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beA II: Anwendungsbereich der Formvorschriften, oder: Kostenfestsetzungsantrag „in eigener Sache“

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Und als zweite Entscheidung kommt dann der OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 18.01.2024 – 18 W 120/23, der sich zum Kostenfestsetzungsantrag des Rechtsanwalts äußert, wenn der in eigenen Sachen tätig wird. Die Entscheidung hätte auch an einem RVG-Tag „gepasst“, aber sie „passt“ wegen des Sachzusammenhangs auch heute.

Gestritten worden ist nach einem zivilgerichtlichen Verfahren im Rahmen einer sofortigen Beschwerde gegen einen Kostenfestsetzungsbeschluss über das Erfordernis der Einreichung des Kostenantrags als elektronisches Dokument nach § 130d ZPO. Der Kläger ist Rechtsanwalt und Notar a.D. Er hat sich im Verfahren zuletzt selbst vertreten. Er hat darauf hingewiesen, kein elektronisches Postfach zu besitzen, weil er nur noch zwei Verfahren bearbeiten müsse. Nach mehrfachem Hinweis des LG auf § 130d ZPO hat er sich zwecks Zustimmung zum schriftlichen Verfahren durch Rechtsanwalt B vertreten lassen.

Nach Beendigung des Berufungsverfahrens hat der Kläger unter Verwendung seines Briefbogens als Rechtsanwalt und Notar a.D. einen als Rechtsanwalt unterzeichneten Kostenausgleichsantrag, den Rechtsanwalt B im Auftrag des Klägers per beA an das Gericht übermittelte. Der Beklagte rügte den Antrag wegen Verstoßes gegen § 130a Abs. 3 ZPO als formunwirksam. Auf eine inhaltliche Rüge des Rechtspflegers hin korrigierte der Kläger seinen Kostenausgleichsantrag mit einem erneut durch Rechtsanwalt B per beA übermittelten Antrag. Nach einem Hinweis des Rechtspflegers darauf, dass die Anträge nicht mit dem signierenden Rechtsanwalt übereinstimmten, wiederholte der Kläger seinen zuletzt gestellten Antrag auf seinem Anwaltsbriefpapier per Fax, wobei er bei der Namensangabe unter der Unterschrift die Bezeichnung „Rechtsanwalt“ wegließ.

Das LG hat die vom Beklagten an den Kläger zu erstattenden Kosten festgesetzt. Dagegen wendet sich der Beklagte mit seiner sofortigen Beschwerde, mit der er rügt, der Kläger könne nicht zur Umgehung des gesetzlichen Formerfordernisses seinen Kostenfestsetzungsantrag formfrei als Partei stellen. Solange er als Rechtsanwalt tätig sei, habe er sich des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs zu bedienen. Die sofortige Beschwerde hatte beim OLG Erfolg:

„Sie hat auch in der Sache Erfolg. Der Rechtspfleger hätte den Kostenfestsetzungsbeschluss nicht erlassen dürfen, weil der Kostenfestsetzungsantrag entgegen § 130d ZPO nicht als elektronisches Dokument übermittelt wurde.

Nach § 130d S. 1 ZPO sind vorbereitende Schriftsätze und deren Anlagen sowie schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen, die durch einen Rechtsanwalt (..) eingereicht werden, als elektronisches Dokument zu übermitteln. Die Übermittlung als elektronisches Dokument ist eine von Amts wegen zu prüfende Wirksamkeitsvoraussetzung. Daher ist ein per Fax eingereichter Antrag – vom Sonderfall der technischen Störung nach § 130d S. 2 ZPO abgesehen – als unzulässig abzuweisen (Zöller/Greger, 35. A., § 130d ZPO Rn. 1).

Ein solcher Fall der unzulässigen Einreichung eines Antrags per Fax liegt hier vor.

1. Der sachliche Anwendungsbereich des § 130d S. 1 ZPO ist bei Einreichung eines Kostenfestsetzungsantrags durch einen Rechtsanwalt eröffnet.

a) § 130d S. 1 ZPO kommt allerdings nicht bereits deshalb zur Anwendung, weil ein Antrag nach § 103 ZPO nur durch einen Rechtsanwalt gestellt werden könnte. Für einen Antrag nach § 103 ZPO besteht kein Anwaltszwang, da § 78 Abs. 1 ZPO gemäß §§ 13, 21 Nr. 1 und Nr. 2 RPflG keine Anwendung findet (BGH, Beschluss vom 26. Januar 2006 – III ZB 63/05, Rn. 14, juris).

b) § 130d S. 1 ZPO ist aber deshalb anwendbar, weil es sich bei dem Kostenfestsetzungsantrag um einen „schriftlich einzureichenden Antrag“ im Sinne des § 130d S. 1 ZPO handelt. Zwar besteht für einen Antrag auf Kostenfestsetzung kein zwingendes Schriftformerfordernis; vielmehr kann er nach allgemeiner Meinung auch zu Protokoll der Geschäftsstelle des zuständigen Gerichts erklärt werden (MüKoZPO/Schulz, 6. Aufl. 2020, ZPO § 103 Rn. 38). Dies ändert aber nichts daran, dass ein „schriftlich einzureichender Antrag“ vorliegt.

aa) Bei der Auslegung und Ermittlung des § 130d ZPO tragenden gesetzgeberischen Willens ist die Entwicklung des § 14b Abs. 1 S. 1 FamFG, der sich mit § 130d ZPO deckt, aufschlussreich.

Die durch das Gesetz zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten vom 10. Oktober 2013 eingeführte Vorschrift des § 14b Abs. 1 S. 1 FamFG sah eine Nutzungspflicht für „Anträge und Erklärungen durch einen Rechtsanwalt“ vor. Noch vor Inkrafttreten des Gesetzes zum 1. Januar 2022 wurde die Pflicht zur elektronischen Übermittlung durch das Gesetz zum Ausbau des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten und zur Änderung weiterer prozessrechtlicher Vorschriften vom 5. Oktober 2021 auf „schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen“ beschränkt. In der Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drucks. 19/28399 S. 39 f.) ist zu dieser Beschränkung ausgeführt, dass es sich um eine klarstellende Änderung handele, die erfolge, weil das FamFG im Unterschied zur Zivilprozessordnung kein allgemeines Schriftformerfordernis für Anträge und Erklärungen enthalte. Um den Besonderheiten des FamFG Rechnung zu tragen und Rechtssicherheit zu gewährleisten, werde entsprechend § 130d ZPO die Pflicht zur elektronischen Übermittlung ausdrücklich auf schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen beschränkt. Dabei ist in der Gesetzesbegründung § 64 Abs. 2 FamFG als Beispiel für eine Vorschrift genannt, die ein ausdrückliches Schriftformerfordernis vorsehe. Nach dieser Vorschrift wird eine Beschwerde durch Einreichung einer Beschwerdeschrift oder zur Niederschrift der Geschäftsstelle eingelegt.

Daraus lässt sich schließen, dass der Gesetzgeber mit der Formulierung „schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen“ eine Abgrenzung zu – im FamFG möglichen – mündlichen Anträgen und Erklärungen vornehmen und sowohl schriftlich als auch zur Niederschrift abgegebene Erklärungen erfassen wollte. Dafür spricht auch, dass die Gesetzesbegründung zur Einführung des § 130d ZPO überhaupt nicht auf eine bestimmte Form abstellt, sondern lediglich ausführt „Um den elektronischen Rechtsverkehr zu etablieren, sieht Satz 1 eine Pflicht für alle Rechtsanwälte und Behörden vor, Schriftsätze, Anträge und Erklärungen den Gerichten nur noch in elektronischer Form zu übermitteln.“ (BT-Drs. 17/12634, S. 27). Nach dem Willen des Gesetzgebers soll § 130d S. 1 ZPO umfassend für alle anwaltlichen schriftlichen Anträge und Erklärungen nach der ZPO gelten (BGH, Beschluss vom 24. November 2022 – IX ZB 11/22, Rn. 8, juris).

bb) Auch der Umstand, dass es sich bei dem Kostenfestsetzungsantrag nicht um ein Rechtsmittel, sondern um einen das Kostenfestsetzungsverfahren einleitenden Antrag handelt, führt nach Auffassung des Senats nicht dazu, die Anwendbarkeit des § 130d S. 1 ZPO zu verneinen.

Der Bundesgerichtshof hat sich bislang in mehreren Entscheidungen dazu geäußert, dass zumindest Rechtsmittel/Beschwerden dem Anwendungsbereich des § 130d S. 1 ZPO, § 14b Abs. 1 S. 1 FamFG unterfallen (BGH, Beschluss vom 24. November 2022 – IX ZB 11/22 [Rechtsmittel des Insolvenzverwalters im Insolvenzverfahren]; Beschluss vom 7. Dezember 2022 – VII ZB 200/22 [Einreichung einer Beschwerde nach § 64 Abs. 2 S. 1 FamFG durch Rechtsanwalt]; Beschluss vom 31. Januar 2023 – VIII ZB 90/22 [Einreichung einer Beschwerde nach § 64 Abs. 2 S. 1 FamFG durch anwaltlichen Verfahrenspfleger]; BGH, Beschluss vom 31. Mai 2023 – XII ZB 428/22 [Einreichung einer Beschwerde nach § 64 Abs. 2 S. 1 FamFG durch einen Berufsbetreuer]). Allerdings hat der Bundesgerichtshof in der zuletzt zitierten Entscheidung colorandi causa ausgeführt, der Vergütungsantrag des anwaltlichen Betreuers müsse nicht als elektronisches Dokument eingereicht werden. Dazu heißt es (Rn. 18, juris):

„Der Vergütungsantrag des Betreuers nach § 292 Abs. 1 FamFG unterliegt, auch wenn mit ihm das Vergütungsfestsetzungsverfahren eingeleitet wird, vorbehaltlich (bislang nicht bestehender) abweichender landesrechtlichen Bestimmungen über die Verpflichtung zur Benutzung von Vordrucken (§ 292 Abs. 6 FamFG) keinem zwingenden Schriftformerfordernis. Nach § 25 Abs. 1 FamFG können Anträge und Erklärungen gegenüber dem zuständigen Gericht schriftlich oder zur Niederschrift der Geschäftsstelle abgegeben werden, soweit eine Vertretung durch einen Rechtsanwalt nicht notwendig ist. Werden verfahrenseinleitende Anträge nicht zur Niederschrift der Geschäftsstelle, sondern schriftlich abgegeben, hängt deren Wirksamkeit – anders als nach § 64 Abs. 2 Satz 3 und 4 FamFG bei bestimmenden Schriftsätzen im Beschwerdeverfahren – nicht von der Beachtung zwingender Formvorschriften ab (vgl. § 23 FamFG), zu denen § 14 b Abs. 1 FamFG für Rechtsanwälte hinzutreten könnte. Auch die Gesetzesmaterialien gehen davon aus, dass für den Großteil von Anträgen und Erklärungen in Verfahren nach dem Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit kein Schriftformerfordernis besteht und diese deshalb dem § 14 b Abs. 2 FamFG unterfallen (BT-Drucks. 19/28399 S. 40). Der Betreuer darf seinen Vergütungsantrag deshalb auch dann in gewöhnlicher Schriftform stellen, wenn er als Rechtsanwalt zugelassen ist. Er ist in diesem Fall allerdings verpflichtet, auf Anforderung des Gerichts ein elektronisches Dokument nachzureichen (§ 14 b Abs. 2 Satz 2 FamFG).“

Aus dieser Entscheidung könnte zu folgern sein, dass es für die sachliche Anwendbarkeit des § 130d ZPO darauf ankommt, ob es für den Antrag bzw. die Erklärung bestimmte – über die Schriftlichkeit als solche hinausgehende – Formerfordernisse (wie z.B. bei einer Beschwerde, vgl. § 569 Abs. 2 S. 2 ZPO, § 64 Abs. 2 S. 3 und 4 FamFG) gibt, und § 130d S. 1 ZPO nicht zur Anwendung kommt, wenn ein Antrag ohne jegliche Formerfordernisse auch zu Protokoll der Geschäftsstelle eingelegt werden kann. Dagegen spricht nach Auffassung des Senats jedoch die oben angeführte Gesetzesbegründung zu § 130d ZPO, die ein weites Verständnis hinsichtlich der der Vorschrift unterfallenden Anträge und Erklärungen aufzeigt. Hinzu kommt ein Unterschied zwischen § 130d ZPO und § 14b FamFG. Da das FamFG im Gegensatz zur ZPO kein allgemeines Schriftformerfordernis vorsieht, besteht nach § 14b Abs. 2 FamFG für nicht schriftlich einzureichende Anträge die Möglichkeit der Einreichung eines Antrags in gewöhnlicher Form. Zugleich sieht § 14b Abs. 2 S. 2 FamFG die Verpflichtung vor, auf Anforderung des Gerichts ein elektronisches Dokument nachzureichen. Eine § 14b Abs. 2 FamFG entsprechende Vorschrift enthält die ZPO nicht, was deutlich macht, dass dort grundsätzlich alle (stets) schriftlich einzureichenden Erklärungen und Anträge der Vorschrift des § 130d ZPO unterfallen.

Zudem ist vorliegend zu berücksichtigen, dass es sich bei einem Kostenfestsetzungsverfahren um einen Teil des Rechtsstreits handelt (BGH, Beschluss vom 14. Juli 2011 – V ZB 237/10, Rn. 7, juris), was ebenso dafür spricht, den Kostenfestsetzungsantrag wie sonstige Anträge und Erklärungen zu behandeln und § 130d S. 1 ZPO unterfallen zu lassen.

Danach ist der sachliche Anwendungsbereich des § 130d S. 1 ZPO für einen durch einen Rechtsanwalt eingereichten Kostenfestsetzungsantrag eröffnet.

2. Auch der persönliche Anwendungsbereich des § 130d S. 1 ZPO ist eröffnet.

In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist mittlerweile geklärt, dass für Rechtsanwälte die Pflicht zur elektronischen Übermittlung nach § 130d S. 1 ZPO und § 14b Abs. 1 S. 1 FamFG nicht nur dann besteht, wenn sie einen Beteiligten vertreten, sondern auch dann, wenn sie – z.B. als Verfahrenspfleger (BGH, Beschluss vom 31. Januar 2023, aaO.), Insolvenzverwalter (BGH, Beschluss vom 24. November 2022, aaO.) oder anwaltlicher Berufsbetreuer (BGH, Beschluss vom 31. Mai 2023, aaO.) – berufsmäßig im eigenen Namen auftreten. Der Bundesgerichtshof begründet die generelle Nutzungspflicht für Rechtsanwälte unabhängig von ihrer Rolle im Verfahren mit der auf eine „Nutzungspflicht für Rechtsanwälte“ abstellenden amtlichen Überschrift der Vorschriften, ihrem weit gefassten Wortlaut, der Gesetzesbegründung und dem Zweck der Normen, der für ein statusbezogenes Verständnis der Nutzungspflicht spreche (BGH, Beschluss vom 31. Mai 2023, aaO., Rn. 11 ff.).

Nach dieser Rechtsprechung, der der Senat folgt, war dem Antrag des Klägers vom 20. Juni 2023 entgegen der Auffassung des Landgerichts mangels Übermittlung als elektronisches Dokument und wegen Verstoßes gegen § 130d S. 1 ZPO nicht zu entsprechen. Dabei kann dahinstehen – was der Bundesgerichtshof offen gelassen hat (vgl. BGH, Beschluss vom 31. Mai 2023, aaO., Rn. 16, juris) -, ob § 130d S. 1 ZPO auch dann zur Anwendung kommt, wenn ein Rechtsanwalt bewusst als Privatperson in eigener Sache auftritt, wofür sprechen könnte, dass ein Rechtsanwalt ohnehin über ein besonderes elektronisches Anwaltspostfach verfügen muss und jenseits eines Auftretens in eigener Sache als Privatperson einem Zwang zur elektronischen Kommunikation mit den Gerichten unterliegt (BGH, Beschluss vom 31. Mai 2023, aaO., Rn. 14). Vorliegend hat der Kläger nämlich keine deutliche Trennung von seiner Stellung und seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt vorgenommen. Zwar hat er bei seinem Antrag unter seiner Unterschrift lediglich seinen Namen wiedergegeben und dabei den zunächst vorhandenen Zusatz „Rechtsanwalt“ weggelassen. Er ist aber in der Gesamtschau weiterhin als Rechtsanwalt im eigenen Namen aufgetreten. Denn er hat weiterhin sein Anwaltsbriefpapier verwendet, das im Briefkopf die Bezeichnung „Anwaltskanzlei Vorname1 Nachname1“ enthält und ihn als „Rechtsanwalt Nachname1“ bzw. „Rechtsanwalt und Notar a.D.“ bezeichnet. Zudem macht er neben den Kosten der 1. Instanz entsprechend einer vorgelegten Kostennote seines damaligen Prozessbevollmächtigten bezüglich der Kosten der 2. Instanz eigene Anwaltsgebühren in Form einer Verfahrens- und Terminsgebühr nebst einer Pauschale für Post und Telekommunikation geltend. Damit betrifft sein Antrag gerade seine eigene Stellung und sein Kosteninteresse als Rechtsanwalt. Vor diesem Hintergrund war er gehalten, als Rechtsanwalt die Form des § 130d S. 1 ZPO einzuhalten. Da dies nicht geschehen ist, war der Kostenfestsetzungsantrag unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses als unzulässig abzuweisen.“

Das OLG hat die Rechtsbeschwerde zum BGH – leider – nicht zuzulassen, da die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung habe noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des BGH erfordere (§ 574 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 ZPO). Abweichende obergerichtliche Entscheidungen seien nicht ersichtlich und der sachliche und persönliche Anwendungsbereich des § 130d ZPO sei hinreichend geklärt. Nun ja: Nachdem der BGH im Beschl. v. 31.01.2023 (VIII ZB 90/22) auch, wenn auch „colorandi causa“. etwas zum Kostenfestsetzungsantrag gesagt hat, hätte man dann vielleicht doch gern etwas „Tragendes“ vom BGH gehört.

beA II: Elektronischer Haftantrag erforderlich?, oder: BGH verneint für die Abschiebehaft

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Die zweite Entscheidung kommt auch vom BGH. Ergangen ist der BGH, Beschl. v. 05.12.2023 – XIII ZB 45/22  – in einer Abschiebehaftsache.

In dem Verfahren geht es um eine nigerianische Staatsangehörige, deren Abschiebung anstand. Nachdem eine Abschiebung im Juli 2021 gescheitert war, weil die Betroffene in der ihr zugewiesenen Unterkunft nicht angetroffen werden konnte, wurde sie am 03.032022 von der Polizei vorläufig festgenommen.

Auf den per Telefax übermittelten Antrag der beteiligten Behörde hat das AG dann am 03.03.2022 gegen die Betroffene Haft zur Sicherung der Abschiebung angeordnet. Mit Beschluss vom 06.04.2022 hat das LG die dagegen eingelegte Beschwerde zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde beim BGH verfolgt die Betroffene ihr Begehren weiter.

Die zulässige Rechtsbeschwerde hatte Erfolg. Das LG war von einem zulässigen Haftantrag ausgegangen. Das sieht der BGH auch so, er hat aber eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht angenommen.

Zur Zulässigkeit des Haftantrages führt der BGH aus:

„1. a) Der Haftantrag musste von der beteiligten Behörde entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde nicht gemäß § 14b 1 FamFG als elektronisches Dokument an das Amtsgericht übermittelt werden. Seine Einreichung nach den allgemeinen Vorschriften gemäß § 14b Abs. 2 FamFG reichte aus.

aa) Gemäß § 14b 1 Satz 1 FamFG sind bei Gericht schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen durch einen Rechtsanwalt, einen Notar, eine Behörde oder eine juristische Person des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihr zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse als elektronisches Dokument zu übermitteln. Wird diese Form nicht eingehalten, ist die Erklärung unwirksam (BGH, Beschluss vom 31. Mai 2023 – XII ZB 428/22, MDR 2023, 1133 Rn. 5). Für sämtliche anderen Anträge und Erklärungen, die keinem Schriftformerfordernis unterliegen, ist die elektronische Einreichung nach § 14b Abs. 2 FamFG nur eine Sollvorschrift. Diese Beschränkung der elektronischen Übermittlungspflicht auf schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen beruht auf dem Gesetz zum Ausbau des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten und zur Änderung weiterer Vorschriften vom 5. Oktober 2021 (BGBl. I S. 4607). Damit sollte den Besonderheiten des Familienverfahrensrechts Rechnung getragen werden, in dem der Schriftformzwang die Ausnahme bildet (BGH, MDR 2023, 1133 Rn. 6; Gesetzentwurf vom 13. April 2021, BT-Drucks. 19/28399 S. 39 f.).

bb) Nach diesen Maßgaben ist auch auf den Haftantrag § 14b 2 Satz 1 FamFG anzuwenden, da dafür kein gesetzliches Schriftformerfordernis besteht. Ein solches folgt weder aus § 417 FamFG, der die Anforderungen an einen zulässigen Haftantrag regelt, noch aus den allgemeinen Verfahrensvorschriften der §§ 23, 25 FamFG.

(1) Nach § 417 Abs. 1 FamFG darf das Gericht eine Freiheitsentziehung nur auf Antrag der zuständigen Verwaltungsbehörde anordnen. Der Haftantrag ist gemäß § 417 Abs. 2 Satz 1 FamFG zu begründen. Nicht vorgeschrieben ist jedoch, dass der Antrag stets schriftlich zu stellen ist. Dies ergibt sich entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde auch nicht aus den in § 417 Abs. 2 Satz 2 FamFG aufgeführten Anforderungen an den Inhalt der Begründung des Haftantrags. Ein generelles Schriftformerfordernis kann hieraus schon deshalb nicht abgeleitet werden, weil sich der Begründungsumfang jeweils nach den Umständen des Einzelfalls richtet. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann daher ein Haftantrag nicht nur schriftlich, sondern auch im Anhörungstermin zu Protokoll erklärt oder ergänzt werden (vgl. BGH, Beschlüsse vom 29. April 2010 – V ZB 218/09, InfAuslR 2010, 359 Rn. 17; vom 21. Oktober 2010 – V ZB 96/10, juris Rn. 13). Dem steht nicht entgegen, dass der Haftantrag dem Betroffenen zur Wahrung rechtlichen Gehörs vor seiner Anhörung in vollständiger Abschrift ausgehändigt werden muss und dies auch für etwaige protokollierte Nachträge gilt (BGH, Beschlüsse vom 11. Oktober 2012 – V ZB 274/11, InfAuslR 2013, 77 Rn. 6 f.; vom 10. November 2020 – XIII ZB 69/19, juris Rn. 14 ff.; vom 11. Juli 2023 – XIII ZA 3/23, juris Rn. 13). Soweit sich daraus das Erfordernis einer Schriftlichkeit ergibt, entstammt dies nicht einem gesetzlichen Wirksamkeitserfordernis gemäß § 14b Abs. 1 FamFG, sondern leitet sich aus den nach Art. 103 Abs. 1 GG an das Verfahren zu stellenden Anforderungen ab.

(2) Auch die allgemeinen Verfahrensvorschriften der §§ 23, 25 FamFG enthalten kein gesetzliches Schriftformerfordernis im Sinn des § 14b Abs. 1 FamFG. Nach § 23 Abs. 1 Satz 1 und Satz 5 FamFG soll ein verfahrenseinleitender Antrag begründet und von dem Antragsteller oder seinem Bevollmächtigten unterschrieben werden. Nach § 25 Abs. 1 FamFG können die Beteiligten Anträge und Erklärungen gegenüber dem zuständigen Gericht schriftlich oder zur Niederschrift der Geschäftsstelle abgeben, soweit eine Vertretung durch einen Rechtsanwalt nicht notwendig ist. Werden verfahrenseinleitende Anträge nicht zur Niederschrift der Geschäftsstelle, sondern schriftlich abgegeben, hängt deren Wirksamkeit – anders als nach § 64 Abs. 2 Satz 3 und 4 FamFG bei bestimmenden Schriftsätzen im Beschwerdeverfahren – daher nicht von der Beachtung zwingender Formvorschriften ab, zu denen § 14b Abs. 1 FamFG für eine Behörde hinzutreten könnte (vgl. BGH, Beschluss vom 31. Mai 2023 – XII ZB 428/22, MDR 2023, 1133 Rn. 18). Auch die Gesetzesmaterialien gehen davon aus, dass für den Großteil von Anträgen und Erklärungen in Verfahren nach dem Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit kein Schriftformerfordernis besteht und diese deshalb § 14b Abs. 2 FamFG unterfallen (BT-Drucks. 19/28399 S. 40).“

beA I: Beschwerdeschrift der Staatskasse elektronisch, oder: Gleiches Recht für alle….

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Und zum Wochenschluss dann der „Kessel Buntes“, und zwar heute mit zwei Entscheidungen des BGH zum beA.

Hier kommt zunächst der BGH, Beschl. v. 08.11.2023 – XII ZB 72/23 . Für den gilt:

Gleiches Recht für alle, also auch für die Staatskasse. Das ist nämlich das Fazit aus dem Beschluss des BGH. Der BGh hat in ihm zu den formellen Anforderungen an die Beschwerdeschrift der Staatskasse nach dem FamFG Stellung genommen und sagt: Die Einlegung der Beschwerde durch die Staatskasse erfordert im Fall der Einreichung einer Beschwerdeschrift nach §§ 64 Abs. 2 S. 1, 14b Abs. 1 FamFG die elektronische Übermittlung:

„2. Die Beschwerde der Staatskasse ist nicht formgerecht eingelegt worden.

a) Als bestimmender Schriftsatz ist die Beschwerde, wenn sie durch einen Rechtsanwalt, einen Notar, eine Behörde oder eine juristische Person des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihr zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse eingereicht wird, seit dem 1. Januar 2022 gemäß § 14 b Abs. 1 Satz 1 FamFG als elektronisches Dokument zu übermitteln. Wird diese Form nicht eingehalten, ist die Erklärung unwirksam und wahrt die Rechtsmittelfrist nicht (Senatsbeschluss vom 31. Mai 2023 – XII ZB 428/22FamRZ 2023, 1577 Rn. 5; BGH Beschluss vom 31. Januar 2023 – XIII ZB 90/22FamRZ 2023, 719 Rn. 13).

Die Pflicht zur elektronischen Übermittlung gilt auch in Betreuungs- und Unterbringungsverfahren. Denn für die einzureichenden Anträge und Erklärungen ist § 14 b FamFG ohne Bereichsausnahme einschlägig (vgl. Senatsbeschluss vom21. September 2022 – XII ZB 264/22FamRZ 2022, 1957 Rn. 8).

Die Beschwerdeeinlegung nach § 64 Abs. 2 Satz 1 FamFG wird vom sachlichen Anwendungsbereich des § 14 b Abs. 1 FamFG erfasst (vgl. Senatsbeschlüsse vom 31. Mai 2023 – XII ZB 428/22FamRZ 2023, 1577 Rn. 7 f. und vom 7. Dezember 2022 – XII ZB 200/22FamRZ 2023, 461 Rn. 7 mwN). Im Vergütungsfestsetzungsverfahren gilt nichts Abweichendes (vgl. Senatsbeschlüsse vom 31. Mai 2023 – XII ZB 428/22FamRZ 2023, 1577 Rn. 8 und vom 7. Dezember 2022 – XII ZB 200/22FamRZ 2023, 461 Rn. 8).

b) Der in § 14 b Abs. 1 FamFG verwendete Begriff „juristische Person des öffentlichen Rechts“ schließt die Bundesländer und ihre Behörden ein (vgl. BGH Beschlüsse vom 6. April 2023 – I ZB 84/22WM 2023, 1271 Rn. 14 f. und vom 1. Juni 2023 – I ZB 80/22WM 2023, 1467 Rn. 17 f. zum Vollstreckungsverfahren; OLG Bamberg FamRZ 2023, 459 und JurBüro 2022, 667 f. je zu § 130 d ZPO; Sternal/Sternal FamFG 21. Aufl. § 14 b Rn. 9; BeckOK FamFG/Burschel/Perleberg-Kölbel [Stand: 1. August 2023] § 14 b Rn. 9; Fritzsche NZFam 2022, 1, 3). Erfasst werden sollen alle Behörden (vgl. BT-Drucks. 17/12634 S. 27 zu § 130 d ZPO).

c) Nach den vorstehenden Grundsätzen fehlt es an einer formwirksamen Einlegung der Beschwerde. Die Staatskasse hat die Beschwerde nicht als elektronisches Dokument übermittelt. Auch die Voraussetzungen einer zulässigen Ersatzeinreichung sind nicht gegeben. Die Staatskasse hat ebenfalls nicht von der Möglichkeit des § 64 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 FamFG Gebrauch gemacht, die Beschwerde zu Protokoll der Geschäftsstelle zu erklären.

aa) Die Staatskasse fällt in den persönlichen Anwendungsbereich des § 14 b Abs. 1 FamFG. Sie ist zwar keine Behörde im Sinne des § 8 Nr. 3 FamFG, weil sie nicht in Verfahrensstandschaft für und gegen den jeweiligen Rechtsträger handelt (vgl. hierzu: Prütting/Helms/Prütting FamFG 6. Aufl. § 8 Rn. 21 mwN), aber sie vertritt den Rechtsträger als solchen (A.I.1.c. der Anordnung über die Vertretung des Landes Brandenburg im Geschäftsbereich des Ministers der Justiz – Vertretungsordnung JM Brdbg – vom 9. Juni 1992 [JMBl. S. 78], zuletzt geändert durch Allgemeine Verfügung vom 15. Juli 2019 [JMBl. S. 134]; vgl. auch OLG Bamberg FamRZ 2023, 459, 460 und JurBüro 2022, 667 f. je zu § 5 Abs. 1 Nr. 7 lit. c der Verordnung über die gerichtliche Vertretung des Freistaates Bayern vom 26. Oktober 2021 – VertV, GVBl. S. 610).

bb) Auch war nicht ausnahmsweise die Übermittlung nach den allgemeinen Vorschriften in Schriftform oder per Telefax gemäß § 14 b Abs. 1 Satz 2 und 3 FamFG zulässig. Die Staatskasse hat nicht im Wege einer Ersatzeinreichung nach dieser Vorschrift dargelegt und glaubhaft gemacht, dass die Übermittlung als elektronisches Dokument aus technischen Gründen vorübergehend nicht möglich war.“

Dürfte dann wohl auch für andere Verfahrensordnungen gelten. Zur Nutzungspflicht für die Staatsanwaltschaft im Vollstreckungsverfahren LG Gera, Beschl. v. 06.10.2022 – 7 T 234/22.

beA: Zeitreserven für Synchronisation von Computern, oder: Verschulden, wenn ein Zeitpolster fehlt

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Und heute dann im „Kessel Buntes“ zwei Entscheidungen aus dem Verfahrensrecht.

Ich beginne mit einer weiteren Entscheidung zum beA. Die kommt aus einem Verwaltungsverfahren, das in Baden-Württemberg anhängig war.

Nach dem Sachverhalt hatte der Kläger an einer ihm gehörenden Villa Umbauarbeiten vorgenommen, obwohl die Villa im Denkmalbuch stand. Der Kläger hat versucht, die Villa aus dem Denkmalbuch löschen zu lassen. Außerdem hatte er in einem anderen Verfahren beantragt festzustellen, dass die Villa kein Kulturdenkmal darstelle, oder hilfsweise, dass die Umbauarbeiten im Nachhinein genehmigt werden.

Das VG hat beide Klagen am selben Tag abgewiesen. Der Kläger hat dann in beiden Verfahren beantragt, die Berufung zuzulassen. In dem Verfahren betreffend Löschung aus dem Denkmalbuch übersandte sein Prozessbevollmächtigter die Begründung seines Antrags eine halbe Stunde vor Fristablauf. Die Begründung für den zweiten Antrag ging drei Minuten nach Fristablauf beim VGH ein.

Der Kläger hat Wiedereinsetzung beantragt und dazu vorgetragen:  Der Kartenleser für den beA-Zugang habe schon am Mittag nicht funktioniert. Deshalb sei ein Gerät eines Kollegen installiert worden, um sich ins beA einloggen zu können. Der Funktionstest auf der zweiten Ebene – Citrix Workspace (eine digitale Arbeitsumgebung) – sei aber negativ ausgefallen. Die Ursache dafür habe wohl in dem Server gelegen, der außerhalb der Kanzlei arbeitete. Er habe deshalb den Schriftsatz erstellen, dann in der Cloud abspeichern und dann über beA versenden wollen. Diese „Synchronisation“ dauere an sich nur wenige Sekunden. Im Verfahren „Denkmalbuch“ habe das auch geklappt. Dann habe er sich den Wecker auf fünf vor Mitternacht gestellt, um bis dahin noch an dem Schriftsatz zu arbeiten. Als es dann zur Versendung gekommen sei, habe die Synchronisation wesentlich länger als erwartet gedauert.

Der VGH Baden-Württemberg hat den Antrag mit dem VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 14.12.2023 – 1 S 1173/23 – zurückgewiesen:

„2. Der Antrag des Klägers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 60 Abs. 1 VwGO ist abzulehnen, weil sein Prozessbevollmächtigter nicht ohne Verschulden verhindert war, die gesetzliche Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO, einzuhalten.

a) Verschuldet i.S.v. § 60 Abs. 1 VwGO ist eine Fristversäumnis, wenn der Beteiligte die Sorgfalt außer Acht gelassen hat, die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden Prozessführenden geboten ist und die ihm nach den gesamten Umständen des konkreten Falles zuzumuten ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 23.02 2021 – 2 C 11/19 – juris Rn. 6, m.w.N.). Dabei ist ihm ein Verschulden seines Prozessbevollmächtigten zuzurechnen (§ 173 VwGO i. V. m. § 85 Abs. 2 ZPO). Die „Beweislast“ für die Umstände, die dafür sprechen, dass die Fristversäumnis unverschuldet war, liegt bei dem Betroffenen, der die Wiedereinsetzung begehrt (vgl. BVerwG, Beschl. v. 25.05.2010 – 7 B 18/10 – juris Rn. 4, m.w.N.). Gelingt die Glaubhaftmachung nicht oder bleibt nach den glaubhaft gemachten Tatsachen zumindest die Möglichkeit offen, dass die Fristversäumung von dem Beteiligten bzw. seinem Prozessbevollmächtigten verschuldet war, so kann Wiedereinsetzung nicht gewährt werden (BVerwG, Beschl. v. 25.09.2023 – 1 C 10/23 – juris Rn. 12; BGH, Beschl. v. 01.03.2023 – XII ZB 228/22 – juris Rn. 13).

Prozessuale Fristen – wie des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO – dürfen bis zu ihrer Grenze ausgenutzt werden (st. Rspr., vgl. BVerfG, Kammerbeschl. v. 14.02.2023 – 2 BvR 653/20 – juris Rn. 22, m.w.N.; Beschl. v. 15.01.2014 – 1 BvR 1656/09 – juris Rn. 37; BVerwG, Beschl. v. 25.09.2023, a.a.O. Rn. 15, m.w.N.). Einem Verfahrensbeteiligten kann daher nicht vorgeworfen werden, dass er bis zum letzten Tag der Frist abwartet, ehe er eine fristgebundene prozessrechtliche Erklärung abgibt. Wird eine Rechtsmittelfrist oder die Begründungsfrist bis zum letzten Tag ausgeschöpft, so treffen den Verfahrensbeteiligten allerdings erhöhte Sorgfaltspflichten. Er muss alle gebotenen und zumutbaren Maßnahmen treffen, um die Gefahr einer Fristversäumnis zu vermeiden. Ein pflichtbewusster Rechtsanwalt ist daher kurz vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist verpflichtet, jedes Risiko zu meiden, das zu einer Fristversäumung führen oder beitragen kann (BVerfG, Kammerbeschl. v. 02.07.2014 – 1 BvR 862/13 – juris Rn. 4, m.w.N.; BVerwG, Beschl. v. 25.05.2010, a.a.O.Rn. 6, m.w.N.; BGH, Beschl. v. 09.05.2006 – XI ZB 45/04 – juris Rn. 8 ff.).

Eine Fehlfunktion technischer Einrichtungen in der Anwaltskanzlei entlastet den Rechtsanwalt (nur) dann, wenn die Störung plötzlich und unerwartet aufgetreten ist und durch regelmäßige Wartung der Geräte nicht hätte verhindert werden können (BGH, Beschl. v. 18.02.2020 – XI ZB 8/19 – juris Rn. 12; Beschl. v. 15.12.2022 – I ZB 35/22 – juris Rn. 13). Dabei ist ein Rechtsanwalt bei Ausschöpfung einer Frist bis zum letzten Tag zwar nicht verpflichtet, die technischen Systeme stets vorsorglich auf dessen Funktionsfähigkeit zu überprüfen. Er missachtet aber dann die gebotene Sorgfalt, wenn er wegen eines Versagens des technischen Systems konkreten Anlass dafür hat, an dessen verlässlicher Funktionstauglichkeit zu zweifeln (BGH, Beschl. v. 16.11.2016 – VII ZB 35/14 – juris Rn. 13; Beschl. v. 18.02.2020, a.a.O. Rn. 12; je zum Telefax).

Bei der Übersendung von Schriftsätzen mittels Telefax muss der Versender Verzögerungen berücksichtigen, mit denen üblicherweise zu rechnen ist, wozu schwankende Übertragungsgeschwindigkeiten oder die Belegung des Telefax-empfangsgeräts bei Gericht durch andere eingehende Sendungen gehören, und daher einen über die zu erwartende Übermittlungsdauer der zu faxenden Schriftsätze samt Anlagen hinausgehenden Sicherheitszuschlag in der Größenordnung von 20 Minuten einkalkulieren (st. Rspr., BVerwG, Beschl. v. 25.09.2023, a.a.O. Rn. 17, m.w.N.).

Auch im elektronischen Rechtsverkehr muss mit einer nicht jederzeit reibungslosen Übermittlung gerechnet werden, und können z.B. Schwankungen bei der Internetverbindung oder eine hohe Belastung des Servers kurz vor Mitternacht etwa wegen einer großen Anzahl eingehender Nachrichten oder wegen der Durchführung von Software-Updates zu Verzögerungen führen, die einzukalkulieren sind (BVerwG, Beschl. v. 25.09.2023, a.a.O. Rn. 18; HessVGH, Beschl. v. 24.08.2022 – 4 A 149/22.Z – juris Rn. 10; OLG Frankfurt, Beschl. v. 03.11.2021 – 6 U 131/21 – juris Rn. 14). Dem ist durch eine zeitliche Sicherheitsreserve bei der Übermittlung fristgebundener Schriftsätze Rechnung zu tragen (BVerwG, Beschl. v. 25.09.2023, a.a.O. Rn. 18f.).

b) Nach diesem Maßstab ist die Versäumung der Begründungsfrist nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO hier verschuldet. Ein Verschulden liegt in mehrfacher Hinsicht vor. Jeder dieser Sorgfaltsverstöße führt bereits je für sich zur Ablehnung der Wiedereinsetzung nach § 60 Abs. 1 VwGO.

aa) Auch im elektronischen Rechtsverkehr muss, wie ausgeführt, durch einen pflichtgemäß handelnden Rechtsanwalt eine zeitliche Sicherheitsreserve bei der Übermittlung fristgebundener Schriftsätze einkalkuliert werden. Dabei ist eine Zeitspanne von unter sieben Minuten für die Übermittlung über das besondere elektronische Anwaltspostfach bei einer nur ca. 280 KB umfassenden Datei zu knapp bemessen (BVerwG, Beschl. v. 25.09.2023, a.a.O. Rn. 18f.). Zu knapp kalkuliert ist daher auch – wie hier – eine Zeitspanne von weniger als fünf Minuten für eine Datei von ca. 300 KB. Das Vorsehen eines so kurzen Zeitraums für die Übermittlung ist auch angesichts des vom Prozessbevollmächtigten geltend gemachten Vertrauens auf eine vergleichbar schnelle Versendung wie im Verfahren 1 S 1126/23 ein Verschulden i.S.v. § 60 Abs. 1 VwGO. Maßgeblich ist auch bei Erfahrungswerten eines Prozessbevollmächtigten die unter normalen Umständen zu erwartende Übermittlungsdauer zuzüglich eines Sicherheitszuschlags (BGH, Beschl. v. 27.09.2018 – IX ZB 67/17 – juris Rn. 20, 21). Zudem beruft sich der Prozessbevollmächtigte hier nur auf den „Erfahrungswert“ aus einem einzigen anderen Verfahren.

Liegt mithin bereits mangels Einkalkulierens einer ausreichenden zeitlichen Sicherheitsreserve eine Sorgfaltspflichtverletzung vor, so kommt es nicht auf die Frage an, ob eine – wie hier geltend gemacht – unvorhersehbare und unvermeidbare Störung der Hard- oder Software des Computersystems in der Anwaltskanzlei vorlag (BVerwG, Beschl. v. 25.09.2023, a.a.O. Rn. 22).

bb) Ein Verschulden i.S.v. § 60 Abs. 1 VwGO ist es auch, die für das Erstellen des fristgebundenen Schriftsatzes notwendige Synchronisation zwischen dem lokalen PC des Anwalts und einem Arbeitssystem auf einem Server in einem weit entfernten Rechenzentrum erst fünf Minuten vor dem Fristende durchzuführen. Diese Synchronisation ist auf Leitungen außerhalb der Kanzlei und die Übermittlung über Internetverbindungen angewiesen. Daher müssen bei sorgfältigem Handeln – wie bei der Übermittlung von Schriftsätzen an das Gericht per Telefax oder im elektronischen Rechtsverkehr – ausreichende Zeitreserven eingeplant werden. Dies hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers hier pflichtwidrig unterlassen.

Der Umstand, dass diese Synchronisation im Verfahren 1 S 1126/23 um 23:28 Uhr innerhalb weniger Sekunden funktionierte und der IT-Mitarbeiter xxx dem Prozessbevollmächtigten mitgeteilt hatte, dass eine in der zweiten Ebene in OneDrive gespeicherte Datei mit der hier zu erwartenden Größe von ca. 300 KB in aller Regel sofort synchronisiert werde, d.h. innerhalb weniger Sekunden (maximal binnen einer Minute) auf der ersten Ebene zur Verfügung stehe, entlastet den Prozessbevollmächtigten nicht. Denn zwischen dem Kanzleistandort mit lokalen PCs und einem Server in einem weit entfernten, externen Rechenzentrum ist mit Übertragungsproblemen und schwankenden Internetverbindungen zu rechnen. Dieses Risiko hat der pflichtbewusste Rechtsanwalt kurz vor Fristende zu meiden.

cc) Ein weiteres Verschulden i.S.v. § 60 Abs. 1 VwGO liegt darin, dass der Prozessbevollmächtigte am 14.08.2023 für die Erstellung des Schriftsatzes mit der Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung keinen anderen sichereren Weg wählte, als am Nachmittag nicht aufzuklärende technische Probleme auf der zweiten Ebene des Computersystems auftraten. Beim Funktionstest mit dem externen IT-Mitarbeiter xxx am Tag des Fristablaufs zwischen 15 und 16 Uhr fiel der Funktionstest auf der zweiten Ebene negativ aus und wurde die Karte auf der zweiten Ebene im beA-Portal nicht erkannt, während der Kartenleser auf der ersten Ebene, auf dem lokalen PC funktionierte. Der IT-Mitarbeiter xxx konnte selbst nicht nachvollziehen, warum das Kartenlesegerät nur auf der ersten, nicht aber auf der zweiten Ebene funktionierte. Das Computersystem der Kanzlei funktionierte auf der zweiten Ebene mithin nicht störungsfrei. Wenn solche Störungen auftreten, erhöhen sich die Sorgfaltspflichten des Rechtsanwalts und ist er verpflichtet, parallele Sicherungsmaßnahmen durchzuführen (BGH, Beschl. v. 27.01.2015 – II ZB 21/13 – juris Rn. 10 ff., zu Sicherungsmaßnahmen bei eingeschränktem Zugriff auf den Fristenkalender auf einem externen Server). Zu einer solchen Sicherungsmaßnahme hätte hier gehören können, den fristgebundenen Schriftsatz ausschließlich auf dem lokalen PC zu erstellen. Dies hat der Prozessbevollmächtigte pflichtwidrig unterlassen.“

beA II: Der Anwalt ist früh zum Termin unterwegs, oder: Die „verwaiste“ Kanzlei/das „unbeaufsichtigte“ beA

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Und als zweite Entscheidung dann das LG München I, Urt. v. 10.10.2023 – 15 O 7223/23.

In dem Verfahren ging es um Reisekostenerstattung eine Rechtsanwalts, der aus Lübeck zu einem Gütetermin vor dem ArbG München angereist war. Der Termin war für den 12.01.2022 um 15.15 Uhr angesetzt worden. Der Termin wurde am 11.01.2022 aufgehoben, weil die Klage nicht wirksam zugestellt war. Diese Terminaufhebung wurde dem Rechtsanwalt am 11.01.2022 um 10.39 Uhr in sein beA zugestellt. Telefonisch informiert worden ist er.

Gestritten worden ist dann um die Reisekosten Lübeck – München. Der Rechtsanwalt hat vorgetragen, dass er am 11.01.2022 um 9.00 Uhr mit seinem Pkw von Lübeck aus die Reise nach München angetreten habe. Sein beA habe er während Fahrt nicht kontrollieren können. In seiner Kanzlei sei niemand vor Ort gewesen. Eine Anreise am Verhandlungstag sei ihm wegen der Entfernung nicht zumutbar gewesen. Er habe daher erst nach seiner Ankunft von der Abladung erfahren.

Das LG München I hat die Klage abgewiesen. Begründung: Eigenes Verschulden des Rechtsanwalts. Denn:

„1. Nach § 839 BGB, Art. 34 GG haftet der Dienstherr eines Beamten für Schäden, die dieser durch schuldhafte Verletzung einer Amtspflicht verursacht.

An der tatbestandlich erforderlichen Verletzung einer Amtspflicht fehlt es vorliegend bereits.

Zwar ist richtig, dass grundsätzlich die Beamten der Geschäftsstelle dafür Sorge zu tragen haben, dass den Verfahrensbeteiligten die Abladungsnachricht so rechtzeitig zugeht, dass sie davon noch vor der Anreise zum Termin Kenntnis nehmen können (OLG Dresden, Urteil vom 18.04.2018, 1 U 1509/17; LG Stuttgart, NJW-RR 1989, 190; LG Hannover, NdsRpfl 1993, 192). Das ist vorliegend aber geschehen.

a) Dabei ist zunächst festzuhalten, dass die Terminsaufhebung ohne Verzögerungen beschlossen wurde. Die Information, dass der Termin mangels wirksamer Zustellung nicht wahrgenommen werden kann, stammte vom 10.01.2022, 15.30 Uhr. Der richterliche Beschluss stammt vom 11.01.2022 und wurde dem Klägervertreter unstreitig um 10.39 Uhr zugestellt.

Dass eine frühere Beschlussfassung bzw. ein früherer Versand möglich gewesen wäre und pflichtwidrig (und überdies schuldhaft) unterlassen wurde, ist klägerseits weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

Demnach war eine frühere Information des Klägervertreters nicht möglich.

b) Eine Amtspflichtverletzung der Beamten des Beklagten ergibt sich auch nicht daraus, dass der Klägervertreter nicht telefonisch über die Terminsaufhebung informiert wurde. Denn dies war nicht geboten.

Vielmehr konnten die Beschäftigten der Geschäftsstelle des Arbeitsgerichts ohne weiteres darauf vertrauen, dass den Klägervertreter die Nachricht von der Aufhebung des Termins unverzüglich, jedenfalls aber rechtzeitig erreicht.

Wie der Beklagte richtig ausführt, handelt es sich bei dem Versand mittels beA um die schnellstmögliche Übermittlungsmethode und zwar sogar unabhängig davon, ob der Klägervertreter in der Kanzlei weilt oder nicht. Denn beA ist auch mobil abrufbar und über eingehende Nachrichten kann beA bei Aktivierung dieser Funktion unmittelbar einen beliebigen E-Mail-Adressaten informieren.

Das blieb unstreitig.

Die Beschäftigten des Beklagten mussten nicht damit rechnen, dass

– der Klägervertreter für einen Termin am 12.01.2022 um 15.15 Uhr bereits am Vortag       um 9.00 Uhr morgens abreist und außerdem

– die gesamte Kanzlei ab diesem Zeitpunkt verwaist ist und überdies

–  der Klägervertreter für den Empfang einer mittels beA übermittelten Nachricht nicht gesorgt hatte.

Auch wenn die Distanz Lübeck – München nahezu durch die gesamte Republik führt, war es bereits fernliegend anzunehmen, der Klägervertreter würde für einen Termin um 15.15 Uhr bereits am Vortrag um 9.00 Uhr abreisen. Naheliegend wäre gewesen, dass der Klägervertreter eine Flugverbindung vom nahegelegenen Hamburg nach München am Terminstag wählt. Alternativ wäre zu erwarten gewesen, dass er eine Zugverbindung von Lübeck nach München wählt, die für ihn eine Abfahrt gegen 7.00 Uhr am Terminstag bedeutet hätte (hierauf hatte das Gericht hingewiesen). Selbst im Falle der Nutzung des eigenen Pkw wäre nicht zu erwarten gewesen, dass der Klägervertreter am Morgen des Vortages aufbricht. Ebenso wenig war für die Geschäftsstelle absehbar, dass die Kanzlei des Klägervertreters in dieser Zeit gänzlich verwaist war und weder eine Kanzleikraft noch er selbst (über einen mobilen Zugang) von eingehenden beA-Nachrichten Kenntnis erhält.

Die vom Kläger bemühte Entscheidung des Oberlandesgerichts Dresden vom 18.04.2018, Az. 1 U 1509/17, steht diesem Ergebnis nicht entgegen. Die Entscheidung stammt aus einer Zeit vor Einführung des besonderen elektronischen Anwaltspostfaches. Das Gericht hat entschieden, dass bei einer drei Tage vor dem Termin auf dem Postwege versandten Abladung nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden könne, dass diese (wie notwendig) den Anwalt noch am Vorabend des Termins erreiche. Nach Auffassung des OLG Dresden wäre eine Benachrichtigung per Telefon oder per Telefax notwendig gewesen, mithin ein Kommunikationsweg, der die sofortige Kenntnisnahme ermöglicht. Einen solchen Kommunikationsweg hatte das Arbeitsgericht München hier mit beA gerade gewählt und zwar zu einem Zeitpunkt, zu dem das Arbeitsgericht unter jedem denkbaren Blickwinkel davon ausgehen durfte, dass den Klägervertreter die Nachricht möglichst rechtzeitig erreicht (siehe vorstehend).“

Nun ja, kann man so sehen, kann man aber auch anders sehen. Ich bin gespannt, was das OLG München dazu sagen wird. Denn es ist Berufung eingelegt.