einsatz der Vertrauensperson M.  war zulässig. Insbesondere ist eine Umgehung der Vorschriften über den Verdeckten Ermittler gem. § 110a ff. StPO nicht festzustellen.

(1) Der heimliche Einsatz von Personen, die den Beschuldigten befragen, um ihn zu belastenden Äußerungen zu veranlassen, ist jedenfalls dann zulässig, wenn es sich bei der den Gegenstand der Verfolgung bildenden Tat um eine Straftat von erheblicher Bedeutung handelt und wenn der Einsatz anderer Ermittlungsmethoden – für deren Auswahl untereinander wiederum der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gilt – erheblich weniger erfolgversprechend oder wesentlich erschwert wäre. Für die Beantwortung der Frage, wann eine Straftat von erheblicher Bedeutung vorliegt, vermitteln die Kataloge in §§ 98a, 100a, 110a StPO Hinweise; die Aufzählung ist nicht abschließend (BGH, Beschluss vom 13. Mai 1996 – GSSt 1/96, BGHSt 42, 139, 157; vgl. auch BGH, Urteil vom 26. Juli 2007 – 3 StR 104/07, NJW 2007, 3138, 3142).

Dass der Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität vom 15. Juli 1992 (OrgKG) für bestimmte Formen besonders gefährlicher und schwer aufklärbarer Kriminalität den Einsatz Verdeckter Ermittler, der bis dahin auf die Generalklauseln der §§ 161, 163 StPO gestützt wurde, durch Einfügung der §§ 110a ff. StPO im Einzelnen geregelt hat, rechtfertigt nicht den Schluss, dass er die traditionell als zulässig anerkannte Inanspruchnahme anderer Personen ausschließen wollte (BGH, Beschluss vom 13. Mai 1996 – GSSt 1/96, BGHSt 42, 139, 151). Die Kontaktaufnahme solcher anderen Personen mit dem Beschuldigten hat der Gesetzgeber in diesem Gesetz bewusst nicht geregelt. Diese sollte weiterhin zulässig sein (vgl. Gesetzentwurf des Bundesrates, BT-Drucks. 12/989 S. 41).

Soweit Stimmen in der Literatur eine spezielle gesetzliche Regelung über den Einsatz von V-Leuten für erforderlich halten (vgl. Barczak, StV 2012, 182, 186; Gebhard/Hoheisel-Gruler, Kriminalistik 2021, 515, 517; Gercke, StV 2017, 615, 622; Soiné, ZRP 2021, 47 ff.; SSW-StPO/Eschelbach, 5. Aufl., § 110a Rn. 11), sieht der Senat keine Veranlassung, von der bisherigen Rechtsprechung abzuweichen.

(2) Indes sind rechtsstaatliche Grenzen zu beachten, die der vernehmungsähnlichen Befragung von Tatverdächtigen ohne Aufdeckung der Ermittlungsabsicht – wegen ihrer Nähe zum nemo-tenetur-Prinzip – gesetzt sind. Aus dieser Nähe sowie aus dem Rechtsstaatsprinzip, speziell dem Grundsatz des fairen Verfahrens kann sich eine heimliche Befragung im Einzelfall auch unter Berücksichtigung des Gebotes einer effektiven Strafverfolgung als unzulässig erweisen (vgl. Beschluss vom 13. Mai 1996 – GSSt 1/96, BGHSt 42, 139, 156 f.). Als Beispiele aus der Rechtsprechung werden in diesem Zusammenhang ausdrücklich die Fälle erwähnt, dass einem Untersuchungshäftling ein Spitzel in die Zelle gelegt (BGH, Urteil vom 28. April 1987 – 5 StR 666/86, BGHSt 34, 362; vgl. auch Urteil vom 21. Juli 1998 – 5 StR 302/97, BGHSt 44, 129; EGMR, Entscheidung vom 5. November 2002 – 48539/99, – Allan v. Großbritannien – StV 2003, 257, 259 f.) oder das gesprochene Wort verbotswidrig fixiert wurde (BGH, Urteile vom 17. März 1983 – 4 StR 640/82, BGHSt 31, 304, 308; vom 9. April 1986 – 3 StR 551/85, BGHSt 34, 39, 43). Mit dem Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit ist es ebenfalls nicht vereinbar, dem Beschuldigten, der sein Schweigerecht in Anspruch genommen hat, in gezielten, vernehmungsähnlichen Befragungen, die auf Initiative der Ermittlungsbehörden ohne Aufdeckung der Verfolgungsabsicht durchgeführt werden, selbstbelastende Angaben zur Sache zu entlocken (BGH, Urteil vom 26. Juli 2007 – 3 StR 104/07, BGHSt 52, 11, 19). Unzulässig ist es auch, den Beschuldigten zu selbstbelastenden Äußerungen zu drängen (zu verdeckten Ermittlern: BGH, Beschluss vom 18. Mai 2010 – 5 StR 51/10, BGHSt 55, 138, 145; Urteil vom 26. Juli 2007 – 3 StR 104/07, BGHSt 52, 11, 15; Beschluss vom 27. Januar 2009 – 4 StR 296/08, NStZ 2009, 343, 344) oder einem psychologischen Druck gleichkommend zu täuschen (BGH, Beschluss vom 31. März 2011 – 3 StR 400/10, BGHR StGB § 9 Abs. 1 Teilnahme 1).

Eine weitergehende generelle Unverwertbarkeit der Angaben des Beschuldigten gegenüber einer V-Person mit Blick auf §§ 136 Abs. 1, 136a Abs. 1 Satz 1 StPO (so Lagodny, StV 1996, 167, 168; SSW-StPO/Eschelbach, 5. Aufl., § 136 Rn. 23 ff.; § 136a Rn. 9 f. jeweils mwN) ist hingegen abzulehnen, da gerade keine Vernehmung vorliegt und die Aussagefreiheit des Beschuldigten nicht berührt ist. So hat der EGMR eine Verletzung des Rechts auf Selbstbelastungsfreiheit in einem Fall verneint, in welchem es dem Beschuldigten, der sich weder in Haft befand noch bis dahin polizeilich vernommen worden war, freistand, sich mit dem Informanten der Polizei, der das verdeckt geführte Gespräch heimlich aufzeichnete, zu unterhalten (EGMR, Urteil vom 10. März 2009 – 4378/02 – Bykov v. Russland, NJW 2010, 213, 215).

(3) Gemessen daran war der Einsatz der Vertrauensperson zulässig. Es bestand ein Anfangsverdacht aufgrund der Angaben eines Hinweisgebers, dass der Angeklagte S.   seit etwa einem halben Jahr im Raum Erfurt Handel mit Kokain und Marihuana treibe, wobei er regelmäßig über Marihuana im Kilogrammbereich verfüge, das er möglicherweise vom Angeklagten O.  erwerbe. Damit handelte es sich bei der Verdachtstat um eine schwerwiegende Straftat, nämlich um Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge gemäß § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass der Einsatz anderer Ermittlungsmethoden erfolgversprechender gewesen wäre. Die aufgrund des Einsatzes der Vertrauensperson gewonnenen Erkenntnisse sind danach grundsätzlich verwertbar.

Ein aufgrund des nemo-tenetur-Grundsatzes bestehendes Verwertungsverbot besteht ebenfalls nicht. Die Auffassung des Landgerichts, dass eine Vertrauensperson nicht gezielt Nachforschungen anstellen dürfe, ist unzutreffend. Es existieren lediglich die oben genannten Einschränkungen, für deren Vorliegen hier keine Anhaltspunkte bestehen.

bb) Dass die Vertrauensperson wegen der Sperrerklärung nicht in der Hauptverhandlung als Zeuge zur Verfügung stand, hinderte nicht die Verwertung der Angaben, welche die Vertrauensperson im Rahmen einer Vernehmung gemacht hatte.

(1) Das von Art. 6 Abs. 3 Buchst. d EMRK garantierte Recht des Angeklagten auf konfrontative Befragung von Belastungszeugen stellt eine besondere Ausformung des Grundsatzes des fairen Verfahrens nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK dar. Ob die fehlende Gelegenheit für den Angeklagten beziehungsweise seinen Verteidiger, einen Zeugen selbst zu befragen, eine Verletzung des Anspruchs auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK begründet, hängt von einer einzelfallbezogenen Gesamtwürdigung ab (BGH, Urteil vom 13. Januar 2022 – 3 StR 341/21, NStZ 2022, 496, 497 f.; EGMR, Urteil vom 15. Dezember 2015 – 9154/10, Schatschaschwili v. Deutschland, StV 2017, 213, 216 Rn. 100 f.; BVerfG, Beschluss vom 8. Oktober 2009 – 2 BvR 547/08, NJW 2010, 925 f.; BGH, Urteil vom 4. Mai 2017 – 3 StR 323/16, NStZ 2018, 51, 52; Beschlüsse vom 17. März 2010 – 2 StR 397/09, BGHSt 55, 70, 74; vom 29. November 2006 – 1 StR 493/06, BGHSt 51, 150, 154).

Dabei ist nicht nur in Rechnung zu stellen, ob die Nichtgewährung des Konfrontationsrechts im Zurechnungsbereich der Justiz liegt, sondern vor allem auch in den Blick zu nehmen, mit welchem Gewicht die Verurteilung des Angeklagten auf die Bekundungen eines nicht konfrontativ befragten Zeugen gestützt worden ist und ob das Gericht die Unmöglichkeit der Befragung des Zeugen durch den Angeklagten oder seinen Verteidiger kompensiert hat, namentlich durch eine besonders kritische und zurückhaltende Würdigung der Bekundungen des Zeugen (BGH, Urteil vom 13. Januar 2022 – 3 StR 341/21, NStZ 2022, 496, 497 f.; vgl. EGMR, Urteil vom 15. Dezember 2015 – 9154/10, Schatschaschwili v. Deutschland, StV 2017, 213, 217, Rn. 107 ff.; Urteil vom 4. Mai 2017 – 3 StR 323/16, NStZ 2018, 51, 52 ff.; Beschluss vom 26. April 2017 – 1 StR 32/17, NStZ 2017, 602, 603).

Ist die unterbliebene konfrontative Befragung eines Zeugen der Justiz zuzurechnen, kann eine Verurteilung auf dessen Angaben nur gestützt werden, wenn diese durch andere gewichtige Gesichtspunkte außerhalb der Aussage bestätigt werden (BGH, Beschluss vom 29. November 2006 – 1 StR 493/06, BGHSt 51, 150, 155 f.; Urteil vom 25. Juli 2000 – 1 StR 169/00, BGHSt 46, 93, 105 f.).

(2) Gemessen daran durfte das Landgericht nicht von vorneherein die Angaben der Vertrauensperson gegenüber dem Vernehmungsbeamten außer Acht lassen.

Dabei bedarf es keiner Entscheidung, ob eine Verletzung des völkerrechtlich gewährleisteten Konfrontationsrechts im innerstaatlichen Recht lediglich auf der Ebene der Beweiswürdigung zu besonders strengen Beweis- und Begründungsanforderungen führt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Oktober 2010 – 2 BvR 547/08, NJW 2010, 925, 926; BGH, Urteil vom 25. Juli 2000 – 1 StR 169/00, BGHSt 46, 93, 103 ff.; Beschluss vom 29. November 2006 – 1 StR 493/06, BGHSt 51, 150, 157) oder – obwohl verfassungsrechtlich nicht geboten (BVerfG, aaO) – die Unverwertbarkeit von auf einen nicht konfrontativ befragten Zeugen zurückgehender Informationen bewirkt (vgl. BGH, Urteil vom 16. April 2014 – 1 StR 638/13, NStZ-RR 2014, 246, 248; Senat, Beschluss vom 17. März 2010 – 2 StR 397/09, BGHSt 55, 70, 78 f.).

Zwar liegt der Umstand, dass eine konfrontative Befragung nicht durchgeführt werden konnte, vorliegend im Verantwortungsbereich der Justiz, da dieser die Sperrerklärung des Thüringer Innenministeriums zuzurechnen ist. Allerdings sind auch in einem derartigen Fall die Angaben vor dem Vernehmungsbeamten verwertbar, wenn sie durch andere gewichtige Gesichtspunkte außerhalb der Aussage bestätigt werden. Hierfür liegen Anhaltspunkte vor, wie insbesondere die Übergabe der Betäubungsmittel durch die Vertrauensperson an die Polizei am 15. Juni 2020 und am 2. Juli 2020, die Observation des Wohnobjekts des Angeklagten K.   am 2. und 10. Juli 2020, die aufgezeichneten Gespräche zwischen der Vertrauensperson und dem Angeklagten S.   vom 2. und 10. Juli 2020 sowie insbesondere die Erkenntnisse aufgrund des Zugriffs vom 10. Juli 2020 mit der Sicherstellung einer Tasche mit 4.776,06 Gramm Marihuana, die     B.   dem Angeklagten S.   brachte.

cc) Die Aufzeichnung der Gespräche war ebenfalls nicht rechtswidrig, so dass kein Verwertungsverbot hinsichtlich der dadurch erlangten Erkenntnisse vorliegt.

(1) Ein Verwertungsverbot kommt dann in Betracht, wenn das Gespräch zwischen einer Vertrauensperson und dem Tatverdächtigen verbotswidrig fixiert wurde (vgl. BGH, Urteile vom 17. März 1983 – 4 StR 640/82, BGHSt 31, 304, 306 f.; vom 9. April 1986 – 3 StR 551/85, BGHSt 34, 39, 43; Beschluss vom 31. März 2011 – 3 StR 400/10, BGHR StGB § 9 Abs. 1 Teilnahme 1). Im Umkehrschluss folgt daraus, dass eine Verwertung von Gesprächsaufzeichnungen unter Beteiligung einer Vertrauensperson möglich ist, wenn die Aufzeichnung rechtmäßig angeordnet wurde.

(2) Mit Beschluss des Amtsgerichts Erfurt vom 1. Juli 2020 lag eine rechtmäßige Anordnung zum Aufzeichnen des nichtöffentlich gesprochenen Wortes gemäß § 100f StPO vor. Dessen Voraussetzungen waren erfüllt, zumal ein Anfangsverdacht hinsichtlich einer Katalogtat bestand. Auch in einer Gesamtschau mit dem Einsatz einer Vertrauensperson kann eine Unzulässigkeit der Aufzeichnung nicht erkannt werden. Vielmehr kann das Aufzeichnen des nichtöffentlich gesprochenen Wortes gerade dazu dienen sicherzustellen, dass die durch die Vertrauensperson gewonnenen Erkenntnisse rechtlich unbedenklich erlangt wurden, nämlich ohne Zwang oder durch eine – psychologischem Druck gleichkommende – Täuschung.

b) Der Senat kann insbesondere angesichts der von der Revisionsführerin vorgetragenen Inhalte der gemäß § 100f StPO aufgezeichneten Gespräche nicht ausschließen, dass das Landgericht – im Falle der gebotenen Beweiserhebungen – hinsichtlich der am 2. und 10. Juli 2020 begangenen Taten zu einer Verurteilung der Angeklagten S.   und K.   wegen täterschaftlichen bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge sowie hinsichtlich der Tat vom 10. Juli 2020 zu einer solchen Verurteilung auch des Angeklagten O.   gelangt wäre, zumal sich das Landgericht selbst dazu gedrängt gesehen, jedoch aus rechtlich fehlerhaften Erwägungen davon abgesehen hat.

Aufgrund der genannten Beweismittel, die Anhaltspunkte für eine Beteiligung mehrerer Personen an den beiden Betäubungsmittelgeschäften geben, ist in der gebotenen Zusammenschau mit den übrigen Beweismitteln ein Schluss auf ein mittäterschaftliches bandenmäßiges Handeltreiben mit Betäubungsmitteln nicht völlig fernliegend. So deutet der Inhalt des aufgezeichneten Gesprächs vom 2. Juli 2020 darauf hin, dass der Angeklagte S.   die Lieferung von anderen Arten von Betäubungsmitteln nur nach Rücksprache mit anderen Personen verhandeln konnte. Der Angeklagte S.   erklärte hier der Vertrauensperson M.  , dass ihre Anfrage nach weiteren Stoffarten „jetzte gar nicht“ gehe, da er „kein erreicht“ habe. In Zukunft wolle er dies „auch noch mal mit denen“ absprechen. Im Gespräch zwischen der Vertrauensperson M.  und dem Angeklagten O.  , am 10.07.2020 gab dieser zu verstehen, die benötigte Vorbereitungszeit für die Lieferung von 500 Gramm Methamphetamin liege bei einer Woche. Auf die Äußerung der Vertrauensperson, dass sie „längerfristige Geschichten“ suche, entgegnete der Angeklagte O.  , dass „wir auch richtig dafür“ seien. Nach Hinzukommen des gesondert Verfolgten B.   zum Fahrzeug der M.  übernahm dieser die Gesprächsführung, was als weiteres Indiz einer Bandenabrede in Betracht kommt.“

Pflichti II: Entpflichtung des Pflichtverteidigers, oder: Wenn du dich nicht meldest, werfen wir dich raus!

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Als zweite Entscheidung dann ein Beschluss des OLG Celle, mit dem ich erhebliche Probleme habe.

Das OLG hat im OLG Celle, Beschl. v. 02.05.2023 – 5 St 2/22 – in einem Staatsschutzverfahren die Bestellung eines Pflichtverteidigers aufgehoben mit der Begründung – kurz gefasst – kein ordnungsgemäßer Verfahrensablauf – Pflicgtverteidiger meldet sich nicht, auch nicht auf Mahnungen – gewährleistet:

„Die Anklageschrift ist dem Verteidiger aufgrund einer Verfügung des Vorsitzenden vom 6. April 2022 zugestellt worden, das entsprechende Empfangsbekenntnis ging beim Oberlandesgericht am 14. April 2022 ein. Nachdem die Anklageschrift durch den Senat zu Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet worden war, hat der Vorsitzende am 4. Januar 2023 mit der zur Terminabstimmung berechtigten Kanzleimitarbeiterin versucht, Termine zur Durchführung der Hauptverhandlung ab dem 12. April 2023 abzustimmen und dabei zahlreiche weitere Termine zwischen dem 24. April und dem 7. Juli 2023 angefragt. An all diesen Terminen war Rechtsanwalt T. nach Auskunft seiner Kanzleimitarbeiterin verhindert, freie Termine zur Durchführung der Hauptverhandlung und unter Einhaltung der Unterbrechungsfristen des § 229 Abs. 1 StPO wurden erst ab dem 9. Oktober 2023 angeboten und entsprechend abgestimmt. Termine zur (vorherigen) Durchführung eines Erörterungstermins konnte die Kanzleimitarbeiterin nicht zusagen.

Am 7. Januar 2023 hat Rechtsanwalt K. aus der Kanzlei „K.&TA.“ unter Bezugnahme auf die erfolgte Terminvereinbarung den Vorsitzenden angerufen und erklärt, es sei zwischen ihm, Rechtsanwalt T. und dem Angeklagten abgestimmt, dass er, Rechtsanwalt K., die Verteidigung übernehme; er stünde an sämtlichen der abgesprochenen Termine zur Verfügung. Zu der Frage, ob sich der Angeklagte zur Sache einlassen werde, werde er dies nächste Woche mit dem Angeklagten besprechen und sich sodann melden. Eine entsprechende Rückmeldung erfolgte nicht. Eine schriftliche Nachfrage des Vorsitzenden vom 19. Januar 2023, in welcher dieser auch den angekündigten Verteidigerwechsel thematisierte und die der Vorsitzende in Kopie auch Rechtsanwalt T. zur Kenntnisnahme übersandt hatte, hat Rechtsanwalt K. nicht beantwortet. Auch Rechtsanwalt T. hat sich hierzu nicht erklärt.

Am 7. Februar 2023 hat der Vorsitzende auf der Grundlage der zuvor abgestimmten Termine die Verfahrensbeteiligten zu Hauptverhandlung ab dem 9. Oktober 2023 geladen, dabei mehr als zehn weitere und abgesprochene Hautverhandlungstage festgesetzt und zugleich auch die Gerichtsbesetzung gemäß § 222a Abs. 1 S. 2 StPO gegen Empfangsbekenntnis mitgeteilt. Zusammen mit dieser Ladung hat der Vorsitzende Rechtsanwalt T. mitgeteilt, dass Rechtsanwalt K. ihn, den Vorsitzenden, am 6. Januar 2023 telefonisch darüber unterrichtet habe, es sei zwischen ihm, Rechtsanwalt K., sowie Rechtsanwalt T. abgesprochen, dass Rechtsanwalt K. die Verteidigung des Angeklagten übernehme, sich Rechtsanwalt K. anschließend jedoch entgegen seiner Zusage nicht mehr gemeldet und auch eine Nachfrage durch den Vorsitzenden vom 19. Januar 2023 unbeantwortet gelassen habe, weshalb der Vorsitzende davon ausgehe, dass Rechtsanwalt T. auf der Grundlage seiner erfolgten Beiordnung weiterhin als Verteidiger auftreten werde.

Das Empfangsbekenntnis betreffend die Besetzungsmitteilung hat Rechtsanwalt T. nicht zurückgesandt. Mit Schreiben vom 20. Februar 2023 hat der Vorsitzende insgesamt drei Termine für die Durchführung des Erörterungstermins gemäß § 213 Abs. 2 StPO angefragt. Rechtsanwalt T. ließ diese Anfrage unbeantwortet. Auch auf weitere Anfrage mit Schreiben vom 16. März 2023 unter Bezugnahme auf das Schreiben vom 20. Februar 2023 hat Rechtsanwalt T. nicht beantwortet.

Mit Schreiben vom 4. April 2023 hat der Vorsitzende gegen Empfangsbekenntnis Rechtsanwalt T. angeschrieben, auf die Nichtbeantwortung der vorstehend aufgeführten Schreiben bzw. auf die unterbliebene Rücksendung des Empfangsbekenntnisses hingewiesen, angemerkt, dass diese Verhaltensweise der gebotenen sachdienlichen Durchführung des Strafverfahrens entgegenstehe und um Darlegung gebeten, wie künftig die weitere sachdienliche Durchführung des Strafverfahrens sichergestellt werden könne. Zugleich hat er auf die Möglichkeit der Entpflichtung hingewiesen. Das Empfangsbekenntnis wurde zurückgesandt, eine Stellungnahme hat Rechtsanwalt T. bis zu der ihm gesetzten Frist, dem 18. Februar 2023, 12 Uhr, nicht abgegeben.

Dem Angeklagten hat der Vorsitzende dieses Mahnschreiben an Rechtsanwalt T. am 4. April 2023 zur Kenntnisnahme übersandt, er hat hierzu nicht Stellung genommen.

Sämtliche der vorgenannten Schreiben bzw. Beschlüsse sind Rechtsanwalt T. auf einem sicheren Übertragungsweg im Sinne der § 32a ff. StPO übermittelt worden. Adressiert wurden sie sämtlich an sein einziges, ihm gemäß §31a BRAO durch die Bundesrechtsanwaltskammer eingerichtetes elektronisches Anwaltspostfach. Dass die Schreiben über die Justizserver tatsächlich weitergeleitet worden waren, ergibt sich aus der Tatsache, dass bzgl. keines der Schreiben eine sogenannte Fehlermeldung durch das Datenübertragungsprogramm generiert wurde. Dass all diese Schreiben auch im elektronischen Anwaltspostfach eingegangen sind, ergibt sich aus der Tatsache, dass Rechtsanwalt T. auf einzelne Schreiben zumindest insoweit reagierte, als er in zwei Fällen das Empfangsbekenntnis, zuletzt das bzgl. des Mahnschreibens vom 4. April zurückgesandt und auch hierauf nicht reagiert hat. Auch geht der Senat davon aus, dass Rechtsanwalt T. es angezeigt hätte, wenn ihm einzelne der im Mahnschreiben aufgezählten Schreiben nicht zugegangen wären.

II.

1. Das Recht auf Verteidigung gehört zu den wesentlichen Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens. Der Beschuldigte darf entsprechend der zur Interpretation der grundgesetzlichen Menschenwürdegarantie herangezogenen „Objektformel“ des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Beschluss vom 16. Juli 1969 – 1 BvL 19/63, NJW 1969, 1707) nicht Objekt des Verfahrens sein. Ihm muss vielmehr die Möglichkeit gegeben werden, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen (vgl. KK- StPO/Fischer, 9. Aufl., Einleitung, Rn. 204). Seine einfachgesetzliche Ausprägung findet dieser Grundsatz u.a. in § 137 Abs. 1 S. 1 StPO, wonach sich der Beschuldigte in jeder Lage des Verfahrens des Beistands eines Verteidigers bedienen. Art. 6 Abs. 3c EMRK sowie das Rechtsstaatsprinzip garantieren einem Beschuldigten auch, dass er sich durch einen Verteidiger seiner Wahl vertreten zu lassen und unentgeltlich den Beistand eines sogenannten Pflichtverteidigers erhalten kann. In Entsprechung dieser Grundsätze war Rechtsanwalt T. dem Angeklagten durch den Ermittlungsrichter gemäß § 140 Abs. 1 StPO beigeordnet worden.

Die Beiordnung eines Verteidigers dient nach einhelliger Auffassung in Rechtsprechung und Literatur neben den vorstehend umrissenen Interessen des Beschuldigten indes auch dem Zweck, im öffentlichen Interesse dafür zu sorgen, dass der Beschuldigte in den in § 140 Abs. 1 Nr. 1 bis 11 aufgezählten bzw. in den von Abs. 2 erfassten Fällen rechtskundigen Beistand erhält und der ordnungsgemäße Verfahrensablauf gewährleistet ist (vgl. u.a. KK- StPO/Fischer, 9. Aufl., § Rn. 211; BVerfG, Urteil vom 8. April 1975 – 2 BvR 207/75, NJW 1975, 1015, 1016). Die Pflicht zur Gewährleistung eines ordnungsgemäßen Verfahrensablaufs gilt für auch für den Pflichtverteidiger. Auch diese ergibt sich unmittelbar aus der Verfassung selbst. Das in Art. 20 Abs. 3 GG normierte Rechtsstaatsprinzip gebietet die Aufrechterhaltung einer funktionstüchtigen Rechtspflege, ohne die Gerechtigkeit nicht verwirklicht werden kann. In diese Pflichtbindung sind auch Verteidiger einbezogen. Als mit eigenen Rechten und Pflichten versehenes selbstständiges Organ der Rechtspflege sind Strafverteidige nicht Gegner, sondern Teilhaber einer funktionsfähigen Strafrechtspflege (vgl. hierzu Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt, StPO, 64. Aufl., Vor § 137 Rn. 1ff.)

Als Teilhaber in diesem Sinne kommt einem Verteidiger nicht die Vertretung des Angeklagten, sondern dessen Beistand zu. Folglich liegt der Auftrag eines Verteidigers nicht ausschließlich im Interesse des Beschuldigten, sondern auch in der am Prinzip des Rechtsstaats ausgerichteten Strafrechtspflege (BGH, Urteil vom 7. Juli1991 – 4 StR 252/91, BGHSt NJW 1992, 1245). Für die hier maßgebliche Frage nach dem Verhalten eines Verteidigers im Strafverfahren ist aus alledem abzuleiten, dass auch er dafür Sorge zu tragen hat, dass das Verfahren sachdienlich und in prozessual geordneten Bahnen durchgeführt werden kann (BGH aaO).

2. Gemessen an diesen Maßstäben war die Beiordnung von Rechtsanwalt T. aufzuheben. Gemäß § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StPO ist die Bestellung des Pflichtverteidigers aufzuheben, wenn entweder das Vertrauensverhältnis zwischen Verteidiger und Beschuldigtem endgültig zerstört ist oder aus einem sonstigen Grund keine angemessene Verteidigung des Beschuldigten gewährleistet ist. Eine angemessene Verteidigung eines Beschuldigten ist insbesondere dann nicht gewährleistet, wenn sich der Verteidiger grobe Pflichtverletzungen hat zuschulden kommen lässt. Für solch grobe Pflichtverletzungen reichen lediglich unzweckmäßige bzw. gar prozessordnungswidrige Verhaltensweisen nicht aus (vgl. BGH, Beschluss vom 9. August 1988 – 4 StR 222/88, NStZ 1988, 510). Vielmehr müssen Umstände vorliegen, die „den Zweck der Pflichtverteidigung, dem Beschuldigten einen geeigneten Beistand zu sichern und den ordnungsgemäßen Verfahrensablauf zu gewährleisten, ernsthaft“ gefährden (BVerfG, Beschluss vom 14. Oktober 1997 – 2 Bv Q 32/97, NStZ 1998, 46).

Als Ausprägung des verfassungsrechtlichen Rechtsstaatsprinzips finden sich in den einfachgesetzlichen Regelungen nur ganz vereinzelt Vorschriften, die die Rechte (vergleiche etwa §§ 147, 163a Abs. 3, 239, 240 Abs. 2, 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO) noch weniger solche, die Pflichten eines Pflichtverteidigers (§ 14 BORA) normieren. Rechte wie Pflichten des Verteidigers ergeben sich darüber hinaus insbesondere aus seiner gesetzlichen Aufgabenstellung, mithin unter anderem der Gewährleistung eines „ordnungsgemäßen Verfahrensablaufs“.

Diese bestimmen sich nach Erhebung der öffentlichen Klage nach Maßgabe der §§ 199 ff StPO, wonach einem Angeklagten bzw. wie hier dem aufgrund seiner Beiordnung zustellungsbevollmächtigen Verteidiger u.a. die Anklageschrift zuzustellen und der Eröffnungsbeschluss zu übersenden ist. Dass sich Rechtsanwalt T. hierzu jeweils nicht geäußert hat, insbesondere nach Erhalt der Anklage keine Verteidigungsschrift abgegeben hat, ist ebenso wenig zu beanstanden wie seine offenkundig beharrliche und – bei isolierter Betrachtung – unter keinem rechtlich relevanten Gesichtspunkt zu beanstandende Weigerung, mit der Dezernentin der Generalstaatsanwaltschaft zur Klärung der Frage Kontakt aufzunehmen, ob sich der Angeklagte zur Sache einlassen werde oder nicht. Diese Verhaltensweisen sind nicht prozessordnungswidrig, selbst als unzweckmäßig können sie nicht bewertet werden. Insoweit obliegt es einzig dem Verteidiger unter Wahrung der Interessen und Prüfung der Wünsche seines Mandanten, ob es ihm zweckmäßig erscheint, sich im Ermittlungsverfahren auf entsprechende Anfragen bzw. im Zwischenverfahren zur Anklageschrift zu äußern.

a) Mit einem ordnungsgemäßen Verfahrensablauf nicht vereinbar ist hingegen die Tatsache, dass Rechtsanwalt T. sich zu dem ihm mit Schreiben des Vorsitzenden vom 19. Januar 2023 mitgeteilten Sachverhalt, wonach Rechtsanwalt K. einen Verteidigerwechsel angezeigt hat, und anschließend auch auf die ihm mit der Ladungsverfügung vom 7. Februar 2023 übersandte Mitteilung des Vorsitzenden, wonach dieser davon ausgehe, dass er, Rechtsanwalt T., weiterhin die Verteidigung des Angeklagte wahrnehme, nicht erklärt hat.

Es bestehen nämlich keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der durch Rechtsanwalt K. dem Vorsitzenden am 7. Januar 2023 erklärte Verteidigerwechsel – und der damit konkludent in Aussicht gestellte Antrag auf Umbeiordnung – unzutreffend war. Zumal es sich bei Rechtsanwalt K. um den Kanzleikollegen von Rechtsanwalt T. handelt und dieser jenen offenkundig über die abgesprochenen Sitzungstermine unterrichtet hat. Dadurch, dass sich Rechtsanwalt T. nicht zu der Frage des Verteidigerwechsels erklärt hat, entstand ungeachtet der sich aus der Bestellung von Rechtsanwalt T. als Pflichtverteidiger ergebenden und jedenfalls im Falle des § 145 Abs. 4 StPO auch „sanktionierbaren“ Verpflichtung zur Teilnahme an der Hauptverhandlung Ungewissheit darüber, ob dieser weiterhin die Aufgaben des Verteidigers des Angeklagten ausübt. Aufgrund seiner Stellung als Pflichtverteidiger gemäß §§ 140 Abs. 1 StPO bestand für Rechtsanwalt T. die Pflicht, diese durch seine Mitwirkung entstandene Unklarheit durch Beantwortung der Anfrage des Vorsitzenden aufzuklären.

b) Noch schwerer wiegt, dass Rechtsanwalt T. das ihm mit Schreiben vom 7. Februar 2023 übersandte Empfangsbekenntnis bzgl. der Besetzungsmitteilung nicht zurückgesandt hat. Der Verteidiger hat dadurch gegen § 14 BORA verstoßen, wonach ein Rechtsanwalt ordnungsgemäße Zustellungen von Gerichten entgegenzunehmen und das Empfangsbekenntnis mit dem Datum versehen unverzüglich zu erteilen hat.

c) Auch die offenkundige Weigerung, auf die wiederholten Anfragen des Vorsitzenden mit diesem einen Erörterungstermin gemäß § 213 Abs. 2 StPO abzustimmen, ist mit der Pflicht des Verteidigers, einen ordnungsgemäßen Verfahrensablauf zu gewährleisten, nicht zu vereinbaren.

Zwar kann weder der Norm des § 213 Abs. 2 StPO selbst noch sonstigen Regelungen oder gar übergeordneten Verfahrensgrundsätzen eine Verpflichtung des Verteidigers entnommen werden, tatsächlich mit dem Vorsitzenden den „äußeren Ablauf der Hauptverhandlung“ zu erörtern. Nach § 213 Abs. 2 StPO ist der Vorsitzende gehalten („soll“), in besonders umfangreichen erstinstanzlichen Verfahren vor dem Land- oder Oberlandesgericht, in denen die Hauptverhandlung voraussichtlich länger als zehn Tage dauern wird – mithin auch im hiesigen Verfahren, den äußeren Ablauf der Hauptverhandlung mit dem Verteidiger abzustimmen. Mithin gehört zumindest die Offerte des Vorsitzenden an die Verfahrensbeteiligten, einen solchen Termin mit ihnen durchführen, zum ordnungsgemäßen Verfahrensablauf. Aus diesem Umstand und der Stellung von Rechtsanwalt T. als Pflichtverteidiger resultiert auch hier wiederum dessen Pflicht, sich zumindest dahingehend zu erklären, ob ein solcher Termin durchgeführt werden soll und ggf. wann.

d) Mit einem ordnungsgemäßen Verfahrensablauf ebenfalls unvereinbar ist das Schweigen von Rechtsanwalt T. auf das Mahnschreiben des Vorsitzenden vom 4. April 2023. Aufgrund seiner Stellung als Pflichtverteidiger und seiner vorstehend aufgezeigten – auch groben – Pflichtverletzungen war Rechtsanwalt T. verpflichtet, sich u.a. dazu zu erklären, wie jedenfalls künftig die ordnungsgemäße Durchführung des Strafverfahrens sichergestellt werden könne. Dass Rechtsanwalt T. in diesem Fall das Empfangsbekenntnis mit dem Datum versehen und zurückgesandt hat, liegt zur sicheren Überzeugung des Senats einzig in der Tatsache begründet, dass er in dem Mahnschreiben des Vorsitzenden ausdrücklich auf seinen vorangegangenen Verstoß gegen § 14 BORA hingewiesen worden war und einem möglichen Schuldspruch durch das Anwaltsgericht vermeiden wollte, die ihm obliegende Pflicht, seinen Beruf gewissenhaft auszuüben, verletzt zu haben.

e) Bei Betrachtung des bisherigen Verfahrensverlaufs und der gebotenen gesamtwürdigenden Bewertung des Verhaltens von Rechtsanwalt T. ist Folgendes festzustellen.

aa) Rechtswalt T. hat in diesem Verfahren, in dem schwerwiegende Vorwürfe gegen seinen Mandanten erhoben werden und die Hauptverhandlung ansteht, wiederholt die Mitwirkung an der Durchführung einzelner, zum ordnungsgemäßen Verfahrensablauf gehörender Handlungen verweigert.

bb) Auf ein anschließendes Mahnschreiben hat er eine Stellungnahme verweigert.

cc) Aufgrund der Tatsache, dass sich Rechtsanwalt T. zu den ihm aufgezeigten – auch groben – Pflichtverletzungen nicht erklärt hat, bleibt dem Senat einzig die Möglichkeit, das Verhalten von Rechtsanwalt T. auf der Grundlage des Verfahrensverlaufs zu bewerten. Danach geht der Senat davon aus, dass Rechtsanwalt T. nach Erhebung der öffentlichen Klage seiner Verpflichtung, dafür Sorge zu tragen hat, dass das Verfahren sachdienlich und in prozessual geordneten Bahnen durchgeführt werden kann, bewusst nicht nachgekommen ist.

dd) Inwieweit Rechtsanwalt T. hierdurch zugleich in schwerwiegender Weise auch gegen die Interessen des Angeklagten verstoßen haben könnte, diesem eine effektive und an dessen Interessen ausgerichtete Verteidigung zu gewährleisten, kann der Senat offenlassen.“

Langer Rede kurzer Sinn, oder: Kurz gefasst meint/sagt das OLG: Du, Pflichtverteidiger, kommunizierst nicht mit uns und antwortet uns nicht. Das ist eine so grobe Verpflichtung, dass wir mit dir nicht mehr zusammenarbeiten wollen. Denn der Verfahrensablauf ist nicht gesichert.

Ich habe ganz erhebliche Zweifel, ob das richtig ist. Denn, wo steht im Gesetz, dass der Verteidiger mit dem Gericht kommunizieren und auf Anfragen antworten muss? Und wenn er es nicht tut, droht dann das scharfe Schwert der Entpflichtung? M.E. gibt es genügend andere Möglichkeiten, den Ablauf der Hauptverhandlung sicher zu stellen. Man kann z.B. einen Sicherungsverteidiger beiordnen. Etwas fehlt übrigens im Beschluss: Das ist das „Organ der Rechtspflege“, was man in solchen Sachen ja gern aus dem Hut zaubert, in anderen Sachen – insbesondere, wenn es um Gebühren geht – aber gern vergisst.

Pflichti I: Einiges Neues zu den Beiordnungsgründen, oder: Vollstreckung, Einziehung, Schwere der Tat u.a.

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Bevor es dann morgen noch einen „Gebührentag“ gibt und dann das Pfingstwochenende kommt, stelle ich heute erst noch einmal Pflichtverteidigungsentscheidungen vor. Da haben sich seit dem letzten „Pflichti-Tag“ wieder einige angesammelt.

Hier zunächst eine Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, allerdings – wie gewohnt – nur die Leitsätze:

1. In entsprechender Anwendung des § 140 Abs. 2 StPO ist dem Verurteilten auch im Vollstreckungsverfahren ein Verteidiger zu bestellen, wenn die Schwere des Vollstreckungsfalls für den Verurteilten oder besondere Schwierigkeiten der Sach- und Rechtslage im Vollstreckungsverfahren dies gebieten oder der Verurteilte unfähig ist, seine Rechte sachgerecht selbst wahrzunehmen. Dies gilt auch nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019.

2. Zu den Gründen für die Beiordnung eines Pflichtverteidigers im Verfahren über die Reststrafenaussetzung.

1. Aus § 428 Abs. 2 StPO ergibt sich keine ausdrückliche Einschränkung dahingehend, dass der Beiordnungsantrag nicht von einem Rechtsanwalt für die Einziehungsbeteiligte gestellt werden darf.

2. Die Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage (vgl. § 140 Abs. 2 Alt. 3 StPO) beurteilt sich für eine Beiordnung nach § 428 Abs. 2 StPO nicht nach der gesamten Strafsache, sondern nur nach dem Verfahrensteil, den die Einziehungsbeteiligung betrifft.

1. Nach ganz überwiegender Auffassung in der Rechtsprechung ist eine Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe in der Regel Anlass zur Beiordnung eines Verteidigers. Diese Grenze für die Straferwartung gilt auch, wenn sie nur wegen einer Gesamtstrafenbildung erreicht wird.

2. Eine – auch entsprechende – Anwendung des § 141 Abs. 2 S. 3 StPO auf die Fälle des § 141 Abs. 1 StPO ist aufgrund der eindeutigen Systematik des § 141 StPO ausgeschlossen.

Erstrebt die Staatsanwaltschaft mit einer Berufung gegen ein erstinstanzliches Verfahren in einer Parallelsache, in der der Angeklagte bereits schon zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt worden ist, eine (deutlich) höhere Freiheitsstrafe, sodass dem Angeklagten auch im Wege einer (ggf. nachträglichen) Gesamtstrafenbildung mit der Strafe aus einer etwaigen Verurteilung in dem Verfahren, in dem über eine Pflichtverteidigerbestellung zu entscheiden ist, insgesamt ein (deutlich) höherer Freiheitsentzug als ein Jahr drohen würde, ist ihm wegen Schwere der Tat ein Pflichtverteidiger zu bestellen, auch wenn es sich bei der Verurteilung aus dem Verfahren, in dem die Entscheidung zu treffen ist, voraussichtlich nur um eine Geldstrafe handeln wird.

Ist der „Vorgang“ wegen der Aktenführung unübersichtlich ist von einer schwierigen Sach- und Rechtslage auszugehen, deren Bestehen die Beiordnung eines Pflichtverteidigers als geboten erscheinen lassen kann.