Archiv für den Monat: Juli 2019

OWi III: Frontmessung mit LEIVTEC XV3 von einer Brücke, oder: Vorsatz ab mehr als 40 km/h

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Und als dritte Entscheidung zum Tagesschluss dann noch der KG, Beschl. v. 31.05.2019 – 3 Ws (B) 161/19. Das KG nimmt zur Messung mit LEIVTEC XV3 von einer Brücke aus Stellung. Und: Es zieht die Zügel beim Vorsatz an:

1. Mit dem Gerät LEIVTEC XV3 dürfen Frontmessungen auch von einem erhöhten Standort durchgeführt werden. Dies schließt die Messung von einer Brücke ein (vgl. Senat, Beschlüsse vom 21. Dezember 2017 – 3 Ws (B) 234/17 – und vom 5. Januar 2018 – 3 Ws (B) 303/17 –). Das Amtsgericht war daher weder unter dem Gesichtspunkt der Amtsaufklärung noch infolge des durch den Betroffenen gestellten Antrags zu weiteren Beweiserhebungen veranlasst. Namentlich war es nicht gehalten, dem Antrag auf Beiziehung der „gesamten Messreihe“ nachzugehen. Die diesbezüglichen Verfahrensrügen sind zumindest unbegründet….

3. Die Verurteilung wegen vorsätzlicher Tatbegehung ist auch sachlich rechtlich fehlerfrei. Bereits bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung von 40% kommt, sofern nicht besondere Umstände eine abweichende Wertung veranlassen, regelmäßig nur Vorsatz in Betracht (std. Rspr. des Senats, vgl. zuletzt Beschluss vom 5. Dezember 2018 – 3 Ws (B) 266/18 – [juris] mwN). Der Hinweis der Rechtsbeschwerde, „Laien“ seien „gerade nicht in der Lage … Geschwindigkeiten sich bewegender Objekte zuverlässig einschätzen zu können“, geht fehl, weil das Amtsgericht den Betroffenen lediglich für überführt angesehen hat, bewusst eine Geschwindigkeitsüberschreitung begangen zu haben. Dass dies – zumindest als rechtlich gleichstehende billigende Inkaufnahme – bei der hier abgeurteilten Geschwindigkeitsüberschreitung um sogar 55% der Fall war, liegt im Sinne des vom Senat in ständiger Rechtsprechung geprägten Erfahrungssatzes (mit einer im Grundsatz tatsächlich widerlegbaren Wahrscheinlichkeitsaussage) auf der Hand. Hier kommt noch hinzu, dass der Betroffene einschlägig vorbelastet war und sogar wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung ein Fahrverbot verbüßt hatte.

Der Senat hält an dem Erfahrungssatz ausdrücklich fest. Er widerspricht, anders als die Verteidigung meint, keinesfalls der durch das OLG Brandenburg am 17. Juni 2014 getroffenen und in VRS 127, 41 veröffentlichten Entscheidung.“

Und: Das KG meint, das AG habe nach einem rechtlichen Hinweis auf Vorsatz nicht die Hauptverhandlung aussetzen müssen:

„….. ist gleichfalls jedenfalls unbegründet. Denn es ist nicht ersichtlich, wie sich der Betroffene, wäre die Hauptverhandlung ausgesetzt worden, erfolgversprechend gegen den neuen Gesichtspunkt hätte verteidigen können. Die von der Rechtsbeschwerde angedachte Beauftragung und Ladung eines „öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen“ wäre bei der hier abgeurteilten Geschwindigkeitsüberschreitung um 55% zur Belegung nur fahrlässiger Tatbegehung gänzlich ungeeignet. Mögen die mit einer derart erhöhten Geschwindigkeit einhergehenden Fahrgeräusche ebenso wie die Fahrzeugvibration messbar und damit einer Beweiserhebung jedenfalls im Grundsatz zugänglich sein, ist dies bei der, wie der Senat in ständiger Rechtsprechung formuliert, schneller „vorbeiziehenden Umgebung“ (vgl. zB Beschluss vom 20. November 2000 – 3 Ws (B) 550/00 – [juris]) nicht in gleicher Weise quantifizierbar möglich. Die Rechtsbeschwerde legt auch keine weitere Möglichkeit dar, mit der sich der Betroffene erfolgversprechend gegen die Annahme vorsätzlicher Tatbegehung verteidigen konnte.“

OWi II: Zurverfügungstellung von Messunterlagen, oder: Beim OLG Karlsruhe gibt es die (jetzt)

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Der Kollege Deutscher weist mich heute morgen gerade auf den OLG Karlsruhe, Beschl. v.- 16.07.2019 – 1 Rb 10 Ss 291/19 – hin. Thematik: Akteneinsicht bzw. Zurverfügungstellen der Messunterlagen. Dazu haben wir obergerichtlich länger nichts mehr gehört. Um so schöne – und auch richtiger – dann der OLG-Beschluss, in dem das OLG ein aus dem dem Gebot des fairen Verfahrens (Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 6 Abs. 1 S. 1 MRK) folgendes Recht des Betroffenen auf Zurverfügungstellung der nicht bei den Akten befindlichen amtlichen Messunterlagen durch die Verwaltungsbehörde bejaht:

„b) Vorliegend wurde die Verteidigung durch den Beschluss, mit dem der Aussetzungsantrages formelhaft zurückgewiesen wurde, rechtfehlerhaft beschränkt, da der Betroffene ein Recht auf Einsicht in die nicht bei den Akten befindlichen amtlichen Messunterlagen hat, die er für die Prüfung des Tatvorwurfs benötigt.

Ein solcher Anspruch ergibt sich – auch beim standardisierten Messverfahren – aus dem Gebot des fairen Verfahrens. Dieses folgt aus dem Rechtsstaatsprinzip (vgl. Art 20 Abs. 3 GG) i. V. m. dem allgemeinen Freiheitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 GG (vgl. BVerfG NJW 1984, 2403) sowie aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK (vgl. Fischer, KK-StPO, 8. Aufl. 2019, Einl. Rn. 111 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, Einl. Rn. 19; § 338 Rn. 59, jeweils mwN). Aus dem Gebot ergibt sich, dass ein Beschuldigter oder Betroffener nicht bloßes Objekt des Verfahrens sein darf, sondern ihm die Möglichkeit gegeben werden muss, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen (vgl. BVerfG NJW 1969, 1423, 1424; NJW 1984, 2403). Das Recht auf ein faires Verfahren enthält indessen keine in allen Einzelheiten bestimmten Gebote und Verbote. Es zu konkretisieren, ist zunächst Aufgabe des Gesetzgebers und sodann, in den vom Gesetz gezogenen Grenzen, Pflicht der zuständigen Gerichte bei der ihnen obliegenden Rechtsauslegung und -anwendung. Erst wenn sich unter Berücksichtigung aller Umstände und nicht zuletzt der im Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes selbst angelegten Gegenläufigkeiten eindeutig ergibt, dass rechtsstaatlich unverzichtbare Erfordernisse nicht mehr gewahrt sind, können aus dem Gebot der Rechtsstaatlichkeit selbst konkrete Folgerungen für die Ausgestaltung des Verfahrens gezogen werden (vgl. BVerfGE 57, 250, 275 f.; BVerfGE 63, 45, 61; OLG Düsseldorf NZV 2016, 140; Fischer, aaO, mwN).

Aus dem Gebot des fairen Verfahrens kann sich nach herrschender Auffassung auch ein Recht auf Einsicht in Akten, Daten o. a. ergeben, welches über das Recht auf Akteneinsicht aus § 147 StPO hinausgeht (BVerfGE 63, 45 [67] = NStZ 1983, 273, mit Anmerkung Peters; Fischer, aaO, insbes. Rn. 116; Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, insbes. § 147 Rn. 18, 19 und 19c). Nach Art. 6 Abs. 3a MRK hat jede angeklagte Person mindestens das Recht, innerhalb möglichst kurzer Frist in einer verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden. Dabei wendet sich das Gebot einer rechtsstaatlichen, insbesondere auch fairen Verfahrensgestaltung nicht nur an die Gerichte, sondern ist auch von allen anderen staatlichen Organen zu beachten, die auf den Gang eines Straf- oder Bußgeldverfahrens Einfluss nehmen, demgemäß auch von der Exekutive, soweit sie sich rechtlich gehalten sieht, bestimmte Beweismittel nicht freizugeben. Die Zurückhaltung von Beweismitteln kann für die Verteidigung trotz formaler Wahrung aller prozessualen Rechte zu erheblichen Nachteilen führen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26.05.1981 – 2 BvR 215/81 = NJW 1981, 1719, zur Unbedenklichkeit des „Zeugen vom Hörensagen“).

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat eine derartige Auswirkung des Verhaltens der Exekutive auf das Strafverfahren nur Bestand, wenn die Einwirkungsmöglichkeiten in einer mit rechtsstaatlichen Grundsätzen übereinstimmenden Weise gehandhabt und der eigenen Beurteilung durch das Gericht nicht weiter entzogen werden, als dies zur Wahrung verfassungsrechtlich geschützter Belange unumgänglich ist (BVerfG, aaO).

Bezogen auf das Bußgeldverfahren wird auf dieser Grundlage die – vom Senat geteilte – überwiegende Ansicht vertreten, dass ein Betroffener danach, insbesondere auch wegen der zu garantierenden „Parität des Wissens“ bzw. der „Waffengleichheit“, gegenüber der Verwaltungsbehörde verlangen kann, dass er Einsicht in die nicht bei den Akten befindlichen (existierenden weiteren) amtlichen, zur Überprüfung der Messung erforderlichen Messunterlagen nehmen kann, um diese mit Hilfe eines privaten Sachverständigen auswerten und auf mögliche Messfehler hin überprüfen zu können, ohne dass bereits konkrete Anhaltspunkte für Messfehler vorliegen oder vom Betroffenen vorgetragen worden sind.

Denn der Betroffene bzw. seine Verteidigung wird ohne Kenntnis aller Informationen, die den Verfolgungsbehörden zur Verfügung stehen, nicht beurteilen können, ob Beweisanträge gestellt oder Beweismittel vorgelegt werden sollen. Das Informations- und Einsichtsrecht des Verteidigers kann daher deutlich weiter gehen als die Amtsaufklärung des Gerichts. Solche weitreichenden Befugnisse stehen dem Verteidiger im Vorfeld der Hauptverhandlung auch und gerade bei standardisierten Messverfahren zu. Denn zum einen gibt es keinen Erfahrungssatz, dass ein standardisiertes Messverfahren unter allen Umständen zuverlässige Ergebnisse liefert (so schon BGHSt 39, 291 = NStZ 1993, 592) und zum anderen hat der Betroffene einen Anspruch darauf, nur aufgrund ordnungsgemäß gewonnener Messdaten verurteilt zu werden, wobei der Anspruch des Betroffenen auf Herausgabe der nicht bei den Akten befindlichen, jedoch existierenden amtlichen Messunterlagen zur umfassenden Überprüfung der Messung – neben dem Gebot des fairen Verfahrens – teilweise auch aus dem Gebot des rechtlichen Gehörs abgeleitet wird (vgl. insbesondere OLG Karlsruhe, Beschluss vom 12.01.2018 – 2 Rb 8 Ss 839/17 = ZfSch 2018, 471, Beschluss vom 03.04.2019 – 2 Rb 8 Ss 194/19 -, juris, und Beschluss vom 08.05.2019 – 2 Rb 7 Ss 202/19 -, juris, jeweils mwN; KG Berlin, Beschluss vom 27.04.2018 – 3 Ws (B) 133/18 = ZfSch 2018, 472, mwN; Saarländisches Oberlandesgericht Saarbrücken, Beschluss vom 24.02.2016 – Ss (Bs) 6/2016 (4/16 OWi) = Verkehrsrecht aktuell 2016, 103; OLG Celle, Beschluss vom 16.06.2016 – 1 Ss (OWi) 96/16 -, juris = StRR 2016, Nr. 8, 18; OLG Oldenburg, Beschluss vom 13.3.2017– 2 Ss [OWi] 40/17 = NZV 2017, 392; Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 8.9.2016 – 53 Ss-OWi 343/16 = StraFo 2017, 31; Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 1.3.2016 – 2 OLG 101 Ss Rs 131/15= NStZ-RR 2016, 186; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 22.07.2015 – 2 Rbs 63/15 = NZV 2016, 140; Verfassungsgerichtshof des Saarlandes, Beschluss vom 27.04.2018 – Lv 1/18 = DAR 2018, 557, vgl. dazu Entscheidungsbesprechung von Cierniak/Niehaus, DAR 2018, 541, mwN; Krenberger, NZV 2018, 282, und ZfSch 2018, 472; Wendt, NZV 2018, 441; Deutscher, DAR 2017, 723). Weit überwiegend bejaht wird der Anspruch auf Einsicht in nicht bei den Akten befindliche Messunterlagen auch in den veröffentlichen Entscheidungen im Vorverfahren gem. § 62 OWiG (vgl. LG Ellwangen, DAR 2011, 418; LG Dessau-Roßlau, Beschluss vom 24.08.2012 – 6 Qs 593 Js 3917/12 -, juris; LG Neubrandenburg, Beschluss vom 30.09.2015 – 82 Qs 112/15 -, juris; LG Trier, Beschluss vom 14.09.2017 – 1 Qs 46/17 -, juris; LG Baden-Baden, Beschluss vom 14.09.2018 – 2 Qs 104/18 -, juris, das zudem darauf hinweist, dass dem Schutzinteresse der von einer Messreihe erfassten anderen Verkehrsteilnehmer durch Anonymisierung ihrer Daten Rechnung getragen werden kann; AG Kassel, Beschluss vom 23.12.2015 – 381 OWi 315/15 -, juris; AG Völklingen, Beschluss vom 13.07.2016 – 6 Gs 49/16 -, juris, das zutreffend darauf hinweist, dass bei einer Herausgabe nicht bei den Akten befindlicher Messunterlagen und Messdaten an den Verteidiger und einen vom Verteidiger beauftragten Sachverständigen datenschutzrechtliche Bedenken nicht entgegenstehen [vgl. dazu auch BGHSt 52, 58 = NStZ 2008, 104]; AG Neunkirchen, Beschluss vom 05.09.2016 – 19 OWi 531/15 -, juris; AG Hannover, Beschluss vom 28.11.2017 – 214 OWi 298/17 -, juris; AG Bitburg, Beschluss vom 27.06.2018 – 3 OWi 66/18; vgl. auch die inzwischen herrschende Meinung in der Literatur: Grube in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl. 2016, OWiG – Bezüge zum Straßenverkehrsrecht Rn. 64; Helle in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl. 2016, § 3 StVO Rn. 58; Leitmeier, NJW 2016, 1457; Reisert, ZfS 2017, 244; Cierniak, ZfS 2012, 664; Cierniak/Niehaus, NStZ 2014, 526; und Cierniak/Niehaus, DAR 2018, 451, die zusammenfassend pointiert darauf hinweisen: „Der Betroffene ist im Rechtsstaat nicht gezwungen, die Ergebnisse der Verwendung standardisierter Messverfahren hinzunehmen („black box“), ohne die Gelegenheit dazu zu haben, die Grundlagen dieser Messung zu kennen und ggf. überprüfen zu lassen… Ob der damit für den Betroffenen (oder dessen Rechtschutzversicherung) verbundene Kostenaufwand als „sinnvoll“ erscheint, ist eine Frage, deren Beantwortung nicht den Gerichten obliegt“).

Soweit das Oberlandesgericht Bamberg einen Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens bzw. Verstoß gegen das rechtliche Gehör bezogen auf die Ablehnung des in der Hauptverhandlung gestellten Beweisermittlungsantrags auf Beiziehung von außerhalb der Akte befindlichen Unterlagen verneint, sind die Sachverhalte nicht vergleichbar, da sich aus diesen Entscheidungen nicht ergibt, dass schon vor der Hauptverhandlung gegenüber der Verwaltungsbehörde und dem Gericht Anträge auf Aushändigung bzw. Einsicht gestellt und negativ beschieden wurden (OLG Bamberg, Beschluss vom 13.06.2018 – 3 Ss OWi 626/18 = NStZ 2018, 724; und Beschluss vom 04.10.2017 – 3 Ss 1232/17 = NZV 2018, 80, jeweils mwN; ebenfalls dieser Auffassung OLG Oldenburg, Beschluss vom 23.07.2018 – 2 Ss (OWi) 197/18 = VRR 2018, Nr. 9, 18-19; AG München, Beschluss vom 16.08.2018 – 953 OWi 155/18 -, juris).

Nach Ansicht des Senats wird die Verteidigung jedenfalls dann unzulässig beschränkt (§§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 338 Nr. 8 StPO), wenn der Betroffene schon bei der Verwaltungsbehörde und sodann vor dem Amtsgericht gemäß § 62 OWiG Antrag auf Einsicht in die nicht bei den Akten befindlichen weiteren amtlichen Messunterlagen erfolglos gestellt hat und sein erneuter, in der Hauptverhandlung gestellter und darauf gerichteter Einsichts- und Aussetzungsantrag durch Beschluss zurückgewiesen wurde und zudem nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Urteil auf diesem Rechtsfehler beruht oder beruhen kann.

Dies ist vorliegend – im Hinblick auf die im Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 27.09.2018 begehrten Unterlagen (gesamte Messreihe und Leitrechnerprotokoll/Verkehrsrechnermitschrieb der Rotlichtüberwachungsanlage) – schon deshalb anzunehmen, weil es keinen Erfahrungssatz gibt, dass ein standardisiertes Messverfahren stets zuverlässige Ergebnisse liefert (KG Berlin, Beschluss vom 27.04.2018 – 3 Ws (B) 133/18 = ZfSch 2018, 472 mwN; vgl. schon BGHSt 28, 235, wonach kein Erfahrungssatz besteht, dass die gebräuchlichen Geschwindigkeitsmessgeräte unter allen Umständen zuverlässige Ergebnisse liefern und der Hinweis, dass die Gerichte vor möglichen Gerätemängeln, Bedienungsfehlern und systemimmanenten Messungenauigkeiten – auch bei Messergebnissen, die mit anerkannten Geräten in einem weithin standardisierten und tagtäglich praktizierten Verfahren gewonnen wurden – nicht die Augen verschließen dürfen).“

Schöne Entscheidung. Sehr schön wäre sie, wenn das OLG die Frage dann endlich an den BGH herangetragen = dem BGH vorgelegt hätte. Dass man das nicht muss, wird wortreich begründet. Warum scheut man das eigentlich?

Aber der Verwaltungsbehörde gibt man mit auf den Weg:

„Die Sicherung des in allen Abschnitten des Bußgeldverfahrens zu beachtenden Fairnessgebots obliegt nicht nur bzw. erst Staatsanwaltschaft und Gericht, sondern zunächst der Bußgeldbehörde, die gehalten ist, dem Betroffenen (bzw. dem Verteidiger oder einem von diesem beauftragten Sachverständigen) die zur Überprüfung des Messergebnisses notwendigen Unterlagen frühzeitig zur Verfügung zu stellen.“

OWi I: Konsequente Folge aus dem VerfG-Saarland-Verdikt, oder: Einstellung des Verfahrens

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Heute dann dreimal OWi. Und zum Auftakt einen kleinen Beschluss des AG Bautzen, den mir der Kollege A. Kaden aus Dresden gestern geschickt hat.

Das AG hat im AG Bautzen, Beschl. v. 18.07.2019 – 43 OWi 620 Js 24643/18 – das Verfahren gegen den Betroffenen im Hinblick auf das VerfG Saarland, Urt. v. 05.07.2019 – LV 7/17 (vgl. dazu: OWi I: Paukenschlag II aus dem Saarland, oder: Traffistar S 350-Messungen nicht verwertbar) eingestellt:

„1. Das Verfahren wird gemäß § 47 Abs. 2 OWiG eingestellt.
2. Die Kosten des Verfahrens trägt die Staatskasse. Es wird davon abgesehen, die not-wendigen Auslagen des Betroffenen der Staatskasse aufzuerlegen.

Gründe

Die Einstellung des Verfahrens erfolgt im Hinblick auf das Urteil des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes vom 05.07.2019 (Az.: Lv 7/17), wonach die Ergebnisse des Messverfahrens mit dem Messgerät TraffiStar 350S wegen einer verfassungswidrigen Beschränkung des Rechts auf eine wirksame Verteidigung eines Betroffenen unverwertbar ist. Die Beschränkung des Verteidigungsrechts wird darin gesehen, dass die Herstellerfirma „Jenoptik“ die Roh-messdaten nicht speichert und dem Betroffenen daher zur Überprüfung der Messung nicht zur Verfügung stehen.

Die Kosten- und Auslagenentscheidung folgt aus §§ 467 Abs. 4 StPO, 46 OWiG.“

So weit, so gut, so schön und sicherlich die richtige Reaktion auf den Paukenschlag aus dem Saarland. Allerdings: Mit der Auslagenentscheidung kann ich mich nicht so richtig anfreunden. Denn, wenn die Ergebnisse des Messverfahrens nicht verwertbar sind, dann hätte der Betroffene frei gesprochen werden müssen. Die Einstellung nach § 47 Abs. 2 OWiG ist als eine „Freispruchsumgehungseinstellung“. Dagegen ist nichts einzuwenden. Nur muss dann auch die Auslagenentscheidung dem an sich gebotenen Freispruch gerecht werden. D.h.: Die Auslagen des Betroffenen hat die Staatskasse zu tragen.

StPO III: Die zulässige Erhebung der Sachrüge, oder: Lieber etwas mehr schreiben….

entnommen wikimedia.org
Urheber Harald Bischoff

Und zum Tagesschluss dann noch der BGH, Beschl. v. 19.06.2019 – 5 StR 107/19. Es geht um die Zulässigkeit der Revision des Angeklagten. Der GBA hatte beantragt, die Revision des Angeklagten gemäß § 349 Abs. 1 StPO als unzulässig zu verwerfen, weil die „allein“ erhobene Verfahrensrüge nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO entspräche.

Der BGH hat ein Einsehen und lässt den Angeklagte bzw. seinen Verteidiger mit einem blauen Auge davon kommen 🙂 :

„1. Die Revision ist zulässig erhoben. Denn der Beschwerdeführer hat nicht nur eine Verfahrensrüge erhoben, deren Unzulässigkeit zur Unzulässigkeit der Revision selbst führen würde (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2007 – 2 StR 510/07, StraFo 2008, 332). Vielmehr bemängelt er auch einen Widerspruch an „zentraler Stelle der Beweisführung“. Damit lässt sein Revisionsvorbringen noch hinreichend erkennen, dass er die Überprüfung des Urteils auch in sachlich-rechtlicher Hinsicht begehrt. Dies genügt für die zulässige Erhebung der Sachrüge. Sie ausdrücklich als solche zu bezeichnen, ist nicht erforderlich (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Februar 2017 – 3 StR 476/16).“

Also gerade noch einmal gut gegangen, oder: Lieber etwas mehr schreiben….

StPO II: Nochmals – Auswertung von Laptos usw., oder: Gegenvorstellung der StA unzulässig/unbegründet

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Ich hatte heute morgen über den LG Cottbus, Beschl. v. 10.04.2019 – 22 Qs 1/19 – berichtet (vgl. dazu: StPO I: Auswertung von Laptos usw., oder: 14 Monate Dauer sind zu lang).

Dazu kann ich dann noch einen Nachtrag liefern. Der StA hat der Beschluss des LG nicht gefallen und sie hat mit einer „Gegenvorstellung nachgelegt“. Das LG dann aber auch, denn es sagt im LG Cottbus, Beschl. v. 29.05.2019 – 22 Qs 1/19 – : Die Gegenvorstellung ist unzulässig und auch unbegründet:

„1. Die Gegenvorstellung der Staatsanwaltschaft ist bereits unzulässig.

Gegenvorstellungen sind – als Ausfluss des Petitionsrechts (Art. 17 GG) – grundsätzlich statthaft gegen Entscheidungen, die das Gericht selbst wieder aufheben darf. Die auf eine einfache Beschwerde ergangene letztinstanzliche Entscheidung schließt jedoch das Beschwerdeverfahren ab und erwächst in formeller Rechtskraft. Diese Entscheidungen sind grundsätzlich nicht mehr angreifbar, da andernfalls die Rechtskraft durchbrochen wird. Etwas anderes gilt nur dann, wenn mit der Entscheidung grobes prozessuales Unrecht im Sinne von schwerwiegenden Verfahrensfehlern einhergeht, sie eine Grundrechtsverletzung beinhaltet oder auf einem offensichtlichen bzw. ohne weiteres erkennbaren Irrtum beruht (Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Auflage, 2018, Vor § 296 Rn. 24 f.; Allgayer in: Münchner Kommentar zur StPO, 2016, § 296 Rn. 13, beck-online). Diese Voraussetzungen liegen nicht vor und werden von der Staatsanwaltschaft auch nicht vorgetragen. Die Entscheidung der Kammer enthält weder offensichtliche Unrichtigkeiten noch wird durch diese erkennbar in ein Grundrecht der Beteiligten eingegriffen. Die Staatsanwaltschaft ist schon kein Grundrechtsträger, der Beschuldigte wird durch die Entscheidung der Kammer nicht beschwert. Sie kann mithin keinen neuen Grundrechtseingriff darstellen. Auch ein schwerwiegender Verfahrensfehler, wie beispielsweise die Verletzung rechtlichen Gehörs, ist nicht ersichtlich.

2. Die Gegenvorstellung wäre im Übrigen auch unbegründet. Die Kammer hat bei Ihrer Verhältnismäßigkeitsabwägung sehr wohl bedacht, dass hier keine freiheitsentziehende Maßnahme zur Überprüfung stand, sondern lediglich eine in das Grundrecht nach Art. 14 GG eingreifende vorläufige, der Durchsicht von Speichermedien dienende Sicherstellung im Rahmen der noch andauernden Durchsuchung. Indes ist zur Überzeugung der Kammer auch solchen Eingriffen eine zeitliche Grenze gesetzt, die zwar nicht demselben (strengen) Maßstab wie bei freiheitsenziehenden Maßnahmen unterliegt, andererseits aber auch nicht allein mangels personeller Ausstattung der Ermittlungsbehörden ins Uferlose ausgedehnt werden kann. Die Kammer ist sich bei der solchermaßen vorzunehmenden Abwägung des mit der Durchsicht von Speichermedien erforderlichen Aufwandes durchaus bewusst gewesen. Dieser hatte hier aber keinen Einfluss auf die Dauer der Durchsicht, denn mit dieser wurde erst nach über 12 Monaten seit der Sicherstellung begonnen. Das mit der Durchsicht befasste Landeskriminalamt hat dies sinngemäß mit seiner Überlastung begründet. So habe sich die Auswertung selbst nach einer Dringlichkeitsverfügung vom 13. Dezember 2018 (11 Monate nach vorläufiger Sicherstellung) zunächst erst noch in die Abarbeitung bereits bestehender dringender Auswerteaufträge eingereiht. Erst im Februar 2019 (nach 13 Monaten) sei der „Vorgang in Bearbeitung“, der im Übrigen augenscheinlich bis heute (nach nunmehr über 16 Monaten) nicht abgeschlossen ist.

Davon ganz abgesehen kann der von der Staatsanwaltschaft nur allgemein – d.h. abstrakt und nicht auf den konkreten Einzelfall bezogen – dargestellte erhöhte Aufwand der Durchsicht und Auswertung von Speichermedien die lange Dauer in dem hier zu entscheidenden konkreten Einzelfall allein nicht rechtfertigen, weil offen bleibt, ob die den Aufwand der Datenauswertung ganz allgemein erhöhenden Gründe hier überhaupt zum Tragen gekommen sind. Vielmehr hätte es hierfür eines konkret auf den zu entscheidenden Einzelfall bezogenen Vortrags bedurft, warum und in welcher Weise sich ein erhöhter Aufwand bei der Durchsicht der Speichermedien ergeben haben soll. In Anbetracht dessen, dass hier mit der Durchsicht nach über einem Jahr überhaupt erst begonnen wurde und die Staatsanwaltschaft auch in ihrer Gegenvorstellung nichts Handgreifliches dafür vorträgt, warum die Durchsicht nach (seit Februar 2019) nunmehr weiteren 4 Monaten noch immer nicht abgeschlossen ist, geht die Kammer nach wie vor davon aus, dass die Ursachen allein in der personellen Unterbesetzung der mit der Auswertung befassten Stellen zu suchen sind. Die Kammer gibt in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass nunmehr bereits mehr als 16 Monate seit der vorläufigen Sicherstellung und mehr als 5 Monate sei Einlegung der Beschwerde verstrichen sind.

Schließlich sind entgegen der Darstellung der Staatsanwaltschaft offenkundig auch nicht die möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergriffen und erschöpft, um diesen Zustand der Überlastung bzw. personellen Unterbesetzung zu beheben. Eine Aufstockung des Personals sowohl in quantitativer als auch qualitativer (Sachverständige) Hinsicht erscheint der Kammer nicht nur möglich und zumutbar, sondern im Hinblick auf den von der Staatsanwaltschaft in ihrer Gegenvorstellung beschriebenen deutlich zugenommenen und erhöhten Aufwand der Auswertung entsprechender Speichermedien sogar dringend geboten.

Dass entsprechende Maßnahmen – ähnlich wie auch im Bereich der Ausstattung der Gerichte -von den zuständigen Stellen nicht ergriffen werden und dies auch nicht von der Staatsanwaltschaft zu verantworten ist, ändert nichts daran, dass der mit der vorläufigen Sicherstellung verbundene Eingriff in das Eigentumsrecht des Beschuldigten – hier auch unter Berücksichtigung des etwas abgeschwächten Verdachtsgrades sowie des bisher zutage getretenen Ausmaßes der inkriminierten Handlung – nicht mehr verhältnismäßig ist.“