Archiv der Kategorie: Ermittlungsverfahren

Pflichti I: Auswechseln des „Pflichti“ in der Revision, oder: Begründung des Antrags und Verfahren

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Und dann heute mal wieder eine Tag mit Pflichtverteidigungsentscheidungen. So ganz viele sind es aber nicht, immerhin aber insgesamt fünf Stück.

Ich beginne hier mit zwei Entscheidungen zur Auswechselung des Pflichtverteidigers, und zwar:

Zu den Fragen der Auswechselung hat noch einmal der BGH im BGH, Beschl. v. 15.01.2024 – 2 StR 124/23 – Stellung genommen. Das LG hat die Angeklagte u.a. wegen Brandstiftung verurteilt. Der im Ermittlungsverfahren bestellte Pflichtverteidiger der Angeklagten hat gegen dieses Urteil Revision eingelegt und das Rechtsmittel mit Verfahrensbeanstandungen und der allgemeinen Sachrüge begründet. dann ist um die Formwirksamkeit gestritten worden (dazu der BGH, Beschl. v. 01.08.2023 – 2 StR 124/23). Der BGH hat Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vor Ablauf der Frist zur Einlegung der Revision gewährt. Der Beschluss ist dem Verteidiger am 13.09.2023 zugestellt worden.

Mit Schreiben vom 22.07.2023 hat die Angeklagte vorgetragen, „sie vertraue ihrem Verteidiger nicht mehr. Sie habe die Revisionsbegründungsschrift erst zwei Tage vor dem Abgabetermin zur Ansicht erhalten, ein vom Landgericht vernommener Zeuge und „eigentliche[r] Täter S. aber schon vierzehn Tage“ vor ihr. S. habe ihrem Verteidiger „am ersten Gerichtstag […] einen gut gefüllten Briefumschlag im Gerichtssaal übergeben“ wollen. Ihr Verteidiger habe erwidert, er solle „den Brief doch bitte an die Kanzlei senden“. Die Revisionsbegründungsschrift des Verteidigers beanstande „nur das zur Gefälligkeit erstellte Brandschutzgutachten […], obwohl das ganze Urteil nur aus Mutmaßungen und Spekulationen“ bestehe. Ein anderer „Strafanwalt“ habe ihr erklärt, „[s]eine Revisionsbegründung auf dieses Urteil wäre dreißig[-] bis vierzigseitig ausgefallen“. Damit konfrontiert habe ihr Verteidiger erklärt, dafür habe er als Pflichtverteidiger keine Zeit. Mit weiterem Schreiben vom 2. September 2023 hat die Angeklagte geäußert, das Vertrauensverhältnis zu ihrem Verteidiger sei „zerstört“. Sie hat gebeten, den Verteidiger „aus dem Verfahren zu entbinden“ und ihr einen „renommierten Anwalt aus L. “ beizuordnen.“ Mit Schreiben vom 30.11.2023 hat sie diese Bitte schließlich dahin präzisiert, sie beantrage nunmehr, ihr Rechtsanwalt L. aus L. beizuordnen.

Der Verteidiger der Angeklagten ist den gegen ihn erhobenen Vorwürfen entgegengetreten. Der BGH hat den Antrag abgelehnt:

„Der Antrag ist unbegründet, da die Voraussetzungen für einen Pflichtverteidigerwechsel gemäß § 143a Abs. 3 und 2 StPO nicht vorliegen.

1. § 143a Abs. 3 StPO, der eine vereinfachte Regelung für den Pflichtverteidigerwechsel im Revisionsverfahren trifft, greift nicht ein. Die Angeklagte hat den Antrag auf Verteidigerwechsel weder bei dem Gericht gestellt, dessen Urteil angefochten ist, § 143a Abs. 3 Satz 2 StPO, noch hat sie innerhalb der Wochenfrist des § 143a Abs. 3 Satz 1 StPO den neu zu bestellenden Verteidiger bezeichnet (vgl. BT-Drucks. 19/13829 S. 49; LR-StPO/Jahn, 27. Aufl., § 143a Rn. 42).

2. Die Voraussetzungen für einen Wechsel des Pflichtverteidigers gemäß § 143a Abs. 2 StPO liegen ebenfalls nicht vor.

Eine endgültige Zerstörung des Vertrauensverhältnisses zum bisherigen Pflichtverteidiger, § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Fall 1 StPO, ist nicht glaubhaft gemacht. Den von der Angeklagten erhobenen Vorwürfen ist der Verteidiger entgegengetreten. Sonstige Belege für die Behauptungen der Angeklagten sind weder vorgetragen noch sonst erkennbar.

Auch sonst ist kein Grund ersichtlich, der einer angemessenen Verteidigung der Angeklagten entgegenstünde und einen Wechsel in der Person des Pflichtverteidigers geböte, § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Fall 2 StPO. Eine angemessene Verteidigung der Angeklagten ist gewährleistet. Der Verteidiger hat auf den Formfehler bei der Übersendung der Revisionsschrift innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist reagiert. Ein über die Kostenentscheidung nach § 473 Abs. 7 StPO hinausgehender Nachteil ist der Angeklagten durch die ursprüngliche Versäumung der Einlegungsfrist nicht entstanden.“

Und die zweite Entscheidung zu der Problematik „Auswechselung“ kommt vom KG. Das hat im KG, Beschl. v.13.12.2023 – 2 Ws 146/23 – auch noch einmal zu den Voraussetzungen Stellung genommen. Die Entscheidung stelle ich aber hier nur mit den Leitsätzen vor, das das KG die Fragen bereits (mehrfach) entschieden hat(te), und zwar:

1. Die Bezeichnung eines neuen Verteidigers ist Voraussetzung für einen Verteidigerwechsels nach § 143a Abs. 3 StPO (vgl. KG, Beschl. v. 09.052023 – 4 Ws 23/23).
2. Die pauschale Begründung des Entpflichtungsantrags eines Beschuldigten mit der Zerstörung des Vertrauensverhältnisses und bereits zuvor unternommenen Versuchen der Entpflichtung des Verteidigers ist nicht geeignet, einen Verteidigerwechsel nach § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO zu rechtfertigen. Voraussetzung der Annahme eines wichtigen Grundes für die Ersetzung des Pflichtverteidigers ist vielmehr, dass konkrete Tatsachen vorgetragen und gegebenenfalls nachgewiesen werden, aus denen sich ergibt, dass eine nachhaltige und nicht zu beseitigende Erschütterung des Vertrauensverhältnisses vorliegt und daher zu besorgen ist, dass die Verteidigung objektiv nicht (mehr) sachgerecht geführt werden kann.

 

beA I: Anwendungsbereich der Formvorschriften, oder: § 32d StPO gilt auch für „gewählte andere Personen“

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Und dann auf in die 9 KW., und zwar mit zwei Entscheidungen zum beA im Strafverfahren.

Ich beginne mit dem KG, Beschl. v. 04.01.2024 – 3 ORs 87/23, der noch einmal Stellung nimmt zum persönlichen Anwendungsbereich des § 32d StPO.

Das LG hat die Berufung der Angeklagten gegen ein Urteil des AG verworfen. Gegen das auf einen form- und fristgerecht eingelegten Einspruch erfolgte amtsgerichtliche Urteil hatte die für die Angeklagte gemäß § 138 Abs. 2 StPO als Wahlverteidigerin „Beiständin“ mit am 17.03.2023 bei Gericht eingegangenem Schriftsatz per Telefax Rechtsmittel eingelegt.

In der Folge hat das LG Berlin Termin zur Berufungshauptverhandlung anberaumt und die Berufung der Angeklagten verworfen. Als weitere Wahlverteidigerinnen hat es gemäß § 138 Abs. 2 StPO L. L. und C. M. zugelassen. Gegen das Urteil hat die Angeklagte am 19.10.2023 persönlich Rechtsmittel eingelegt. Die Revisionsbegründung gegen das am 02.11.2023 zugestellte Urteil ist mit Schriftsatz vom 01.12.2023 durch L. L. per Telefax erfolgt. Das KG hat die Revision der Angeklagten war als unzulässig zu verwerfen.

„1a) Die Revision ist unzulässig, da sie nicht formgerecht im Sinne des § 32d Satz 2 StPO erfolgt ist. Nach § 341 Abs. 1 StPO muss die Revision bei dem Gericht, dessen Urteil angefochten wird, binnen einer Woche nach Verkündung des Urteils eingelegt und gemäß § 345 Abs. 1 Satz 1 StPO binnen eines Monats nach Ablauf dieser Frist begründet werden. Verteidiger und Rechtsanwälte müssen (auch) die Begründung der Revisionsanträge gemäß dem seit dem 1. Januar 2022 geltenden, durch das Gesetz zur Einführung der elektronischen Akte in der Justiz und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs vom 5. Juli 2017 (BGBl. I S. 2208, 2210) eingeführten § 32d S. 2 StPO als elektronisches Dokument übermitteln. Nach dem Gesetzeswortlaut, dem Zusammenhang und insbesondere der Gesetzesbegründung handelt es sich hierbei um eine Wirksamkeitsvoraussetzung der Prozesshandlung; ihre Nichteinhaltung bewirkt die Unwirksamkeit der Erklärung (vgl. BT-Drucks. 18/9416 S. 51; vgl. auch BGH, Beschluss vom 19. Juli 2022 – 4 StR 68/22 –, juris; OLG Oldenburg, Beschluss vom 25. Februar 2022 – 1 Ss 28/22 –, juris; KK-StPO/Graf 9. Aufl., § 32d Rn. 5; Meyer-Goßner/Schmitt StPO 66. Aufl., § 32d Rn. 2).

b) Dem genügt die allein durch Telefax am 1. Dezember 2023 eingelegte Revisionsbegründung nicht, denn die von der Angeklagten gewählte und vom Gericht zugelassene Verteidigerin L. L., die für die Angeklagte das Rechtsmittel begründen konnte, musste dies – ebenso wie Rechtsanwälte – in Form eines elektronischen Dokuments tun. Denn der eindeutige Wortlaut von § 32d StPO sieht die in Satz 2 normierter Verpflichtung gerade nicht nur für Rechtsanwälte, sondern für „Verteidiger und Rechtsanwälte“ vor (vgl. auch BT-Drucks. 18/9416 S. 51: „§ 32 StPO-E beschränkt die Nutzungspflicht von vornherein auf Verteidiger und Rechtsanwälte“). Die Angeklagte hat hier zu Beginn der Hauptverhandlung am 13. Oktober 2023 vor dem Landgericht Berlin ihre (weiteren) Verteidigerinnen gewählt und diese haben die Wahl angenommen. Mit der Genehmigung durch das Landgericht Berlin durch Beschluss vom selben Tag ist das Verteidigungsverhältnis wirksam entstanden (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 138 Rn. 10), unabhängig davon, ob die Wahlverteidigerin entgeltlich oder unentgeltlich für die Angeklagte tätig geworden ist (vgl. Meyer-Goßner-Schmitt, a.a.O., Vor § 137 Rn. 4).

Raum für eine teleologische Reduktion von § 32d S. 1 StPO dahin, Verteidiger, die nicht Rechtsanwälte sind, vom Anwendungsbereich der Norm auszunehmen, besteht nicht. Es ist nicht ersichtlich, dass dieser Personenkreis von der Norm nicht erfasst werden sollte. In der Gesetzesbegründung wird deutlich gemacht, dass dieses besondere Formerfordernis nicht für Beschuldigte, nicht vertretene Nebenkläger und sonstige Verfahrensbeteiligte gelten soll (vgl. BT-Drucks. 18/9416, S. 51). Ausgenommen werden sollte also vor allem der „einfache“ Bürger in seinem Kontakt mit der Strafjustiz, dessen Zugang nicht erschwert werden sollte (vgl. auch BT-Drucks. 18/9416, S. 2 f.) Daraus kann im Umkehrschluss gefolgert werden, dass die am Verfahren beteiligten Beistände von Beschuldigten vollständig erfasst werden sollten. Dafür spricht schließlich auch der Sinn und Zweck der Norm, denn eine elektronische Aktenführung kann nur dann die damit verbundenen Vorteile voll umfänglich entfalten, wenn möglichst alle Prozessbeteiligten ihre Beiträge systemgerecht einreichen (vgl. Senat, Beschluss vom 22. Juni 2022 – 3 Ws (B) 123/22122 Ss 58/22 –, juris; KK-StPO/Graf, a.a.O., § 32d Rn. 1). Folglich sollte der davon ausgenommene Personenkreis möglichst klein bleiben (vgl. Senat, a.a.O.)

a) An dem vorstehenden Ergebnis vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass bereits die Berufung gegen das amtsgerichtliche Urteil vom 10. März 2023 nicht form- und fristgerecht gemäß §§ 314 Abs. 1, 32d S. 2 StPO erfolgt ist. Gegen dieses Urteil ist nämlich ebensowenig wirksam Berufung eingelegt worden, wie gegen das nunmehr angefochtene die Revisionsbegründung wirksam erfolgt ist. Denn die am 17. März 2023 durch die Wahlverteidigerin K. W. per Telefax eingelegte Berufung entsprach ebenfalls nicht den gesetzlich zwingenden Vorschriften und war damit unwirksam. Insoweit wird auf die obigen Ausführungen verwiesen……“

OWi III: Endgültige Rückgabe an Verwaltungsbehörde, oder: Rücknahme des Bußgeldbescheides reicht nicht

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Und dann zum Tagesschluss dann noch der angekündigte AG-Beschluss. Es handelt sich um den AG Dortmund, Beschl. v. 06.02.2024 – 729 OWi-250 Js 2543/23-154/23.

Das AG hat das nach § 69 Abs. 5 Satz 2 OWiG mangels hinreichenden Tatverdachts im Zwischenverfahren endgültig an die Verwaltungsbehörde zurückgegeben:

„Die Verwaltungsbehörde hat einen Bußgeldbescheid erlassen, gegen den der Betroffene rechtzeitig Einspruch eingelegt hat.

Das Amtsgericht hat unter dem Datum vom 12.12.2023 die Akten mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft wegen offensichtlich ungenügender Sachaufklärung an die Verwaltungsbehörde gemäß § 69 Abs. 5 S. 1 OWiG zur weiteren abschließenden Sachaufklärung hinsichtlich der Fahrereigenschaft des Betroffenen und anschließen-den erneuten Entscheidung durch die Verwaltungsbehörde zurückverwiesen.

Die Verwaltungsbehörde hat eine weitere Sachaufklärung nicht durchgeführt. Sie hat über die Staatsanwaltschaft mitgeteilt, der Bußgeldbescheid sei „zurückgenommen“ und die „Akte entnommen“. Dieses Verfahren hat keine rechtliche Grundlage – es ist vielmehr als Nichtdurchführung weiterer Ermittlungen zu werten. Die nunmehr neuerlich notwendige Prüfung ohne Akte hat ergeben, dass noch immer mangels Täteridentifizierung ein hinreichender Tatverdacht nicht besteht. Deshalb war das Verfahren gemäß § 69 Abs. 5 S. 2 OWiG endgültig an die Verwaltungsbehörde zurückzugeben.“

OWi I: Zwei zeitlich nahe beieinander liegende Taten, oder: Wenn ein „Raser“ (?) Glück hat

Und heute dann OWi, und zwar zweimal OLG und einmal AG.

Ich beginne mit dem OLG Stuttgart, Beschl. v. 15.01.2024 – 2 ORbs 23 Ss 769/23. Das OLG hat sich mit der Frage des Strafklageverbrauchs (Art. 103 Abs. 3 GG) auseinandersetzt in einem Fall, in dem dem Betroffenen zwei zeitlich nahe beieinander liegende Geschwindigkeitsüberschreitungen zur Last gelegt worden sind.

Das AG hat den Betroffenen wegen vorsätzlicher Geschwindigkeitsüberschreitung außerhalb geschlossener Ortschaften, begangen am 27.10.2022 um 21.34 Uhr auf der B 27 zwischen Ludwigsburg und Kornwestheim verurteilt. Dort war die Geschwindigkeit auf 80 km/h beschränkt, der Betroffene hatte die Kontrollstelle mit einer Geschwindigkeit von 151 km/h passiert. Das AG hat zudem festgestellt, dass gegen den Betroffenen bereits am 9.12.2022 – rechtskräftig seit 29.12.2022 – eine Geldbuße von 180 € festgesetzt worden, weil er ebenfalls am 27.10.2022 um 21:34 Uhr innerhalb Ludwigsburgs auf der Stuttgarter Straße in Fahrtrichtung Stuttgart auf Höhe des Ortsschilds die dort zulässige Geschwindigkeit von 50 km/h um 30 km/h überschritten hat.

Die gegen die Verurteilung gerichtete Rechtsbeschwerde des Betroffenen hatte Erfolg:

„Das vorliegende Verfahren ist – unter klarstellender Aufhebung des angefochtenen Urteils – durch Beschluss gemäß § 79 Abs. 3 OWiG i. V. m. §§ 354 Abs. 1, 206 a StPO einzustellen, weil die auch in der Rechtsbeschwerdeinstanz von Amts wegen vorzunehmende Prüfung der Verfahrensvoraussetzungen ergeben hat, dass der Verfolgung der dem Betroffenen, in diesprrj.V9rfghrqn zur, Last gelegten Tat ein Verfahrenshindernis entgegensteht.

1. Der aus dem Fahreignungsregister ersichtliche – rechtskräftige Bußgeldbescheid der Stadt Ludwigsburg vom 9. Dezember 2022 entfaltet nach dem Grundsatz aus Art. 103 Abs. 3 GG eine Sperrwirkung, welche die Verfolgung des dem Betroffenen in diesem Verfahren zur Last gelegten Tatvorwurfes ausschließt. Die den Gegenstand des vorliegenden Bußgeldverfahrens bildende Tat ist im verfahrensrechtlichen Sinn identisch mit der Tat, die mit Bußgeldbescheid des Stadt Ludwigsburg vom 9. Dezember 2022 wegen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften zur Last gelegt worden ist und wegen der gegen den Betroffenen – rechtskräftig – eine Geldbuße von 180 € festgesetzt worden ist. Die – unzulässigerweise – in zwei gesonderten Bußgeldverfahren verfolgten Verkehrsverstöße stellen sich verfahrensrechtlich als eine Tat L S. des § 264 StPO dar.

Der Begriff der Tat im gerichtlichen Verfahren in Bußgeldsachen deckt sich mit dem für das Strafverfahren maßgeblichen Tatbegriff des Art. 103 Abs. 3 GG (vgl. BayObLGSt 1974, 58 f.; 2001, 134 f.). Er bezeichnet ein konkretes Geschehen, das einen einheitlichen geschichtlichen Vorgang bildet und Merkmale enthält, die es von denkbaren anderen ähnlichen oder gleichartigen Vorkommnissen unterscheidet und umfasst das gesamte Verhalten des Täters, soweit dieses nach der natürlichen Auffassung des Lebens eine Einheit bildet (vgl. BayObLGSt 2001, 134 f.; OLG Hamm, Beschluss vom 09.06.2009 – 5 Ss OWI 297/09 -; Meyer-Goßner, StPO, 66. Aufl., § 264 Rdnr. 2 f.). Dabei können auch mehrere, materiell-rechtlich tatmehrheitlich begangene Handlungen als eine Tat i. S. des § 264 StPO anzusehen sein, wenn die einzelnen Handlungen nach dem Ereignisablauf zeitlich, räumlich und innerlich so miteinander verknüpft sind, dass sich ihre getrennte Würdigung und Ahndung als unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebensvorganges darstellen würde (vgl. OLG Hamm a. a. 0.; BayObLGSt 2001, 134 f.; BVerfGE 45, 434 f.; BGHSt 23, 141 f.; Meyer-Goßner a. a. O.).

Allerdings stellen sich nicht alle Vorgänge, die sich auf einer Fahrt ereignen, als einheitlicher Lebenssachverhalt dar. In der Rechtsprechung der Obergerichte ist anerkannt – von Ausnahmen abgesehen -, dass verschiedene auf einer Fahrt begangene Ordnungswidrigkeiten nicht schon dadurch zu einer prozessualen Tat zusammengefasst werden, dass sie auf derselben Fahrt begangen worden sind. Vielmehr ist mit dem Ende eines bestimmten Verkehrsvorganges, der durch einen anderen abgelöst wird, in der Regel das die Tat bildende geschichtliche Ereignis abgeschlossen (vgl. OLG Düsseldorf, VRS 67, 129, VRS 71, 375, VRS 75, 360; BayObLG NZV 1994, 448; OLG Köln, NZV 1994, 292; OLG Hamm, DAR 1974, 22).

Die maßgebliche Beurteilung, ob ein bestimmter Verkehrsvorgang abgeschlossen ist, ist Tatfrage. Entscheidend für die Beurteilung sind jeweils die Umstände des Einzelfalles. Erst unter Bewertung dieser Umstände ist im Einzelfall einzuschätzen, ob nach der „natürlichen Auffassung des Lebens“ mehrere Verstößen demselben Verkehrsvorgang zuzuordnen sind und damit eine einheitliche Tat im verfahrens-rechtlichen Sinne vorliegt.

Maßgeblich sind für die Beurteilung insbesondere der zeitliche und räumliche Zusammenhang zwischen den Verkehrsverstößen und die zugrunde liegende Pflichtenlage in Bezug auf den konkreten Verkehrsverstoß. Wichtiges Kriterium für die Verneinung oder Bejahung eines einheitlichen Tatgeschehens ist auch die Frage, ob beide Verkehrsverstöße in subjektiver Hinsicht auf der gleichen Willensrichtung des Betroffenen beruhen (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 25.10.2011, NZV 2012. 196 f. m.w.N.).

Legt man diese Maßstäbe bei der Beurteilung des vorliegenden Falles zugrunde, ergibt sich Folgendes:

Beide Vorgänge sind zeitlich aufs Engste verknüpft. Den Feststellungen ist zu entnehmen, dass der Betroffene am 27. Oktober 2022 um 21:34 Uhr das Ortsschild am Ausgang der Stadt Ludwigsburg in Fahrtrichtung Kornwestheim passierte und in der selben Minute, also – da die Tatzeiten nur nach Minuten und nicht auch nach Sekunden festgestellt worden sind – maximal 59 Sekunden später, in gleicher Fahrtrichtung die Messstelle nach der Abfahrt Autokino.

Beide Vorgänge sind demselben Verkehrsvorgang zuzuordnen, nämlich dem (pflichtwidrig stark beschleunigten) Geradeausfahren zwischen den Messstellen. Eine Änderung dieses beschleunigten Geradeausfahrens ist nicht ersichtlich. Lediglich die äußere Situation, nämlich die geltende Geschwindigkeitsregelung, änderte sich. Die beiden Verkehrsverstöße sind auch in subjektiver Hinsicht eng miteinander verbunden, denn beide Geschwindigkeitsverstöße beruhen bei Betrachtung der gemessenen Geschwindigkeiten und der zurückgelegten Wegstrecke ersichtlich auf dem Willen des Betroffenen, den Verkehrsvorgang des Geradeausfahrens möglichst schnell abzuschließen. Dass der Betroffene in Umsetzung dieses Willens ohne weitere Fahrmanöver ab dem ersten Geschwindigkeitsverstoß weiter beschleunigt hat, drängt sich auf.

Der von der Generalstaatsanwaltschaft dargelegten zwischenzeitlichen (rechtlichen) Veränderung der Verkehrssituation kommt in diesem Fall angesichts des äußerst engen zeitlichen und auch räumlich relativ engen Zusammenhangs und des verbindenden subjektiven Elementes keine durchgreifende Bedeutung zu.“

Geht man davon aus, dass dem Betroffenen auch bei der ersten Geschwindigkeitsüberschreitung um „nur“ 30 km/h ebenfalls Vorsatz vorzuwerfen ist, wovon beim Maß der Geschwindigkeitsüberschreitung auszugehen ist, dann dürfte die Entscheidung zutreffend sein. Der Betroffene, offenbar ein „Raser“, kommt dann mit einem blauen Auge davon, das das AG wegen der zweiten Geschwindigkeitsüberschreitung eine Geldbuße von 1.500 EUR festgesetzt und eine Fahrverbot von drei Monaten verhängt hat. Schwieriger könnte es werden, und das hätte ich als OLG vom AG aufklären lassen, wenn man dem Betroffenen beim ersten Vorwurf nur Fahrlässigkeit zur Last gelegt hat. Denn dann stellt sich die Frage, ob in dem weiteren „(pflichtwidrig stark beschleunigten) Geradeausfahren zwischen den Messstellen“ zwischen den Messtellen wegen der nun vorsätzlichen Begehungsweise nicht eine neue Tat liegt, die gesondert geahndet werden kan.

StPO III: Ehefrau „zieht“ Zeugnisverweigerungsrecht, oder: Angaben im Gewaltschutzverfahren verwertbar?

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Und im dritten Posting dann der angekündigte OLG-Beschluss, und zwar der OLG Karlsruhe, Beschl. v. 30.01.2024 – 1 ORs 36 SRs 752/23.

Der Angeklagte ist wegen vorsätzlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Bedrohung verurteilt worden. Nach den Feststellungen dess LG verpasste der Angeklagte am 06.01.2021 seiner vom ihm getrenntlebenden Ehefrau im Rahmen eines Streits in deren Wohnung mehrere Faustschläge ins Gesicht und drohte mit einem großen Messer damit, diese umzubringen.

Dagegen die Revision des Angeklagten. Mit der rügt der Angeklagte verfahrensrechtlich insbesondere die Verwertung der Angaben der in der Hauptverhandlung von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machenden Ehefrau gegenüber der Rechtspflegerin beim Amtsgericht B. vom 07.01.2021 zur Begründung ihres Antrags auf Erlass einer Gewaltschutzanordnung nach § 1 GewSchG. Bei Antragstellung bezog sich die Ehefrau des Angeklagten auf das Protokoll ihrer polizeilichen Vernehmung vom 06.01.2021 und übergab zur Glaubhaftmachung eine Kopie des polizeilichen Vernehmungsprotokolls, dessen inhaltliche Richtigkeit sie an Eides statt versicherte.

Die Revision hatte keinen Erfolg. Die Verfahrensrüge war nach Auffassung des OLG zwar zulässig, aber unbegründet:

„1. Die Verfahrensrüge gem. § 252 StPO ist in zulässiger Weise erhoben. Sie genügt den Anforderungen gemäß § 344 Abs. 2 S. 2 StPO. So teilt der Revisionsführer zur Begründung seiner Rüge der Verletzung von § 252 StPO die frühere polizeiliche Aussage der Zeugnisverweigerungsberechtigten und ihre nunmehrige Aussageverweigerung ebenso mit wie den genauen Inhalt und die näheren Umstände der von der Kammer verwerteten Angaben der Zeugin aus Anlass der Stellung des Antrags nach dem Gewaltschutzgesetz sowie das Beruhen des Urteils hierauf. Der Zulässigkeit der Rüge nicht entgegen steht, dass die Art und Weise der Einführung der von der Kammer verwerteten Aussage der Geschädigten durch Verlesung von Teilen aus den Akten des Gewaltschutzverfahrens in der Antragsschrift unerwähnt bleiben, denn die Verlesung und Verwertung dieser Aktenteile nach erfolgter Zeugnisverweigerung ergibt sich schon aus den schriftlichen Urteilsgründen, welche der Senat auf die Sachrüge zur Kenntnis nimmt, weshalb der mangelhafte Vortrag der Revision unschädlich ist (BGH NJW 1990, 1859). Unerheblich ist, dass die Antragsschrift den Inhalt des aus dem Protokoll ersichtlichen Hinweises der Kammer, dass die Angaben der Zeugin im Gewaltschutzverfahren keinem Beweisverwertungsverbot gemäß § 252 StPO unterliegen, nicht mitteilt, denn der Erfolg der Verfahrensrüge kann durch den (in Abwesenheit der Zeugin) erteilten Hinweis der Kammer zu ihrer Rechtsansicht nicht negativ beeinflusst werden.

2. Die Rüge ist indes unbegründet, da die Angaben der Geschädigten zur Begründung ihres Antrags nach dem Gewaltschutzgesetz keinem Verwertungsverbot gem. § 252 StPO unterliegen.

Das Verwertungsverbot gem. § 252 StPO bezieht sich auf Aussagen des Zeugen im Rahmen einer Vernehmung, welche vor der Hauptverhandlung stattgefunden hat, etwa im Rahmen einer polizeilichen, auch informatorischen Befragung. Der Vernehmungsbegriff ist weit auszulegen und erfasst – unabhängig davon, ob die Angaben förmlich protokolliert oder nur in einem internen Vermerk festgehalten werden – alle Bekundungen über wahrgenommene Tatsachen auf Grund einer offen von einem staatlichen Organ durchgeführten Befragung (BGH NJW 2005, 765 f.). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs werden im Wege einer entsprechenden Anwendung der Norm auch frühere vernehmungsbasierte Aussagen eines Zeugnisverweigerungsberechtigten in einem Zivilrechtsstreit oder in einem Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit erfasst, die geeignet sind, einen Angehörigen zu belasten, und der Zeuge sich in einer Lage befindet, die derjenigen des Zeugen im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vergleichbar ist (vgl. BGH NJW 1990, 1859 mwN). Das Zeugnisverweigerungsrecht gem. § 252 StPO soll den Zeugen vor Konflikten schützen, die aus den Besonderheiten der Vernehmungssituation entstehen, insbesondere einerseits durch die Wahrheitspflicht bei der Zeugenvernehmung und andererseits durch die sozialen Pflichten, die aus der familiären Bindung gegenüber dem Angeklagten erwachsen (vgl. BGH NJW 2005, 765 mwN).

Unabhängig von der jeweils zugrundeliegenden Prozessordnung bleibt für eine Verwertung im Strafverfahren aber erkennbar stets maßgeblich, ob die Angaben des Zeugnisverweigerungsberechtigten im Zuge einer amtlich initiierten Vernehmung erfolgten (BGH NJW 1990, 1859; OLG Hamburg, Beschl. v. 8.3.2018 – 1 Ws 114/17, BeckRS 2018, 3916). Angaben, die der Zeuge außerhalb einer Vernehmung gemacht hat, unterliegen dem (erweiterten) Verwertungsverbot grundsätzlich nicht. Darunter fallen Angaben gegenüber Dritten (BGH NJW 1952, 153), spontane Aussagen (BGH NStZ 1992, 247; NStZ 2007, 652; OLG Hamm NStZ 2012, 53), nach denen er nicht gefragt wurde, wie etwa eine Strafanzeige (BGH NJW 1956, 1886) oder die Bitte um polizeiliche Hilfe (BGH NStZ 1986, 232) bzw. im Rahmen eines polizeilichen Notrufs (OLG Hamm NStZ 2012, 53; BeckRS 2014, 19563). Demgemäß sind auch die Angaben der Geschädigten gegenüber dem Familiengericht zur Erwirkung einer Schutzanordnung nach dem GewSchG verwertbar, da sich die Zeugin von sich aus an das Amtsgericht gewandt und ihren Ehemann belastende Angaben zur Begründung ihres Antrags gemacht hat (OLG Hamburg aaO; BeckOK StPO/Ganter StPO § 252 Rn. 15 mwN), und über welchen ohne mündliche Verhandlung und weitere Befragung der Antragstellerin nach Aktenlage aufgrund summarischer Prüfung vom Gericht entschieden wurde (§ 51 Abs. 2 S. 2, § 3, § 214 FamFG; BeckOK FamFG/Schlünder FamFG, Ed. 1.11.2023, § 214 Rn. 2 ff.).

Eine vernehmungsähnliche Situation entsteht auch – wie die Revision meint – nicht dadurch, dass die Zeugin das – für sich unverwertbare – Protokoll ihrer polizeilichen Vernehmung der Rechtspflegerin vorgelegt, zum Gegenstand ihres Vortrags zur Antragsbegründung gemacht und dessen inhaltliche Richtigkeit an Eides statt versichert hat. Denn auch die Vorlage des Protokolls erfolgte aus freien Stücken und diente ersichtlich lediglich der Verfahrensvereinfachung. Dass die Zeugin insofern „unfrei“ handelte, als sie zur Verhinderung weiterer Übergriffe ihres gewalttätigen Ehemanns eine Schutzanordnung erwirkte, bleibt für die Frage der Verwertbarkeit ihrer Angaben im Strafverfahren ohne Belang. Denn § 252 StPO, der nach seinem Wortlaut eine Vernehmung oder eine vernehmungsähnliche Situation voraussetzt, enthält keinen allgemeinen Rechtsgrundsatz dahingehend, dass jedwede den Angehörigen belastende Angaben (etwa auch die in höchster Not gegenüber dem Hausmitbewohner gemachten Angaben, bei welchem die Zeugin unmittelbar nach der Tat um Schutz suchte) vom Zeugen bis zur Hauptverhandlung oder einer ermittlungsrichterlichen Vernehmung durch Berufung auf das Zeugnisverweigerungsrecht für eine Verwertung gesperrt werden können (vgl. BGH NStZ 1986, 232 (Mitteilungen im Rahmen eines Hilfeersuchens gegenüber einer Mitarbeiterin der Familienhilfe)). Hierdurch wird auch nicht – wie die Revision meint – „in gewisser Weise durchaus besserwisserisch“ der wiederhergestellte Familienfriede „torpediert“. Gewalt in der Ehe ist keine Privatangelegenheit, sondern unabhängig vom Strafantrag der Geschädigten bei Vorliegen eines hier von der Staatsanwaltschaft bejahten öffentlichen Interesses zu verfolgen.“

Na ja, ist Mainstream, aber: Es bleibt allerdings ein gewisses Unbehagen. Denn was heißt in solchen Situationen „aus freien Stücken“? und greift nicht gerade auch hier der Sinn und Zweck des § 252 StPO, der den Zeugen vor Konflikten schützen soll/will, die aus den Besonderheiten der Vernehmungssituation entstehen, insbesondere einerseits durch die Wahrheitspflicht bei der Zeugenvernehmung und andererseits durch die sozialen Pflichten, die aus der familiären Bindung gegenüber dem Angeklagten erwachsen (vgl. BGH NJW 2005, 765 mwN). M.E. hätte man hier an der Vorlage des – unverwertbaren – polizeilichen Vernehmungsprotokolls ansetzen können, das über den Umweg (freiwillige [?]) Vorlage bei der Rechtspflegerin dann Akteninhalt geworden ist, und auf das sich AG und LG, was sich allerdings aus den Beschlussgründen des OLG nicht ergibt – im Zweifel auch gestützt hat.