Archiv für den Monat: Februar 2025

Wiedereinsetzung II: Angestellte „verbaselt“ Fristen, oder: RA muss Fristvermerke in der Handakte prüfen

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Bei der zweiten Entscheidung, die ich heute vorstelle, handelt es sich um den BGH, Beschl. v. 19.12.2024 – III ZB 16/24.

Gestritten wird um die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist und die Verwerfung des Rechtsmittels gegen ein Urteil des Landgerichts, durch das eine auf Zahlung von 397.318 EUR abgewiesen und der Kläger auf die Widerklage der Beklagten zur Zahlung von 49.446,05 EUR nebst Zinsen verurteilt worden ist.

Gegen das am 06.11.2023 zugestellte LG-Urteil hat der Kläger am 06.12.2023 Berufung eingelegt. Mit Schriftsatz vom 08.01.2024 – eingegangen am 09.01.2024 – hat der Kläger beantragt, die Frist zur Berufungsbegründung um einen Monat zu verlängern. Auf den Hinweis des Gerichts, die Berufung könnte unzulässig sein, da die Frist zur Berufungsbegründung am Montag, 08.01.2024, abgelaufen sei, hat der Kläger mit am selben Tag eingegangenem Schriftsatz vom 19.01.2024 wegen der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt.

Zur Begründung seines Antrags hat der Kläger ausgeführt, der Ablauf der Berufungsbegründungsfrist sei von einer ansonsten zuverlässigen Angestellten fälschlicherweise für den 09.10.2024 sowohl in den elektronischen wie auch in den händischen Fristenkalender sowie in die Handakte eingetragen worden. Bei der Vorlage der auf den 02.01.2024 notierten Vorfrist sei der Fehler dem Vertreter des erkrankten Sachbearbeiters aufgefallen, und dieser habe die Angestellte angewiesen, die Fristen in sämtlichen Kalendern mit absoluter Priorität auf den 08.01.2024 zu korrigieren, die Akte zur weiteren Bearbeitung an den zu diesem Zeitpunkt abwesenden Rechtsanwalt S. zu übertragen und für diesen einen Fristverlängerungsantrag vorzubereiten. Der Vertreter habe die Angestellte etwa eine halbe Stunde später gefragt, ob sie die Frist weisungsgemäß abgeändert habe, was diese bejaht habe, und die Korrektur des Handkalenders überprüft. Jedoch habe die Angestellte die Einträge im elektronischen Kalender sowie in der Handakte nicht korrigiert.

Am 08.01. sei die Akte auf Rechtsanwalt S. übertragen worden und die Angestellte habe den Fristverlängerungsantrag vorbereitet. Dabei seien ihr die unterschiedlichen eingetragenen Fristen aufgefallen, und sie habe in der Annahme, die auf den 08.01.2024 korrigierte Frist sei falsch, diese wiederum auf den 09.01.20.24 abgeändert. Die für einen solchen Fall bestehende Weisung, einen Rechtsanwalt zu konsultieren, habe sie wegen einer Vielzahl an zu bearbeitenden Angelegenheiten missachtet. Die Akte habe die Angestellte dem Rechtsanwalt S.  am 08.01.2024 mit dem auf den Folgetag lautenden Fristablaufvermerk vorgelegt und einen vorbereiteten „Verlegungsantrag“ am 09.01.2024 zur Signatur in das elektronische Postausgangsfach des Rechtsanwalts eingesetzt.

Das OLG hat den Antrag auf Wiedereinsetzung zurückgewiesen und die Berufung des Klägers verworfen. Hiergegen wendet sich seine Rechtsbeschwerde, die keinen Erfolg hatte:

„2.  Diese Ausführungen lassen einen Zulassungsgrund (§ 574 Abs. 2 ZPO) nicht erkennen. Das Berufungsgericht hat rechtsfehlerfrei angenommen, dass die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist auf einem dem Kläger nach § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnenden Verschulden seines Prozessbevollmächtigten beruht. Dabei kann dahinstehen, ob der Vertreter des Sachbearbeiters angesichts der besonderen Umstände bereits am 2. Januar 2024 gehalten gewesen wäre, einen Fristverlängerungsantrag zu stellen. Jedenfalls hat es der sachbearbeitende Rechtsanwalt am 8. Januar 2024 pflichtwidrig versäumt, bei Vorlage der Handakte die falsch notierte Frist zu überprüfen.

Die sorgfältige Vorbereitung einer fristgebundenen Prozesshandlung schließt stets auch die selbständige Prüfung aller gesetzlichen Anforderungen an ihre Zulässigkeit mit ein. Der Rechtsanwalt, der im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Verfahrenshandlung mit einer Sache befasst wird, hat dies deshalb zum Anlass zu nehmen, die Fristvermerke in der Handakte zu überprüfen. Nur hinsichtlich der Fristenberechnung und Fristenkontrolle, die lediglich der rechtzeitigen Vorlage der Akten zum Zweck ihrer Bearbeitung durch den Rechtsanwalt dienen, kann sich der Rechtsanwalt von der routinemäßigen Fristenüberwachung entlasten. Dagegen ist er im Rahmen seiner Vorbereitung einer Prozesshandlung nicht davon befreit, die Einhaltung der maßgeblichen Fristen nochmals zu überprüfen (vgl. Senat, Urteil vom 25. September 2014 – III ZR 47/14, NJW 2014, 3452 Rn. 11 mwN).

Der Kläger hat nicht vorgetragen, dass sein Prozessbevollmächtigter am 8. Januar 2024 eine solche Überprüfung vorgenommen hat. Soweit er sich darauf beruft, ein Rechtsanwalt dürfe darauf vertrauen, dass eine Kanzleiangestellte, die sich bisher als zuverlässig erwiesen habe, eine konkrete Einzelanweisung – hier die Korrektur des Fristeintrags – befolge (Rechtsbeschwerdebegründung S. 9), verkennt er, dass die von ihm angeführte Rechtsprechung (BGH, Beschluss vom 8. März 2022 – VI ZB 78/21, NJW 2022, 1964 Rn. 13 mwN) solche Fälle betrifft, in denen ein vom Rechtsanwalt bereits unterzeichneter und mit einer Korrekturanweisung dem Büropersonal übergebener Schriftsatz nicht mehr in seinen Einflussbereich gelangt (BGH aaO Rn. 14). Dagegen wird der Rechtsanwalt – selbst dann, wenn er sich unmittelbar nach Erteilung einer Weisung überobligationsmäßig über die Befolgung seiner Anordnung vergewissert hat – nicht der Pflicht enthoben, nochmals die richtige Notierung der Frist zu überprüfen, wenn ihm die Akte zur Vorbereitung der fristwahrenden Handlung vorgelegt wird (vgl. Senat aaO Rn. 12).“

Die Haftpflichtversicherung wird sich freuen 🙂 .

Wiedereinsetzung I: Prüfpflicht des Versenders, oder: Wenn der Berufungsbegründungs-Schriftsatz „leer“ ist

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Und dann der Kessel Buntes, heute mit zwei BGH-Entscheidungen zur Wiedereinsetzung. Sie stammen beide aus Zivilverfahren, die Aussagen des BGH haben aber m.E. darüber hinaus Bedeutung.

Zunächst hier der BGH, Beschl. v. 17.12.2024 – II ZB 5/24. Ergangen ist der in einem Verfahren, in dem sich zwei ehemalige Kanzleikollegen nach ihrer Trennung um Erstattungsansprüche streiten. Das AG hat die Klage abgewiesen.

Am letzten Tag der Berufungsfrist geht dann beim LG über das beA des Prozessbevollmächtigten der Klägerin eine Nachricht mit zwei pdf-Anhängen ein. Der eine Anhang enthielt das Urteil des AG: Der der andere – mit Namen „Schriftsatz.pdf“ bezeichnet enthielt ein leeres Blatt.

Es wird dann Wiedereinsetzung beantragt, die der Prozessbevollmächtigte der Klägerin wie folt begründet: Er habe den Schriftsatz entsprechend der Bedienungsanleitung von Word an „RA-Micro“ und dann ans beA übertragen, wovon er sich überzeugt habe. Es sei aber wohl so gewesen, dass bei der Umwandlung der Word- in eine pdf-Datei infolge einer technischen Fehlfunktion eine leere Seite entstanden sei. Dieses technische Problem sei ihm nicht anzulasten.

Das hat das LG anders gesehen und es wird vom BGH in der Rechtsbeschwerde bestätigt:

„…..

Das Berufungsgericht hat zu Recht die Wiedereinsetzung versagt und die Berufung der Beklagten wegen Versäumung der Berufungsfrist als unzulässig verworfen.

b) Die Klägerin hat nicht gemäß § 236 Abs. 2 Satz 1 ZPO glaubhaft gemacht, ohne ein – ihr gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zurechenbares – Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten gemäß § 233 Satz 1 ZPO an der Einhaltung der Berufungsfrist verhindert gewesen zu sein. Sie hat nicht glaubhaft gemacht, dass ihr Prozessbevollmächtigter vor der elektronischen Signatur der PDF-Datei und der Übersendung an das Gericht diese Datei hinreichend überprüft und kontrolliert hat.

aa) Eine aus einem anderen Dateiformat in eine PDF-Datei umgewandelte Rechtsmittel- oder Rechtsmittelbegründungsschrift ist durch den signierenden Rechtsanwalt vor der Übermittlung im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs an das Gericht per besonderem elektronischen Anwaltspostfach darauf zu überprüfen, ob ihr Inhalt dem Inhalt der Ausgangsdatei entspricht. Die anwaltlichen Sorgfaltspflichten im Zusammenhang mit der Übermittlung von fristgebundenen Schriftsätzen im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs über das besondere elektronische Anwaltspostfach entsprechen grundsätzlich denen bei Übersendung von Schriftsätzen per Telefax. Auch bei der Signierung eines ein Rechtsmittel oder eine Rechtsmittelbegründung enthaltenden fristwahrenden elektronischen Dokuments (§ 130a Abs. 3 Satz 1 ZPO) gehört es daher zu den Pflichten eines Rechtsanwalts, das zu signierende Dokument zuvor selbst sorgfältig auf Richtigkeit und Vollständigkeit zu prüfen (BGH, Beschluss vom 8. März 2022­ VI ZB 78/21, NJW 2022, 1964 Rn. 11 mwN). Entscheidend ist, dass das tatsächlich signierte Dokument überprüft wird, was insbesondere auch in den Fällen gilt, in denen eine Datei durch Scan-, Kopier- und Speichervorgänge erneut erstellt wird. Durch diese Vorgänge wird im elektronischen Bereich eine besondere Gefahrenquelle geschaffen, so dass es erforderlich ist, das letztlich zu signierende Dokument zu überprüfen (vgl. BGH, Beschluss vom 8. März 2022­ VI ZB 78/21, NJW 2022, 1964 Rn. 14).

bb) Die Klägerin hat nicht dargelegt, dass ihr Prozessbevollmächtigter eine entsprechende Überprüfung vorgenommen hat. Dieser hat die Berufungsschrift im Word-Programm erstellt. Diese ist als PDF-Dokument abgespeichert und übersendet worden. Dass vor der Signatur das PDF-Dokument von ihrem Prozessbevollmächtigten auf inhaltliche Richtigkeit überprüft worden ist, legt die Klägerin nicht dar. Sie beruft sich vielmehr darauf, dass durch die Umwandlung der DOC-Datei des Programms „MS-Word“ in ein PDF-Format technisch leere Seiten erzeugt werden könnten aufgrund eines technischen Versagens, das ihrem Prozessbevollmächtigten nicht zuzurechnen sei. Hätte dieser jedoch die PDF-Datei nochmals geöffnet, hätte er sehen müssen, dass diese nur eine leere Seite enthielt. Die mangelnde Überprüfung hat dazu geführt, dass die Berufungsfrist wegen der Übersendung der Datei mit der leeren Seite versäumt wurde.“

Ich habe da mal eine Frage: Wie stehen Grundgebühr und Verfahrensgebühr zueinander?

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Im RVG-Rätsel habe ich heute eine Frage, die derzeit häufiger gestellt wird. Die Problematik – wenn es denn eine ist – scheint im Moment in der Praxis häufiger aufzutreten – aus welchen Gründen auch immer. Die Frage heute stammt aus der FB-Gruppe Verteidiger und lautete:

Hallo, ich habe mal eine Abrechnungsfrage?

Am 27.02.23 wurde ich vom Tatrichter am AG beigeordnet.

Am 06.03.23 wurde mir der Beschluss zugestellt (gefertigt: 01.03.)

Am 07.03.23 war ich beim AG, um die Akte abzuholen, aber da war schon der Beschluss, der mir da ausgehändigt wurde, dass am 03.03.23 meine Beinordnung zugunsten eines Kollegen aufgehoben wurde.

Nun hatte ich die 4100 und 4106 abgerechnet.

Der Rechtspfleger will mir die 4106 nicht geben, weil der bloße Beiordnungs-Empfang diese nicht auslösen würde und mein Versuch der Aktenabholung schon nach der Entpflichtung erfolgte.

Es heißt doch immer, dass die Grundgebühr neben der Verfahrensgebühr entsteht.

KFA korrigieren oder auf der 4106 bestehen?“

StrEG II: Teilvollstreckung nach Bewährungswiderruf, oder: Keine Entschädigung nach dem StrEG?

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Die zweite Entscheidung, der schon etwas ältere LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 28.08.2024 – 18 Qs 15/24 -, äußert sich zur Frage der Entschädigung nach dem StrEG bei Teilvollstreckung zwischen dem Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung und der Aufhebung des Widerrufsbeschlusses durch das Beschwerdegericht.

Dazu sagt das LG  mit dem AG: Gibt es nicht:

„2. Die sofortige Beschwerde ist unbegründet.

Wer durch eine strafgerichtliche Verurteilung einen Schaden erlitten hat, wird aus der Staatskasse entschädigt, soweit die Verurteilung im Wiederaufnahmeverfahren oder sonst, nachdem sie rechtskräftig geworden ist, in einem Strafverfahren fortfällt oder gemildert wird, § 1 Abs. 1 StrEG. Unter dem Begriff der Verurteilung ist jede rechtsförmliche Feststellung einer strafrechtlichen Schuld zu verstehen (BeckOK StPO/Cornelius, 52. Ed. 1.7.2024, StrEG § 1 Rn. 1 m.w.N.).

a) Wenn das Gericht die Aussetzung einer Strafe (§ 56 StGB) oder Maßregel (§ 67b StGB) oder eines Strafrestes (§ 57 StGB) oder des Maßregelvollzugs (§ 67 Abs. 2, § 67e StGB) widerruft, die Widerrufsentscheidung aber auf sofortige Beschwerde aufgehoben wird, gibt es für eine Teilvollstreckung zwischen Widerruf und Aufhebung nach ganz herrschender Meinung keine Entschädigung nach dem StrEG (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 11.02.1993 – 1 Ws 92-93/93; LG Karlsruhe, Beschluss vom 23. Oktober 2023 – 11 O 19/23; MüKoStPO/Kunz, 1. Aufl. 2018, StrEG § 1 Rn. 29; Kunz, StrEG, 4. Auflage 2010, § 1 Rn. 29; a. A. OLG Köln, Beschluss vom 23. August 2002 – 2 Ws 372/02). Für Maßnahmen im Bereich der Strafvollstreckung kann nach den Regelungen des StrEG keine Entschädigung verlangt werden (vgl. KG, Beschluss vom 25. Februar 2005 – 5 Ws 67/05; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 5. Juni 1981 – 3 Ws 261/81; Meyer, StrEG, 10. Auflage 2017, § 1 Rn. 15, 15a). Die nachträglichen gerichtlichen Entscheidungen ergehen vielmehr im Rahmen der kriminalpolitischen Zielsetzungen, die das materielle Strafrecht mit dem Bewährungssystem verfolgt. Sie betreffen allein die Vollstreckung, nicht das Urteil (vgl. MüKoStPO/Kunz, 1. Aufl. 2018, StrEG § 1 Rn. 27). Während die Entschädigungspflicht des Staates nach § 1 StrEG voraussetzt, dass eine rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilung später in einem Strafverfahren wegfällt oder gemildert wird, zielt § 2 StrEG auf solche Fälle ab, in denen es trotz vorläufiger Strafverfolgungsmaßnahmen erst gar nicht zu einer Verurteilung gekommen ist. Beide Voraussetzungen liegen bei der Vollstreckung des rechtskräftigen Urteils nicht vor. Das gilt auch dann, wenn das der Strafvollstreckung entgegenstehende Hindernis der Strafaussetzung durch deren Widerruf beseitigt wird. Auch in diesem Fall handelt es sich um die Vollstreckung des rechtskräftigen auf Freiheitsstrafe lautenden Urteils, das weder durch den Widerruf der Strafaussetzung noch durch die Aufhebung dieses Widerrufs in seinem materiellen Inhalt berührt wird. Hinzukommt, dass § 2 StrEG abschließend aufzählt, welche Strafverfolgungsmaßnahmen zu einer Entschädigungspflicht des Staates führen. Die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe nach rechtskräftigem Widerruf der Strafaussetzung bis zu dessen späteren Wegfall zählt nicht dazu (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 11.02.1993 – 1 Ws 92-93/93; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 05.06.1981 – 3 Ws 261/81 für Sicherungshaftbefehl).

b) aa) Die Kammer hat diese Frage in ihrer Entscheidung vom 07.09.2020 (18 Qs 45/20) mangels Entscheidungserheblichkeit noch dahinstehen lassen (Bl. 48), schließt sich der herrschenden Meinung mit deren zutreffenden Argumenten aber an. § 1 Abs. 1 StrEG spricht ausdrücklich von einer strafgerichtlichen Verurteilung als schadenstiftendem Ereignis. Ein Beschluss über den Widerruf der Strafaussetzung nach den §§ 56f StGB; 453 StPO stellt aber kein Urteil im Sinne der §§ 260, 267, 268, 275 StPO und auch nicht einen diesem gleichstehenden (§ 410 Abs. 3 StPO) Strafbefehl dar.

bb) Der – umstrittene – Ansatz, § 1 Abs. 1 StrEG umfasse auch Fälle der Wiedereinsetzung und Rechtskraftdurchbrechung, rechtfertigt keine andere Betrachtung.

(A) Vertreten wird, von § 1 Abs. 1 StrEG würden alle Fälle umfasst, in denen die Rechtskraft nachträglich durchbrochen werde, weil das Gebot materieller Gerechtigkeit der Rechtskraftwirkung vorgehe (MüKoStPO/Kunz, 1. Aufl. 2018, StrEG § 1 Rn. 2). Auch bei einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei der Regelungsbereich von § 1 StrEG eröffnet (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, 66. Aufl. 2023, StrEG § 1 Rn. 2; BeckOK StPO/Cornelius, 52. Ed. 1.7.2024, StrEG § 1 Rn. 6.1; MüKoStPO/Kunz, 1. Aufl. 2018, StrEG § 1 Rn. 21; BayObLG, Beschluss vom 26. Februar 1986, RReg. 4 St 256/85; aA: Meyer, StrEG, 10. Auflage 2017, § 1 Rn. 11). Dafür, dass auch die Wiedereinsetzung in diesem Sinne umfasst sei, sprächen sowohl der Wortlaut von § 1 Abs. 1 StrEG, als auch der Sinn und Zweck des Gesetzes, den Ausgleich eines nicht gerechtfertigten Sonderopfers zu ermöglichen. Dem Beschuldigten, der einer durch das Verfahrensergebnis nicht gedeckten Strafverfolgungsmaßnahme ausgesetzt sei, werde im Allgemeininteresse, nämlich aus Gründen der Strafrechtspflege, ein Sonderopfer auferlegt. Dem Ausgleich der hierdurch verursachten Schäden diene die im StrEG normierte Staatshaftung. Hinsichtlich des dem Verurteilten auferlegten Sonderopfers bedeute es keinen Unterschied, ob die rechtskräftige Strafe nach Wiederaufnahme oder nach Wiedereinsetzung gemildert worden sei (BayObLG, Beschluss vom 26. Februar 1986, RReg. 4 St 256/85).

(B)

(I) Bei rechtlich zutreffender Würdigung der Sach- und Rechtslage lag – entgegen der Annahme des Amtsgerichts im Beschluss vom 15.07.2020 (Bl. 30) – bereits kein Fall der Wiedereinsetzung und Rechtskraftdurchbrechung in diesem Sinne vor, weil bezogen auf den Beschluss vom 11.05.2020 (Bl. 12 ff.) und das Schreiben der Verurteilten vom 18.06.2020 (Bl. 17) keine Frist versäumt wurde (§ 44 StPO).

…..“

StrEG I: Entschädigung wegen erlittener U-Haft, oder: Zumindest grob fahrlässige Mitverusachung?

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Heute ist es Freitag und an den Freitagen geht es immer ums Geld. Dazu gibt es meist RVG-Entscheidung. Heute gibt es die aber nicht. Es geht zwar auch ums Geld, aber es geht um die Strafrechtsentschädigung nach dem StREG. Dazu stelle ich zwei Entscheidungen vor.

Hier kommt zunächst der LG Bonn, Beschl. v. 12.12.2024 – 64 Qs 69/24 – zur Frage einer Strafrechtsentschädigung wegen erlittener Untersuchungshaft. Der ehemalige Beschuldigte hat sich in der Zeit 14.04.2024 bis zum 09.09.2024 in Untersuchungshaft befunden. Gegen ihn war Haftbefehl wegen Vergewaltigung erlassen worden. Der dringende Tatverdacht gegen den Beschwerdeführer gründete „auf den Angaben der Geschädigten, das sonstige Ergebnis der polizeilichen Ermittlungen und „das Geständnis“ des Beschwerdeführers.“ Im Ermittlungsverfahren ist es sowohl hinsichtlich der Angaben der Geschädigten als auch der des Beschuldigten, der zunächst keinen Verteidiger hatte, hin und her gegangen. Wegen der Einzelheiten verweise ich auf den verlinkten Volltext.

Es ist dann schließlich Anklage erhoben worden. Mit Urteil vom 09.09.2024 wurde der Angeklagte dann freigesprochen. Der Haftbefehl gegen ihn wurde aufgehoben. In der Urteilsformel ist ein Ausspruch zur Entschädigungspflicht ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls und der schriftlichen Urteilsgründe unterblieben. In den Urteilsgründen heißt es dann aber:

„Die Staatskasse ist gemäß § 5 Abs. 2 StrEG nicht verpflichtet, den Angeklagten für die erlittene Untersuchungshaft zu entschädigen. Denn der Angeklagte hat die Strafverfolgungsmaßnahme – hier insbesondere die Festnahme und Inhaftierung aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Siegburg vom 15.04.2024 – vorsätzlich oder grob fahrlässig verursacht. Denn der Haftbefehl des Amtsgerichts Siegburg erging auf Grundlage der bis dahin geführten Ermittlungen, insbesondere aufgrund des gegenüber der Polizei durch den Angeklagten eingeräumten Tatgeschehens, welches identisch war mit dem in der Anklageschrift erhobenen Tatvorwurf. Durch seine im Anschluss hieran widersprüchlichen Einlassungen konnte der Angeklagte den Tatvorwurf nicht entkräften, sondern verstärkte den gegen ihn bestehenden Tatverdacht. Erst durch die in der Hauptverhandlung durchgeführte Beweisaufnahme erhärteten sich die Zweifel an dem Tatvorwurf, ohne dass das Gericht von der Richtigkeit der Einlassung des Angeklagten überzeugt war. Da im Übrigen der Haftgrund der Fluchtgefahr auch zu jedem Zeitpunkt des Verfahrens gegeben war;, hat der Angeklagte sowohl durch seine Lebensumstände als auch durch sein eigenes Einlassungsverhalten eine Entschädigung für erlittene Untersuchungshaft grob fahrlässig verwirkt.“

Dagegen die sofortige Beschwerde des Beschuldigten, die Erfolg hatte:

„Die gemäß § 9 Abs. 2 StrEG i.V.m. § 311 Abs. 2 StPO zulässige sofortige Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg.

Die Kammer ist nicht davon überzeugt, dass der Beschwerdeführer seine Inhaftierung durch seine widersprüchlichen und lebensfremd wirkenden Einlassungen mitverursacht hat.

Beurteilungsgrundlage ist nicht das Ergebnis der Hauptverhandlung, sondern es ist regelmäßig darauf abzustellen, wie sich der Sachverhalt in dem Zeitpunkt dargestellt hat, in dem die Maßnahme angeordnet oder aufrechterhalten wurde. Es sind dabei alle zu diesem Zeitpunkt bekannten Umstände zu würdigen und in Beziehung zu dem Verhalten des Beschuldigten und zum jeweiligen Tatvorwurf zu setzen (BVerfG, Beschluss vom 12.09.1995 — 2 BvR 2475/94 -; OLG Düsseldorf, Beschlüsse vom 06.06.2012 — III – 1 Ws 111/12 — sowie vom 25.06.2013 — III – 2 Ws 275/13 -; Meyer-Goßner / Schmitt, 67. Aufl., § 5 StrEG, Rdnr: 10).

Nicht oder nicht mehr ursächlich für die Strafverfolgungsmaßnahme ist das Verhalten des Beschuldigten, wenn die Maßnahme auch ohne sein Verhalten angeordnet worden wäre (Meyer-Goßner / Schmitt, aaO, Rn. 7, mwN).

So liegt der Fall hier. Der Haftbefehl wäre bei vernünftiger Würdigung der den Beschwerdeführer belastenden Aussage der Anzeigeerstatterin und der objektiven Gesamtumstände mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch ohne dessen später widerrufener Angaben in der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung vom 15.04.2024 ergangen.

Auch für die Aufrechterhaltung des Haftbefehls gegen den Beschwerdeführer im Haftprüfungstermin am 25.07.2024 waren dessen widersprüchliche Einlassungen vor dem Hintergrund der bisherigen Ermittlungsergebnisse und der Angaben der Zeugen pp. und pp. nicht ausschlaggebend.

Der Beschwerdeführer hatte sich in eine Situation begeben, die sich im Zeitpunkt der Haftentscheidung ohnehin als in hohem Maße erklärungsbedürftig und verfänglich darstellte, indem er gemeinsam mit einer fremden, sichtlich betrunkenen Frau aus dem Bus an einer ihm nicht bekannten Haltestelle ausstieg und dieser in eine vom Weg aus schlecht einsehbare Weihnachtbaumplantage folgte, wo beide ihre Kleidung infolge des Kontaktes mit dem Gras und Waldboden beschmutzten. Zudem sprachen die Kratzspuren im Gesicht des Beschwerdeführers und die Hilferufe der Geschädigten gegen einen einvernehmlichen Sexualkontakt. Auch der Umstand, dass der Beschwerdeführer sich vom Tatort entfernte, trug nicht eben dazu bei, den Tatverdacht gegen ihn zu verringern.

Angesichts dieser Ausgangssituation und der auf die Ermittlungsbeamten glaubhaft wirkenden Aussage der Geschädigten kam es für die Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft bei der gebotenen ex-ante-Betrachtung schon nicht mehr darauf an, dass der Beschwerdeführer sich in seiner polizeilichen Beschuldigtenvernehmung in erheblichem Maße selbst belastet hat, indem er erklärte, er habe die Anzeigeerstatterin unbedingt küssen wollen und seine Finger in ihre Scheide eingeführt. Als sie Anstalten gemacht habe zu schreien, habe er ihr den Mund zugehalten. Auch seine ausweichende Antwort auf die Frage, ob er nicht gemerkt habe, dass die Frau das nicht gewollt habe, war letztlich für die Haftentscheidung ohne Bedeutung.“

Bei der Gelegenheit: Wer sich fragt, was eigentlich aus der geplanten Novellierung des StREG geworden ist ( vgl. hier: Neues aus Berlin II: Strafverfolgungsentschädigung, oder: Kommt endlich eine Reform des StrEG?): Das lässt sich leicht beantworten, nämlich: Nichts. Die ist im Ampelaus untergegangen. Vielleicht kommt ja dann in der 21. Legislaturperiode wieder etwas.