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OWi III: Fehlerhafte Zustellung führt zum Verjährungseintritt, oder: Erneut falsche Auslagenentscheidung

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Und dann noch eine – schon etwas ältere – Entscheidung, ebenfalls zur Verjährung, und zwar das AG Karlsruhe, Urt. v. 25.08.2023 – 6 OWi 260 Js 8092/23. Das AG hat in dem Urteil das Verfahren nach § 206a StPO eingestellt.

„Dem Verfahren liegt ein Rotlichtverstoß am 11.09.2022 um 132 Uhr in Karlsruhe auf der B 10 auf Höhe der Keßlerstraße in Richtung Kriegsstraße mit dem Pkw mit amtlichem Kennzeichen
zugrunde.Am 04.10.2022 übersandte die Bußgeldbehörde ein Informationsschreiben an die Betroffene unter der Anschrift Rue pp 28, Frankreich (As. 31). Nachdem dieses Informationsschreiben nicht als unzustellbar zurückgekommen und auch keine Antwort darauf eingegangen war, erließ die Bußgeldbehörde am 17.10.2022 einen Bußgeldbescheid gegen die Betroffene (As. 43), den sie an dieselbe Anschrift übersandte. Der Bußgeldbescheid kam weder als unzustellbar zurück, noch ging bis heute eine Zustellungsurkunde ein.

Mit Schreiben vom 27.10.2022 bestellte sich der Verteidiger der Betroffenen, legte gegen einen möglicherweise bereits erlassenen Bußgeldbescheid Einspruch ein und beantragte Akteneinsicht (As. 53). Eine Verteidigervollmacht war dem Schreiben nicht beigefügt und ist bis heute nicht zur Akte gelangt. Am 08.11.2022 wurde dem Verteidiger der Betroffenen Akteneinsicht durch über-sendung der Akte gewährt (As. 57) und am 14.11.2022 vom Verteidiger zurückgesandt (As. 67).

Die Bußgeldbehörde hat daraufhin als Zustellungsdatum des Bußgeldbescheids den 27.10.2022 vermerkt, da davon ausgegangen wurde, dass die Betroffene spätestens an dem Tag, als sich ein Verteidiger für sie bestellte. Kenntnis vorn Bußgeldbescheid erlangt haben müsste.

Mit Schriftsatz vorn 16.06.2023 (As. 233) beantragt der Verteidiger die Einstellung des Verfahrens mit der Begründung, dass Verfolgungsverjährung eingetreten sei. Er trägt vor, dass die Betroffene tatsächlich nicht in der Rue pp. 28, sondern in der Hausnummer 26 wohne, was auch durch eine entsprechende Meldebestätigung (As. 241) belegt wird. Eine wirksame Zustellung des Bußgeldbescheides an die Betroffene sei daher nie erfolgt. Diese habe ihn allein aufgrund des Informationsschreibens vorn 04.10.2022, das ihr von einer Nachbarin ausgehändigt worden sei, beauftragt, von einem Bußgeldbescheid habe sie keine Kenntnis erlangt.

II.

Das Verfahren war gemäß § 206a Abs 1 StPO einzustellen, da Verfolgungsverjährung eingetreten ist.

Nach § 26 Abs. 3 StVG beträgt die Verjährungsfrist für Ordnungswidrigkeiten nach § 24 Abs. 1 StVG drei Monate, solange wegen der Handlung weder ein Bußgeldbescheid erlassen ist noch öffentliche Klage erhoben worden ist, danach sechs Monate.

Die Ordnungswidrigkeit datiert vom 11.09.2022. Eine erste Unterbrechung der Verfolgungsverjährung erfolgte am 04.10.2022 durch Übersendung des Informationsschreibens an die Betroffene an die Anschrift Rue pp. 28, pp. Frankreich. Gemäß § 33 Abs. 1 Nr. 1 OWiG wird die Verjährung unterbrochen durch die erste Vernehmung des Betroffenen, die Bekanntgabe. dass gegen ihn ein Ermittlungsverfahren eingeleitet ist, oder die Anordnung der Vernehmung oder Bekanntgabe_ Die Versendung des Anhörungsbogens ist hierfür ausreichend (vgl. BeckOK OWiG/Gertler, 39. Ed. 1.7 2023, OWiG § 33 Rn. 47). Unerheblich ist, dass die Betroffene nie in der Hausnummer 28, sondern in der Hausnummer 26 wohnte, da zum einen die Bußgeldbehörde hierbei nicht missbräuchlich gehandelt hat (vgl. KK-OWiG/Ellbogen, 5. Aufl. 2018, OWiG § 33 Rn. 23) und zum anderen, da die Betroffene selbst eingeräumt hat, dass ihr das In-formationsschreiben von einer Nachbarin ausgehändigt wurde (As. 233).

Eine weitere Verjährungunterbrechung insbesondere durch Erlass des Bußgeldbescheides oder dessen Zustellung nach § 33 Abs. 1 Nr. 9 OWiG ist nicht erfolgt. Es kann nicht festgestellt werden, dass der Bußgeldbescheid der Betroffenen zur Kenntnis gelangt ist. Die Betroffene war unter der Hausnummer, an welche der Bußgeldbescheid versandt wurde, nachweislich der Meldebescheinigung (As. 241) nicht wohnhaft. Eine Zustellungsurkunde ist nie zur Akte gelangt. Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass der Betroffenen alle Post von ihren Nachbarn weitergereicht wurde, nur weil sie das Informationsschreiben erreicht hat. Eine Terminsladung kam beispielsweise als unzustellbar zurück (As. 227). Es kann auch nicht – wie es aber die Bußgeldbehörde vermerkte – ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass der Bußgeldbescheid die Betroffene spätestens am 27.10.2022 erreicht haben muss. weil an diesem Tag ein Verteidiger sich für die Betroffene gegenüber der Bußgeldbehörde bestellt hat. In dem Verteidigerschreiben wird ausdrücklich nur gegen einen möglicherweise bereits ergangenen Bußgeldbescheid Einspruch eingelegt. Es ist damit ebenso möglich, dass die Betroffene den Verteidiger bereits aufgrund des erhaltenen Informationsschreibens beauftragt hat. Ein Rückschluss darauf, dass die Betroffene auch der Bußgeldbescheid erreicht haben muss, kann nicht gezogen werden.

Schließlich ist auch keine Heilung der Zustellung durch die Gewährung von Akteneinsicht an den Verteidiger erfolgt. Zwar erfolgte die Gewährung der Akteneinsicht an den Verteidiger mit Über-sendung der Akte am 08.11.2022 und Rücksendung am 14.11.2022 vor Eintritt der Verfolgungs-verjährung und kann grundsätzlich – wie auch von der Staatsanwaltschaft eingewandt (As. 245) ¬eine zunächst unwirksame Zustellung heilen (vgl. OLG Hamm BeckRS 2017, 122300, BeckOK OWiG/Gertler, 39. Ed. 1.7.2023, OWiG § 33 Rn. 118). Im dem Fall des OLG Hamm war der Verteidiger jedoch Empfangsberechtigter und die Bußgeldbehörde hatte einen erkennbaren Zustellungswillen, den Bußgeldbescheid an den Verteidiger als Empfangsberechtigten zuzustellen. In hiesigem Verfahren ist aber gerade keine Vollmacht des Verteidigers zu den Akten gelangt – weder eine Zustellungsvollmacht noch eine sonstige Vertretungsvollmacht. Die Bußgeldbehörde wollte auch nicht an den Verteidiger. sondern an die Betroffene selbst zustellen. Für diesen Fall ist nach ganz überwiegender Rechtsprechung eine Heilung der Zustellung nicht anzunehmen (vgl. OLG Celle. Beschluss vom 30. 8. 2011 – 311 SsRs 126/11, NZV 2012, 45, beck-online; OLG Stuttgart, Beschl. v. 10. 10. 2013 – 4 a Ss 428/13, NZV 2014, 186, beck-online). Insbesondere hat das OLG Karlsruhe ausdrücklich entschieden, dass eine Heilung der Zustellung dann nicht erfolgen kann, wenn der Verteidiger nicht bevollmächtigt ist, Zustellungen für den Betroffenen entgegenzunehmen (vgl. OLG Karlsruhe Beschl. v. 29.10.2020 – 2 Rb 35 Ss 618/20, BeckRS 2020. 34187, beck-online).

Da die Gewährung von Akteneinsicht an den nicht bevollmächtigten Verteidiger die fehlende Zu-stellung an die Betroffene damit nicht heilen konnte, hat der Erlass des Bußgeldbescheides man-gels wirksamer Zustellung die Verjährung nicht unterbrochen. Einzige Verjährungsunterbrechung war daher die Übersendung des Informationsschreibens an die Betroffene am 04.10.2022, weshalb zum 04.01.2023 Verjährung eingetreten ist.“

Soweit so gut, so richtig. Aber dann die Auslagenentscheidung. Das AG hat entschieden, dass die Betroffene ihre notwendigen Auslagen selbst zu tragen hat, und hat das wie folgt begründet: „Unter Würdigung aller entscheidungserheblichen Umstände des Einzelfalls wird daher davon abgesehen, die notwendigen Auslagen der Betroffenen der Staatskasse aufzuerlegen.“ Das reicht m.E. nicht nur nicht, sondern ist falsch. Dazu verweise ich auf die Anmerkung zum im AG Augsburg, Beschl. v. 26.07.2024 – 45 OWi 605 Js 107352/24  (vgl. dazu OWi II: Einstellung in der HV wegen Verjährung, oder: Auslagenentscheidung man wieder nicht begründet). Der Fehler liegt/lag doch nicht bei der Betroffenen.

OWi II: Einstellung in der HV wegen Verjährung, oder: Auslagenentscheidung mal wieder nicht begründet

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Im zweiten OWi-Posting dann ein Beschluss des AG Augsburg, der zumindest in einem Punkt sehr gut zu dem vorhin vorgestellten BVerfG, Beschl. v. 27.09.2024 – 2 BvR 375/24 – passt dazu: OWi I: Keine Begründung der Auslagenentscheidung, oder: Weiß man es nicht oder man will nicht?).

Gegen den Betroffenen ist ein Bußgeldbescheid wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung erlassen worden. Das AG hat das Verfahren wegen eines Verfahrenshindernisses nach §§ 46 Abs. 1 OWiG, 206a StPO. Die Kosten des Verfahrens hat es der Staatskasse auferlegt, es hat aber davon abgesehen, die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Staatskasse aufzuerle-gen.

Zur Einstellung führt das AG im AG Augsburg, Beschl. v. 26.07.2024 – 45 OWi 605 Js 107352/24  – aus:

„Es besteht ein Verfahrenshindernis hinsichtlich des Betroffenen, §§ 46 Abs. 1 OWiG, 206a StPO.

Die vorgeworfenen Ordnungswidrigkeit vom 14.10.2023 war bereits bei Eingang der Akten bei Gericht 22.02.2024 verjährt.

Weder die mit Verfügung vom 26.10.2023 angeordnete Anhörung des Betroffenen, noch der Bußgeldbescheid vom 04.12.2023 waren geeignet, die Verjährung zu unterbrechen.

Voraussetzung dafür ist unter anderem, dass das Tatgeschehen hinreichend konkretisiert, also einwandfrei klar ist, welcher Lebensvorgang dem Betroffenen vorgehalten wird und dieser von denkbaren ähnlichen oder gleichartigen Sachverhalten unterscheidbar ist. Dies ist vorliegend nicht der Fall.

Sowohl in der Anhörung als auch im Bußgeldbescheid ist als Tatort „Gersthofen, A8 West, Ri München, Abschnitt 340″ angegeben. Eine konkretisierende Kilometerangabe oder ein markanter Punkt wie eine Ausfahrt, ein Rastplatz o.Ä., ist nicht genannt.

Auch ergibt sich der markante Punkt nicht aus den Lichtbildern, da dem Betroffenen im Anhörungsbogen und im Bußgeldbescheid nur der vergrößerte Ausschnitt des Fahrerlichtbilds übersandt wird.

Ausweislich der Mitteilung der VPI Augsburg (BI. 58 d.A.) beträgt die Länge des Abschnitts 340 2,5 km.

Vorliegend war mithin die Tat – zumindest hinsichtlich des Begehungsortes- nicht so genau bezeichnet, dass sie sich als unverwechselbar mit anderen denkbaren Taten desselben Täters dar-stellt und ein Bewusstsein des Täters für den ihm vorgeworfenen Verstoß bilden kann. Gerade Verkehrsverstöße, die sich in relativ kurzen Zeiträumen relativ häufig zu wiederholen vermögen, sind insoweit problematisch und müssen von der Bußgeldbehörde präzise konkretisiert werden (Vgl. BGH, Beschliss vom 08.10.1970- 4 StR 190/70, NJW 1970, 2222).

Der Betroffenen hatte somit keine Möglichkeit festzustellen, an welchem Tatort auf der 2.5 km langen Strecke die ihm vorgeworfenen Geschwindigkeitsüberschreitung begangen worden sein soll.

Weder die Anhörung noch der Bußgeldbescheid sind mangels hinreichender Bestimmtheit geeignet, die Verjährung zu unterbrechen.“

Dem kann man noch folgen, obwohl die Rechtsprechung in ähnlichen Fällen nicht ganz einheitlich ist.

Weiter heißt es dann:

„Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 464, 467 Abs. 1 und 3 StPO.

Unter Würdigung aller entscheidungserheblichen Umstände des Einzelfalls wird daher davon abgesehen, die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Staatskasse aufzuerlegen.“

Und da ist m.E. die Auslagenentscheidung des AG falsch. M.E. hätten auch die notwendigen Ausla-gen des Betroffenen der Staatskasse auferlegt werden müssen. Das AG geht offensichtlich von einem Fall des § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO aus; eine Vorschrift, die der Entscheidung zugrunde liegt, wird nicht genannt. Insoweit ist zunächst zu beanstanden, dass das AG seine Ermessensentscheidung nicht bzw. nicht ausreichend begründet. Die „Begründung“ des AG erschöpft sich in dem Satz „Unter Würdigung aller entscheidungserheblichen Umstände des Ein-zelfalls wurde daher davon abgesehen, die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Staats-kasse aufzuerlegen.“ Das ist zur Begründung der Ermessensentscheidung aber nicht ausreichend (vgl. zur Begründung zuletzt eben der o.a. BVerfG, Beschl. v. 27.9.2024 – 2 BvR 375/24; siehe auch noch VerfGH Sachsen, Beschl. v. 23.5.2024 – Vf. 22-IV-23, VRR 9/2024, 29; LG Wiesbaden, Beschl. v. 7.6.2024 – 2 Qs 47/24, VRR 9/2024, 32; alle auch hier im Blo vorgestellt). Das AG muss schon im Einzelnen darlegen, warum es vom Regelfall des § 467 Abs. 1 StPO abweicht. Dazu reicht m.E. die „Begründung“ des AG „Unter Würdigung aller entscheidungserheblichen Umstände des Einzelfalls…“ nicht aus. Das ist keine auf den Einzelfall bezogene Begründung, der entnommen werden könnte, welche Umstände, denn nun dazu geführt haben, dass der Betroffene seine notwendigen Auslagen selbst tragen muss. Es fehlt vor allem auch eine Auseinandersetzung mit dem Umstand, dass der „Fehler“, der zum Verjährungseintritt geführt hat, hier – nach der Rechtsauffassung des AG – eindeutig bei der Verwaltungsbehörde gelegen hat, die weder in der Anhörung noch im Bußgeldbescheid eine ausreichende Tatortangabe mitgeteilt hat. Eine sofortige Beschwerde hätte insoweit also ggf. Erfolg gehabt. Allerdings kann man sich da in Bayern nicht so sicher sein 🙂 .

StPO III: Schöffe macht sich länger private Notizen, oder: Beschäftigung mit privaten Dingen ==> Rauswurf

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Und dann noch etwas aus der Hauptverhandlung, nämlich die Frage nach der Besorgnis der Befangenheit einer Schöffin.

Der Angeklagte hat in einem Berufungsverfahren eine Schöffin wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Das ist wie folgt begründet worden: Der Angeklagte und sein Verteidiger hätten beobachten können, wie die Schöffin ab 14:00 Uhr bei der Verlesung eines Extraktionsberichtes durch den Vorsitzenden sich in einem schwarzen DIN-A5 Notizbuch Notizen auf den letzten Seiten gemacht habe. Das sei insoweit auffällig gewesen, als sie sich bisher Notizen zum Verfahren auf einem DIN A4 Papier gemacht habe. Ein solches DIN A4 Papier habe sich auch am Sitzungstag auf ihrem Tisch befunden. Die Schöffin habe sich Notizen in dem Buch untereinander gemacht, z.B. wie bei einer Einkaufsliste. Sie habe dabei mindestens 3 Seiten benutzt, weil sie mindestens einmal umgeblättert habe und dann auf den Folgeseiten links und rechts Notizen von oben bis unten gefertigt habe. All das habe sie gemacht, während der Vorsitzende die Chats vorgelesen habe. Sie habe daher dem Vorlesen und dem im Zusammenhang verlesenen Chat nicht folgen können. Sodann habe beobachtet werden können, dass sie das Zählen beginne. Sie habe auf der linken und rechten Seite die jeweiligen Aufzeichnungen gezählt. Dies habe sie wiederholt und sich weiterhin Notizen gemacht, die jedoch auch nie im Zusammenhang mit dem Vorgelesenen erfolgten, was deutlich aufgefallen sei. Daher sei offenkundig gewesen, dass sich die Schöffin nicht etwa Notizen des soeben vorgelesenen Chats gemacht habe. Um exakt 14.19 Uhr habe sie ihr Notizbuch geschlossen, weil sie offenkundig mit ihrer privaten Tätigkeit, die nicht im Zusammenhang mit dem Verfahren gestanden habe, fertig gewesen sei. Dies, obwohl der Vorsitzende noch lange nicht fertig gewesen sei, mit dem Verlesen. Auf Nachfrage der Verteidigung habe die Schöffin pp. sodann – was zutreffend ist bestätigt, dass diese Notizen nichts mit dem Verfahren zu tun gehabt hätten.

Die Schöffin hat in ihrer dienstlichen Stellungnahme hierzu ausgeführt, dass es stimme, dass sie während der Verhandlung Kritzeleien gemacht habe, die nicht unmittelbar mit dem Verfahren in Verbindung gestanden hätten. Diese hätten jedoch nicht der Ablenkung sondern vielmehr dazu gedient, ihre Konzentration zu bewahren. Das Kritzeln sei für sie eine bewährte Technik, die sie regelmäßig nutze – auch während ihres Studiums – um bei längeren Vorträgen konzentriert zu bleiben und nicht gedanklich abzuschweifen. Trotz des Kritzelns habe sie die Verlesung des Chats durch den Vorsitzenden Richter aufmerksam verfolgt.

Das LG Dortmund hat im LG Dortmund, Beschl. v. 08.11.2024 – 45 Ns 131/22 – dem Antrag statt gegeben:

„Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters oder einer Schöffin ist gerechtfertigt, wenn der Ablehnende bei verständiger Würdigung des ihm bekannten Sachverhalts Grund zu der Annahme hat, dass der Richter oder die Schöffin ihm gegenüber eine innere Haltung einnimmt, die ihre Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit störend beeinflussen kann. Maßgebend ist dabei der Standpunkt eines vernünftigen Angeklagten (vgl. zum Ganzen: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO-Kom., 66. Aufl. § 24 Rn. 8 und 8a).

Der unterzeichnende Vorsitzende hat selbst beim Verlesen des Chats nicht mitbekommen, inwieweit die Schöffin pp. sich Notizen oder Ähnliches gemacht hat. Jedoch hat sich die Tätigkeit der Schöffin nach dem letztlich unbestritten gebliebenen Vortrag der Verteidigung über einen Zeitraum von 19 Minuten hingezogen und die Schöffin habe erkennbar dabei zwischendurch auch Punkte ihrer Notizen abgezählt. Das lässt es aus der Sicht eines verständigen Angeklagten in der Tat nicht unwahrscheinlich erscheinen, dass die Schöffin pp. über einen nicht nur kurzen Zeitraum der Beweisaufnahme mit verfahrensfremden Angelegenheiten beschäftigt war, zumal sie auf anschließende Nachfrage des Verteidigers, ob die Notizen etwas mit dem Verfahren zu tun gehabt hätten, auch umgehend mit „Nein“ geantwortet hat. In Anbetracht der Länge des Vorgangs lässt das für einen verständigen Betrachter auch durchaus den Eindruck der Befangenheit zu. Hieran ändert in Anbetracht der dezidierten Ablaufschilderung in dem Befangenheitsantrag sodann auch die dienstliche Erklärung der Schöffin, dass diese Kritzeleien letztlich nur ihrer Konzentrationshilfe gedient hätten, nichts mehr.“

Also zurück auf Start, gehe nicht über Los …. 🙂

StPO II: Freiwillige Herausgabe vor der Durchsuchung, oder: Dann braucht man keine Durchsuchung mehr

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Im zweiten Posting dann noch eine Entscheidung zur Durchsuchung und sie kommt ebenfalls aus Sachsen. Es handelt sich um den LG Dresden, Beschl. v. 23.10.2024 – 2 Qs 13/24.

Nach dem Sachverhalt führt die StA gegen den Beschuldigten ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Vergewaltigung. Er soll in den frühen Morgenstunden des 16.03.2024 gegen 02:50 Uhr der Beschuldigte durch das Eintreten der Tür in die Wohnung seiner ehemaligen Lebensgefährtin eingedrungen sein und ihr im dortigen Schlafzimmer mehrmals mit der Faust und dem Ellenbogen in das Gesicht von pp. geschlagen haben. Anschließend soll er mit Gewalt für etwa zehn Minuten den ungeschützten vaginalen Geschlechtsverkehr mit ihr durchgeführt haben.

Der Beschuldigte wurde am 16.03.2024 vorläufig festgenommen und das Amtsgericht Dresden ordnete mit Beschluss vom 16.03.2024 die Untersuchungshaft gegen ihn an. Im Rahmen des Termins zur Haftbefehlseröffnung vor dem AG am 16.03.2024 beantragte die Staatsanwaltschaft den Erlass eines Durchsuchungsbeschlusses für die Wohnung des Beschuldigten zum Auffinden von dessen Mobiltelefon, seiner Schuhe, von Betäubungsmitteln und von Unterlagen über die Beziehung zwischen dem Beschuldigten und pp. Der Beschuldigte erklärte daraufhin, dass die gesuchten Unterlagen ausschließlich bei pp. aufzufinden seien und er sein Mobiltelefon und seine Schuhe mit Widerspruch übergeben würde, um den Erlass eines Durchsuchungsbeschlusses zu vermeiden.

Das Amtsgericht Dresden ordnete daraufhin mit Beschluss vom 16.03.2024 (dennoch) die Durchsuchung der Wohnung des Beschuldigten zum Zwecke des Auffindens des Mobiltelefons des Beschuldigten, seiner zur Tatzeit getragenen Bekleidung sowie von Unterlagen über die persönliche Beziehung zwischen dem Beschuldigten und pp. an. Im Hinblick auf die ebenfalls beantragte Durchsuchung der Wohnung nach Betäubungsmitteln sah das Amtsgericht den erforderlichen Anfangsverdacht für nicht gegeben.

Gegen diesen Beschluss legte der Beschuldigte Beschwerde ein und widersprach zugleich der Verwertung der aufzufindenden Beweismittel. Die Durchsuchungsanordnung vom 16.03.2024 wurde noch am selben Tag vollzogen. Der beschuldigte begehrt nunmehr die Feststellung, dass die Durchsuchung rechtswidrig erfolgt sei. Mit Erfolg:

„1. Die Beschwerde des Beschuldigten gegen den Beschluss des Amtsgerichts Dresden vom 16.03.2024, Az. 273 Gs 1363/24 ist statthaft und auch im Übrigen zulässig.

Ein Rechtsschutzinteresse für die nachträgliche Feststellung der Rechtswidrigkeit der hier gegenständlichen, prozessual überholten Durchsuchungsmaßnahme ist wegen des mit der Durchsuchung verbundenen Grundrechtseingriffs gegeben (BVerfG, Beschluss vom 05.07.2023 – 2 BvR 370/13, BeckOK StPO/Cirener, § 296, Rn. 12 ff.).

2. Die Beschwerde des Beschuldigten hat auch in der Sache Erfolg.

a) Gegenüber der durch Beschluss des Amtsgerichts Dresden vom 16.03.2024, Az. 273 Gs 1363/24 angeordneten Durchsuchung der Wohnung des Beschuldigten standen den Ermittlungsbehörden gleichermaßen geeignete, aber grundrechtsschonendere Maßnahmen zur Verfügung, weshalb die angeordnete Maßnahme gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstieß und der Beschluss mithin rechtswidrig war.

Bei der Anordnung einer Durchsuchungsmaßnahme gemäß §§ 102, 105 Abs. 1 Satz 1 StPO muss aufgrund des damit für den Betroffenen einhergehenden intensiven Grundrechtseingriffs dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in besonderem Maße Rechnung getragen werden (BVerfG NJW 1966, 1603 (1607)). Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebietet daher, nahe liegende gleichermaßen geeignete grundrechtsschonendere Ermittlungsmaßnahmen der Maßnahme nach § 102 StPO vorzuziehen (BVerfG NStZ-RR 2006, 110). Eine Durchsuchungsmaßnahme muss aus Gründen der Verhältnismäßigkeit daher unterbleiben, wenn der Betroffene die im Beschluss konkret benannten Gegenstände freiwillig und vollständig herauszugeben bereit ist (MüKoStPO/Hauschild, 2. Aufl., § 102, Rn. 31). Gleichermaßen unterbleiben muss eine Durchsuchungsmaßnahme, wenn durch weniger einschneidende Maßnahmen, wie die Vernehmung von Zeugen oder die Beiziehung von Akten, der Durchsuchungszweck erreicht werden kann (BVerfG BeckRS 2005, 32877; BVerfG NJW 2009, 281 (282); OLG Dresden BeckRS 2008, 7878).

Im Haftprüfungstermin am 16.03.2024 wurde durch den Beschuldigten erklärt, dass er bereit sei, sein Mobiltelefon und die am Tattag getragene Kleidung freiwillig herauszugeben. Diese im Durchsuchungsbeschluss des Amtsgerichts Dresden vom 16.03.2024, Az. 273 Gs 1363/24 konkret genannten Gegenstände hätten somit durch freiwillige Übergabe von dem Beschuldigten erlangt werden können, ohne dass es einer polizeilichen Wohnungsdurchsuchung bedurft hätte. Sachliche Erwägungen, weshalb diese weniger einschneidende Maßnahme zurückgestellt wurde, sind nicht erkennbar. Die angeordnete Maßnahme war daher im Hinblick auf die Durchsuchung zum Zwecke des Auffindens des Mobiltelefons und der am Tattag getragenen Kleidung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unvereinbar.

Gleichermaßen unvereinbar mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz war die Durchsuchung der Wohnung des Beschuldigten im Hinblick auf die Unterlagen zu der persönlichen Beziehung zwischen dem Beschuldigten und der Zeugin pp. Im Haftprüfungstermin am 16.03.2024 wurde durch den Beschuldigten diesbezüglich erklärt, dass die gesuchten Unterlagen ausschließlich bei der Zeugin pp. aufzufinden seien. In Anbetracht dieser Aussage wäre es zunächst angezeigt gewesen, den konkreten Verbleib der Unterlagen durch Einvernahme der Zeugin pp. zu erforschen bzw. die freiwillige Herausgabe zu erwirken. Weiterhin bestand von Seiten der Ermittlungsbehörde, die hier insbesondere ein Interesse am Auffinden von Unterlagen zu familienrechtlichen Streitigkeiten hatte, die Möglichkeit der Aktenanforderung beim zuständigen Familiengericht. Die Ermittlungsbehörden wären daher angehalten gewesen, sich zu bemühen, zunächst durch weniger einschneidende Maßnahmen an die relevanten Unterlagen zu gelangen und die grundrechtsintensive Maßnahme der Wohnungs-durchsuchung zumindest zurückzustellen, insbesondere auch in Anbetracht des Um-standes, dass den Unterlagen zu der persönlichen Beziehung zwischen dem Beschuldigten und hinsichtlich des Tatverdachts der Vergewaltigung nur ein mittelbarer Beweiswert zukommt.

b) Der Beschluss des Amtsgerichts Dresden vom 16.03.2024, Az. 273 Gs 1363/24 ist indes nicht aufgrund eines Verstoßes gegen das allgemeine Willkürverbot rechtswidrig.

Ein Verstoß gegen das allgemeine Willkürverbot liegt nicht bereits bei der zweifelsfrei fehlerhaften Anwendung einfachen Rechts vor, sondern erfordert, dass eine zweifelsfrei einschlägige Norm nicht angewendet wurde oder deren Inhalt in erheblicher Weise missgedeutet wurde (BeckOK GG/Kischel, Art. 3, Rn. 84).

Wenngleich das Amtsgericht Dresden bei Auslegung und Anwendung des § 102 StPO die Tragweite des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit verkannt hat, wurde in Ermangelung eines Anfangsverdachts wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln ein darauf gerichteter Durchsuchungsbeschluss ausdrücklich nicht erlassen. Anhaltspunkte dafür, dass der Durchsuchungsbeschluss gleichwohl zur weiteren Erforschung eines etwaigen Betäubungsmitteldelikts erlassen wurde, sind nicht ersichtlich.“

Auslagen für Ausdruck des digitalen Datenträgers II?, oder: Ausnahmsweise ja zur Dokumentenpauschale

Heute morgen hatte ich den OLG Nürnberg, Beschl. v. 25.09.2024 – Ws 649/24 – zum Ausdruck eines digitalen Datenträgers vorgestellt. Das OLG hatte den Anfall der Dokumentenpauschale Nr. 7000 VV RVG verneint. Hier habe ich nun den LG Köln, Beschl. v. 24.10.2024 – 104 Ks 76/23 -, derden Anfall der Dokumentenpauschale in Sonderfällen bejaht, und zwar:

„Der Rechtsanwältin steht nach RVG-VV-7000 die abgesetzte Dokumentenpauschale für Ausdrucke aus der elektronischen Gerichtsakte von 410,45 Euro zu, nämlich im Ermittlungsverfahren 50 Ausdrucke zu je 0,50 Euro und 926 Ausdrucke zu je 0,15 Euro sowie im Hauptverfahren 50 Ausdrucke zu je 0,50 Euro, 1.317 Ausdrucke zu je 0,15 Euro und 24 Farbausdrucke zu je 1,00 Euro. Hinzu kommt nach RVG-VV-7008 die anteilige Umsatzsteuer von 77,99 Euro. Daraus ergibt sich der erstattungsfähige Gesamtbetrag von 488,44 Euro.

Nach RVG-VV-7000 1a) fällt die Pauschale für die Herstellung und Überlassung von Dokumenten für Kopien und Ausdrucke aus Behörden- und Gerichtsakten nur an, soweit deren Herstellung zur sachgemäßen Bearbeitung der Rechtssache geboten war. Dabei ist grundsätzlich ein objektiver Maßstab anzulegen (vgl. Schneider/Volpert/Fölsch/Stollenwerk, Gesamtes Kostenrecht, 3. Auflage, RVG VV 7000, Rn. 10). Wird der Rechtsanwältin – wie hier – die komplette Verfahrensakte in digitalisierter Form zum weiteren Verbleib überlassen, sind Kosten für Ausdrucke daraus nach RVG-VV-7000 1a) vom Grundsatz her keine erforderlichen Auslagen im Sinne von §?46 Abs.?1 RVG (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 03.04.2018, 2 Ws 1/18, JurBüro 2018, 352). Von diesem Grundsatz sind jedoch Ausnahmen möglich, deren Voraussetzungen in der Kommentarliteratur umstritten sind (vgl. Schneider/Volpert/Fölsch/Stollenwerk, Gesamtes Kostenrecht, 3. Auflage, RVG VV 7000, Rn. 10; Gerold/Schmidt/Müller-Rabe, 26. Aufl., RVG VV 7000, Rn. 62; Toussaint/Schmitt/Lang-Lendorff, 54. Aufl., RVG VV 7000 Rn. 10; Ahlmann/Kapischke/Pankatz/Rech/Schneider/Schütz/Ahlmann, 11. Aufl., RVG VV 7000, Rn. 8; HK-RVG/Ludwig Kroiß, 8. Aufl., RVG VV 7000 Rn. 5; jeweils m.w.N.).

Auf die Einzelheiten dieses Meinungsstreits kommt es jedoch nicht an, weil der vorliegende Fall exemplarisch dafür ist, dass Ausdrucke aus der elektronischen Gerichtsakte zur sachgemäßen Bearbeitung der Rechtssache geboten waren: Die Akte bestand aus über 2.000 Blatt Hauptakten nebst Beweismittelheften und ganz überwiegend aus Vernehmungen von Zeugen und Beschuldigten; allein der Nebenkläger ist vor der Hauptverhandlung mehr als fünfmal, teilweise sehr umfangreich, vernommen worden; die Akte war äußerst unübersichtlich strukturiert; die erinnerungsführende Rechtsanwältin hat seit dem Ermittlungsverfahren wiederholt aktenkundige Aussagen von Zeugen und Beschuldigten synoptisch nebeneinander gestellt. Dazu war es erforderlich, Ausdrucke der zahlreichen aktenkundigen Aussagen von Zeugen und Beschuldigten ausgedruckt nebeneinanderzulegen und abzugleichen. Außerdem war es angesichts der Vielzahl wiederholter Vernehmungen für die Hauptverhandlung erforderlich, jeweils Ausdrucke aller aktenkundigen Aussagen eines Zeugen zu verwenden. Aus diesen Gründen des Einzelfalls war ausnahmsweise ein vollständiger Ausdruck der elektronischen Gerichtsakte zur sachgemäßen Bearbeitung der Rechtssache im Sinne von RVG-VV-7000 1a) geboten.

Ob die Ausdrucke aus der elektronischen Gerichtsakte daneben auch zur Unterrichtung des Auftraggebers notwendig waren (RVG-VV-7000 1c), kann dahinstehen.“