Archiv für den Monat: April 2014

Wer kennt ihn nicht? Den Auslandszeugen?

© Dan Race - Fotolia.com

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Wer kennt ihn nicht? Den Auslandszeugen? Er geistert durch viele Lehrbücher und wird gern als Beispiel bzw. Instrument der Verfahrensverzögerung angeführt, zu dem Verteidiger (nur) greifen, wenn es darum geht, das Verfahren zu verschleppen. Nun, sicherlich wird es solche Fälle auch geben, aber es gibt eben auch die anderen, in denen der Antrag auf Vernehmung des Auslandszeugen ohne „böse Absicht“ gestellt wird. Um einen Auslandszeugen ging es dann auch im BGH, Beschl. v. 13.03.4014 – 4 StR 445/13. Da hatte der Verteidiger des Angeklagten am 14. Verhandlungstag den Antrag, eine in c./Tschechien zu la- dende Zeugin B. zum Beweis der Tatsache zu vernehmen, dass sich der Angeklagte am Tattag in C. befunden habe. Das LG hatte abgelehnt. Der BGH hat das „gehalten“:

b) Diese Verfahrensweise hält rechtlicher Überprüfung stand.

aa) Nach § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO kann ein auf die Vernehmung eines Auslandszeugen gerichteter Beweisantrag abgelehnt werden, wenn die Beweiserhebung nach dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich ist (§ 244 Abs. 2 StPO). Dabei ist das Gericht von dem Verbot der Beweisantizipation befreit und darf seine Entscheidung davon abhängig machen, welche Ergebnisse von der beantragten Beweisaufnahme zu erwarten sind und wie diese zu erwartenden Ergebnisse zu würdigen wären. Kommt es unter Berücksichtigung sowohl des Vorbringens zur Begründung des Beweisantrags, als auch der in der bisherigen Beweisaufnahme angefallenen Erkenntnisse zu dem Ergebnis, dass ein Einfluss auf seine Überzeugung auch dann sicher ausgeschlossen ist, wenn der benannte Zeuge die in sein Wissen gestellte Behauptung bestätigen werde, ist eine Ablehnung des Beweisantrags rechtlich nicht zu beanstanden (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 21. Dezember 2010 – 3 StR 401/10, NStZ-RR 2011, 116, 117; Beschluss vom 26. Oktober 2006 – 3 StR 374/06, NStZ 2007, 349, 350; Urteil vom 18. Januar 1994 – 1 StR 745/93, BGHSt 40, 60, 62; weitere Nachweise bei Becker in Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 244 Rn. 356). In dem hierfür er-forderlichen Gerichtsbeschluss (§ 244 Abs. 6 StPO) müssen die maßgeblichen Erwägungen so umfassend dargelegt werden, dass es dem Antragsteller mög-lich wird, seine Verteidigung auf die neue Verfahrenslage einzustellen und das Revisionsgericht überprüfen kann, ob die Antragsablehnung auf einer rational nachvollziehbaren, die wesentlichen Gesichtspunkte des Einzelfalles erkennbar berücksichtigenden Argumentation beruht (vgl. BGH, Beschluss vom 29. April 2010 – 1 StR 644/09, wistra 2010, 410, 411; Urteil vom 18. Januar 1994 – 1 StR 745/93, BGHSt 40, 60, 63; Becker in Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 244 Rn. 359).

Den Anforderungen wurde nach Auffassung des BGH der Ablehnungsbeschluss gerecht. „Geschadet“ hat auch nicht, dass das LG in seinem Ablehnungsbeschluss formuliert hatte, „dass der Beweisantrag zu einem späten Zeitpunkt („erst jetzt benannte Auslandszeugin“) gestellt worden ist“. Dazu der BGH:

…“macht dies seine Entscheidung nicht rechtsfehlerhaft. Zwar hatte sich der Angeklagte – wie sich aus den auf die Sachrüge hin zu beachtenden Urteilsgründen ergibt – bis zur Antragstellung noch nicht zum Tatvorwurf geäußert, sodass aus dem Umstand, dass die dem Beweisbegehren zugrunde liegende Alibibehauptung nicht früher aufgestellt worden ist, keine Schlüsse zu seinem Nachteil gezogen werden durften (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Juli 2009 – 3 StR 80/09, NStZ 2009, 705; Beschluss vom 23. Oktober 2001 – 1 StR 415/01, NStZ 2002, 161, 162; Urteil vom 25. April 1989 – 1 StR 97/89, BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 10; KK-StPO/Krehl, 7. Aufl., § 244 Rn. 213; Rose, NStZ 2012, 18, 24), doch vermag der Senat auszuschließen, dass es sich bei dieser Erwägung um einen die Ablehnungsentscheidung tragenden Gedanken handelt.

Das Phänomen der Reue, oder: Die Wirksamkeit der Revisionsrücknahme

© G.G. Lattek - Fotolia.com

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Nicht selten bereuen Angeklagte später eine Rechtsmittelrücknahme. Dieses Phänomen kann man häufig nach einem Verteidigerwechsel feststellen. Dann wird die Wirksamkeit der vom früheren Verteidiger erklärten Rechtsmittelrücknahme bezweifelt/angefochten und versucht, das Verfahren fortzusetzen. I.d.R. geht es dann um die Frage, ob der Verteidiger eine für die Rechtsmittelrücknahme ausreichende Vollmacht hatte. So auch im BGH, Beschl. v. 05.02.2014 – 1 StR 527/13, in der sich der BGH zum wiederholten Mal mit den Fragen zu befassen hatte. Von Bedeutung insofern, weil der 1. Strafsenat noch einmal darauf hinweist, dass für die Ermächtigung des Verteidigers zur Rechtsmittelrücknahme keine bestimmte Form vorgesehen ist und der Nachweis auch noch nach Abgabe der Rücknahmeerklärung – auch durch anwaltliche Versicherung des Verteidigers – geführt werden kann.

Kein Aprilscherz: Methadonbehandlung macht nicht immer „fahrungeignet“

entnommen wikimedia.org Urheber Leyo

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In einem Verfahren, in dem beim OVG Münster um vorläufigen Rechtsschutz gestritten wurde, war dem Antragsteller die Fahrerlaubnis von der Verwaltungsbehörde entzogen worden. Diese war davon ausgegangen, dass der Antragsteller, der vormals – nach seinen Angaben zwischen 2000 und 2004 – heroinabhängig war und dessen Betäubungsmittelkonsum seit 2006 mit der „Ersatzdroge“ Methadon substituiert wird, unter die Bestimmungen der Nrn. 9.1 und 9.3 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) fällt und daher gemäß § 46 Abs. 1 FeV „an sich“ mit der Folge der Fahrerlaubnisentziehung als fahrungeeignet anzusehen ist. Dagegen das Rechtsmittel, die beim VG keinen Erfolg hatten.

Das OVG Münster hat im OVG Münster, Beschl. v. 01.04.2014 – 16 B 144/13 – dann einen „Vergleichsvorschlag gemacht. Es geht davon aus, dass die Annahme der Fahrungeeignetheit durch die Verwaltungsbehörde und VG grundsätzlicvh zutreffend ist.

„Allerdings bestimmt die Vorbemerkung 3 der Anlage 4 zur FeV, dass die in dieser Anlage vorgenommenen Bewertungen nur für den Regelfall gelten; Kompensationen durch besondere menschliche Veranlagung, durch Gewöhnung, durch besondere Einstellung oder durch besondere Verhaltenssteuerungen und -umstellungen seien möglich. Ergäben sich im Einzelfall in dieser Hinsicht Zweifel, könne eine medizinisch-psychologische Begutachtung angezeigt sein. Es unterliegt (auch) für den Senat keinem Zweifel, dass die Einnahme von Betäubungsmitteln – ausgenommen Cannabis, für das die Nrn. 9.2.1 und 9.2.2 der Anlage 4 eine differenzierende Regelung treffen – dem o.g. Regelfall unterfällt, also ohne Begutachtung die Entziehung der Fahrerlaubnis rechtfertigt, solange nicht die Voraussetzungen der Nr. 9.5 der Anlage 4 nachgewiesen werden. Entsprechendes gilt für die Abhängigkeit von Betäubungsmitteln. Für Personen, die sich im sog. Methadon-Programm befinden, ist aber ungeachtet des Umstandes, dass Methadon zu den in der Anlage III zu § 1 des Betäubungsmittelgesetzes genannten Substanzen zählt, anerkannt, dass in Ausnahmefällen die Fahreignung gegeben sein kann. So wird in den Begutachtungs-Leitlinien zur Kraftfahrereignung des Gemeinsamen Beirats für Verkehrsmedizin beim – seinerzeitigen – Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen und beim Bundesministerium für Gesundheit (Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen, Mensch und Sicherheit, Heft M 115) unter Nr. 3.12.1, vgl. Schubert/Schneider, Eisenmenger/Stephan, Begutachtungs-Leitlinien zur Kraftfahrereignung, Kommentar, 2. Aufl. 2005, S. 168,  ausgeführt, dass derjenige, der als Heroinabhängiger mit Methadon substituiert werde, im Hinblick auf eine hinreichend beständige Anpassungs- und Leistungsfähigkeit in der Regel nicht geeignet sei, ein Kraftfahrzeug zu führen. In seltenen Ausnahmefällen sei aber eine positive Beurteilung möglich, wenn besondere Umstände dies im Einzelfall rechtfertigten. Hierzu gehörten u. a. eine mehr als einjährige Methadonsubstitution, eine psychosoziale stabile Integration, die Freiheit von Beigebrauch anderer psychoaktiver Substanzen einschließlich Alkohol seit mindestens einem Jahr, nachgewiesen durch geeignete, regelmäßig stattfindende und zufällige Kontrollen (z. B. Urin, Haar) während der Therapie, der Nachweis für Eigenverantwortung und Therapie-Compliance sowie das Fehlen einer Störung der Gesamtpersönlichkeit, wobei nicht nur Störungen aufgrund des Substanzmissbrauchs von Bedeutung seien. Ähnliche, im Detail aber auch variierende Kriterien werden in anderen wissenschaftlichen Veröffentlichungen  etwa Berghaus/Friedel, NZV 1994, 377, 380; Tretter, in: Substitution und Fahrerlaubnis, Tagungsbericht der Bayerischen Akademie für Suchtfragen, Juli 2001, S. 11, sowie Kannheiser, a. a. 0., S. 18 f.  genannt, ohne dass die Anerkennung der Möglichkeit einer (ausnahmsweisen) Fahreignung von Substitutionspatienten grundsätzlich in Frage gestellt wird.  Vgl. aus der Rechtsprechung auch OVG NRW, Beschlüsse vom 16. April 2003 – 19 B 736/03 u. a. juris, Rn. 4 f., und vom 3. Juni 2009 – 16 B 561/09 -; OVG Bremen, Beschluss vom 31. Januar 1994 – 1 B 178/93 -, NZV 1994, 206; Bay. VGH, Beschlüsse vom 23. Mai 2005 – 11 C 04.2992 -, juris, Rn. 20, und vom 5. Juli 2012 – 11 CS 12.1321 -, juris, Rn. 18 f.

Vorgeschlagen hat der Senat dann die Vorlage eines auf Anordnung des Antragsgegners und auf Kosten des Antragstellers beigebrachten medizinisch-psychologischen Gutachtens mit dem Nachweis, dass der Antragsteller trotz regelmäßiger Einnahme von Methadon im Rahmen einer Betäubungsmittelsubstitution und trotz einer anzunehmenden Methadonabhängigkeit fahrgeeignet ist.

Ach so: Kein Aprilscherz (Beschlussdatum: o1.04.2014) 🙂 .

Erhöhung der Geldbuße – rechtlicher Hinweis erforderlich?

© frogarts - Fotolia.com

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In der Rechtsprechung der OLG ist vor einiger Zeit die Frage diskutiert worden, ob im Bußgeldverfahren ein rechtlicher Hinweis (§ 265 StPO) erteilt werden muss, wenn die im Bußgeldbescheid festgesetzte Geldbuße erhöht werden soll. Das hatten das OLG Hamm und das OLG Jena bejaht,. Anders haben das das OLG Stuttgart und das OLG Bamberg gesehen. Und anders sieht es auch das KG im KG, Beschl. v. 10.03.2014 – 3 Ws (B) 78/14:

Dass der Bußgeldrichter entsprechend § 265 StPO einen Hinweis erteilen muss, wenn er beabsichtigt, die im Bußgeldbescheid festgesetzte Geldbuße zu erhöhen (so Thüringer OLG VRS 113, 330 [bei guten wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen]; OLG Hamm DAR 2009, 99), zweifelt der Senat schon deshalb an, weil es eines derartigen Hinweises nicht einmal bedarf, wenn der Strafrichter in der auf den Einspruch gegen den Strafbefehl anberaumten mündlichen Verhandlung die Tagessatzhöhe oder –anzahl zum Nachteil des Angeklagten ändern will (vgl. Meyer-Goßner, StPO 56. Aufl., § 411 Rn. 11).“

Das KG hat die Frage dann aber letztlich offen gelassen. Denn der Verteidiger hatte die behauptete Verletzung des rechtlichen Gehörs nicht in zulässiger Weise über die Verfahrensrüge begründet (§§ 79 Abs. 3, 80 Abs. 3 OWiG, 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). „Denn der Beschwerdeführer hat erst mit am 27. Februar 2014 eingegangenem Schriftsatz (vom „28. Februar 2014“) erklärt, dass er in der Hauptverhandlung nicht auf die Möglichkeit der Erhöhung der Geldbuße hingewiesen worden ist. Hierbei handelt es sich nicht um eine (zulässige und berücksichtigungsfähige) Rechtsausführung, sondern um eine nicht innerhalb der Rechtsbeschwerdebegründungsfrist und damit verspätet vorgebrachte Tatsache. Im Übrigen hätte die ordnungsgemäße Erhebung der Verfahrensrüge auch der Darlegung der mit dem Bußgeldbescheid übermittelten Rechtsbehelfsbelehrung bedurft (vgl. OLG Stuttgart, Beschluss vom 8. Mai 2013 – 4a SsRs 66/13 – [juris]).“

Also ohne ordnungsgemäße Verfahrensrüge „läuft eh nichts“. Ob die allerdings auch noch die mit dem Bußgeldbescheid übermittelte  Rechtsbehelfsbelehrung bedarf, ist m.E. zweifelhaft. Was soll die mit der Verfahrensrüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs in der Hauptverhandlung zu tun haben?D afür bleibt das KG eine Begründung schuldig. Der Verweis auf die Entscheidung des OLG Stuttgart bringt da nichts. Denn auch da ist dieser Begründungsaufwand m.E. nicht ausreichend begründet gewesen. Man sieht aber mal wieder, wie schnell sich solche Dinge verselbständigen

 

Ist ein 94-Jähriger noch verhandlungsfähig?

© froxx - Fotolia.com

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Ein heikles oder auch sensibles Thema behandelt der LG Ellwangen, Beschl. v. 27.02.2014 – 1 Ks 9 Js 94162/12. Es geht in einem Verfahren gegen einen (ehenaligen) Angehörigen des SS-Totenkopf-Sturmbanns, der als Wachmann im Konzentrationslager Auschwitz eingesetzt gewesen sein und während des Eintreffens von Gefangenentransportzügen von Dezember 1942 bis Juni 1943 zumindest Bereitschaftsdienst geleistet haben soll, um die Frage der Verhandlungsfähigkeit. Der Beschuldigte ist inzwischen 94 Jahre alt, so dass sich m.E. mit Recht diese Frage stellt. Sie ist in meinen Augen unabhängig von den Vorwürfen, die Gegenstand des Verfahrens sind. Das hat nichts mit „einmal muss Schluss sein zu tun“, sondern hat mit Grundrechtsschutz (Art. 1, 2 GG) zu tun. das mag nicht jedem gefallen, ist aber im GG nun mal so festgelegt. Und so hat es m.E. das LG in seinem Beschluss auch gesehen, wenn es formuliert:

„2. Verhandlungsunfähigkeit:

Der heute 94 Jahre alte Angeschuldigte kann sich wegen seiner vor allem altersbedingten kognitiven Schwächen und unzureichenden psychomentalen Leistungsfähigkeit nicht ausreichend mit den gegen ihn erhobenen Tatvorwürfen der zwölffachen Beihilfe zum Mord auseinandersetzen und ist deshalb verhandlungsunfähig. Das Fehlen der erforderlichen Verhandlungsfähigkeit, insbesondere im Hinblick auf die Anforderungen einer Hauptverhandlung, ergibt sich aus einer Beurteilung der psychischen Verfassung des Angeschuldigten auf der Grundlage sachverständiger Beratung und eigener Feststellungen der Schwurgerichtskammer. Dabei sind die erhöhten Anforderungen an die Leistungsfähigkeit des Angeschuldigten zu berücksichtigen, die aus den Schwierigkeiten des Verhandlungsgegenstandes folgen.

a) Rechtliche Würdigung der Tatvorwürfe:

Die besondere Problematik liegt insbesondere darin, dass sich der Angeschuldigte gegen Vorwürfe zur Wehr setzen muss, die nunmehr mehr als 70 Jahre zurückliegen und die wegen Verjährung aller anderen in Betracht kommenden Straftatbestände nur dann zu einer Strafbarkeit führen können, wenn ihm konkret nachgewiesen werden kann, dass er nicht nur Kenntnis von den Vernichtungsvorgängen im Konzentrationslager hatte und diese unterstützte, sondern dass ihm auch die – angenommene -heimtückische und grausame Tötung der Opfer durch die Haupttäter bekannt war. Dazu reicht es nicht aus, die objektive Förderung der Haupttaten und die subjektive Kenntnis des Gewichts des eigenen Tatbeitrags hierzu festzustellen. Vielmehr muss dem Angeschuldigten die Kenntnis der Umstände, die die Mordmerkmale der Heimtücke und Grausamkeit begründen, nachgewiesen werden. Dies kann nur durch eine umfangreiche Beweisaufnahme mit derzeit offenem Ausgang erfolgen.

b) Tatbegriff:

Die Schwurgerichtskammer hält trotz der unverrückbaren Überzeugung, dass in Auschwitz (und während der Zeit des Nationalsozialismus im Rahmen des Holocaust auch anderswo) unfassbare Gräueltaten geschehen sind, an dem Erfordernis des Nachweises der individuellen Tatschuld jedes Einzelnen an konkretisierten Taten fest. Sie befindet sich dabei auf dem Boden der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, die ganz allgemein Gültigkeit beansprucht. Ein „Sonderweg“ bei NS-Verbrechen wird damit nicht beschritten. Bei verständiger Würdigung des Urteils des Landgerichts München II in der Sache „Demjanjuk“ wurden auch dort diese Grundsätze nicht verlassen.

c) Beweismittel:

Zum Nachweis der individuellen Tatschuld kann nicht auf unmittelbare Beweismittel zurückgegriffen werden. Vielmehr stehen im Wesentlichen nur indirekte Beweismittel in Form von Urkunden und Protokollen früherer Zeugenaussagen sowie allgemeine historische Erkenntnisse zur Verfügung. Auf Erkenntnisse, die in früheren Urteilen zu den Taten in Auschwitz zugrunde gelegt wurden, kann nicht ohne eigene Sachprüfung zurückgegriffen werden. Diese dienen zwar als Hinweise zum Erfordernis zu treffender Feststellungen. Vor allem aber die Beweise zur subjektiven Tatseite, also der Kenntnis des Angeschuldigten von den genauen Umständen der Vernichtungsvorgänge, müssen im vorliegenden Verfahren neu erhoben werden.

d) Verfassungsrechtliche Anforderungen:

Vor dem Hintergrund des Gewichts der Tatvorwürfe und des erforderlichen Umfangs einer Beweisaufnahme kommt der eingeschränkten psychischen Leistungsfähigkeit des Angeschuldigten eine besondere Bedeutung zu. Das im Grundgesetz verankerte Schuldprinzip und der Grundsatz des fairen, rechtsstaatlichen Verfahrens, die Unschuldsvermutung und die Neutralitätspflicht des Gerichts verlangen, wenn der Angeschuldigte nicht zum bloßen Objekt eines staatlichen Verfahrens herabgewürdigt werden soll, die Berücksichtigung seiner besonderen persönlichen Situation. Bereits angesichts des bloßen Alters des Angeschuldigten von jetzt 94 Jahren, verstärkt durch die konkret erhobenen allgemein medizinischen und insbesondere psychiatrischen Erkenntnisse, ist in absehbarer Zeit eine weitere beträchtliche Minderung der Leistungsfähigkeit zu erwarten. Dies macht die Möglichkeit einer Aufklärung des Tatgeschehens mit Beteiligung des Angeschuldigten als Subjekt des Strafverfahrens schon für sich hochgradig unwahrscheinlich. Auch bei der Aufdeckung und Ahndung von NS-Verbrechen und der damit einhergehenden Verpflichtung des Staates, diesen Anspruch wirksam durchzusetzen, müssen die Individualrechtsgüter eines Angeschuldigten geachtet werden. Es wäre rechtsstaatlich nicht zu verantworten, sich darüber hinwegzusetzen, nur um die Strafverfolgung ihrer selbst willen durchzuführen. Das Wertesystem des Grundgesetzes erlaubt dies nicht.

e) Hinreichender Tatverdacht:

Dabei braucht im Rahmen der Beschlussfassung über die Eröffnung des Hauptverfahrens nicht entschieden werden, ob nach Aktenlage bei den gegebenen Beweismöglichkeiten im Übrigen ein hinreichender Tatverdacht nach § 203 StPO im Sinne einer Wahrscheinlichkeit einer späteren Verurteilung bestünde.

Soweit nachfolgend dennoch eine Auseinandersetzung mit den tatsächlichen und rechtlichen Fragen der Anklage vorzunehmen ist, erfolgt dies zur Darstellung der besonderen Schwierigkeiten des Verhandlungsgegenstandes, aber auch im Hinblick auf die Frage der Haftentschädigung des Angeschuldigten und die Entscheidung über die Kosten des Verfahren….

M.E. lesenswert.