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Bemessung der Rahmengebühr als Mittelgebühr II, oder: Keine Folge wegen Berufungsrücknahme der StA

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Und dann im zweiten Posting eine Entscheidung zum Ansatz der Mittelgebühr im Berufungsverfahren. Hier stellt sich ja häufig die Frage, wie die Verfahrensgebühr Nr. 4124 VV RVG zu bemessen ist, wenn die Staatsanwaltschaft beschränkt Berufung eingelegt hat und diese dann noch vor dem Berufungshauptverhandlungstermin zurücknimmt. Mit der Frage hat sich das LG Nürnberg-Fürth im LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 15.01.2024 – 12 Qs 80/23 – befasst.

Das AG hat den Angeklagten wegen Betrugs, den er in laufender Bewährung beging, zu einer zur Bewährung ausgesetzten Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr 10 Monaten verurteilt. Im Bewährungsbeschluss hat es ihm u.a. eine stationäre Suchttherapie zur Auflage gemacht. Die Staatsanwaltschaft hat gegen dieses Urteil Berufung eingelegt. Diese hat sie begründet und auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt.

Das LG hat Termin zur Berufungshauptverhandlung auf den 25.05.2023 bestimmt. Mit Schreiben vom 11.05.2023 berichtete die Bewährungshilfe dem LG, dass der Verurteilte seit 01.01.2023 versicherungspflichtig beschäftigt sei, eine zweimonatige stationäre Therapie vollständig absolviert habe und seitdem von der Suchtberatung X betreut werde. Zur Bewährungshilfe habe er zuverlässig Kontakt gehalten. Die Bewährungshilfe stellte ihm nunmehr eine günstige Sozialprognose. Die Staatsanwaltschaft nahm deshalb am 23.05.2023 ihre Berufung zurück.

Das LG hat am 24.05.2023 den Hauptverhandlungstermin aufgehoben und der Staatskasse die Kosten der Berufung, einschließlich der dem Beschwerdeführer entstandenen notwendigen Auslagen auferlegt. Die Pflichtverteidigerin hat Kostenfestsetzungsantrag gestellt und dabei auch die Verfahrensgebühr für das Berufungsverfahren in Höhe von 352 EUR, was der Mittelgebühr entspricht, nach § 14 RVG, Nr. 4124 VV RVG geltend gemacht.

Hierzu nahm der Bezirksrevisor Stellung und beantragte, die Mittelgebühr um 30 % auf 246,40 EUR zu reduzieren. Das AG hat den Kostenfestsetzungsantrag am 11.09.2023 mit der Begründung insgesamt zurück gewiesen, dass die Verteidigerin keine für die Antragstellung nach § 464b StPO erforderliche Vollmacht vorgelegt habe. Die Verteidigerin ist dann mit Schreiben vom 25.09.2023 erneut den Ausführungen des Bezirksrevisors entgegen getreten – ohne sich ausdrücklich gegen den Beschluss vom 11.09.2023 zu wenden – und hat zugleich eine Vollmacht vorgelegt, die sie dazu berechtigte, für den Verurteilten Kostenerstattungsansprüche geltend zu machen.

Das LG hat dieses Schreiben als sofortige Beschwerde gegen den AG-Beschluss angesehen. Das Rechtsmittel war erfolgreich, das LG hat aufgehoben und zur erneuten Entscheidung an das AG zurückverwiesen. Dabei macht es für die neue Entscheidung folgende „Vorgaben“:

„2. Das Rechtsmittel hat in der Sache insoweit Erfolg, als die beantragte Mittelgebühr festzusetzen ist.

a) Der Pflichtverteidiger darf bei gegebener Bevollmächtigung im Namen seines Mandanten eine Kostenfestsetzung nach § 464b Satz 1 StPO beantragen. Der Antrag zielt dabei im Ergebnis auf die Wahlverteidigergebühren, die er nach § 52 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 RVG von seinem Mandanten beanspruchen kann, sofern dem Mandanten seinerseits ein Erstattungsanspruch gegen die Staatskasse zusteht (OLG Nürnberg, Beschluss vom 20.05.2014 – 2 Ws 225/14, juris Rn. 20 f. m.w.N.). Einer Doppelbelastung der Staatskasse kann dadurch begegnet werden, dass der Verteidiger – wie geschehen – seinen Verzicht auf die Pflichtverteidigervergütung erklärt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 04.05.2009 – 1 BvR 2252/08, juris Rn. 23).

b) Die Verfahrensgebühr für das Berufungsverfahren bestimmt sich nach Nr. 4124 VV RVG. Mit ihr wird das Betreiben des Geschäfts vergütet (Burhoff/Volpert, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl., Nr. 4124 VV Rn. 12). Bei einem Wahlverteidiger gilt der Gebührenrahmen von 88 € bis 616 €. Der Ansatz einer Mittelgebühr von 352 € ist zutreffend.

aa) Bei der Rahmengebühr bestimmt im Ausgangspunkt der Rechtsanwalt die Höhe der Gebühr; dies geschieht nach billigem Ermessen anhand der Kriterien des § 14 Abs. 1 RVG. Dazu gehören der Umfang und die Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit sowie die Bedeutung der Angelegenheit. Auch ist zu berücksichtigten, ob die Berufung beschränkt und mit welchem Aufwand die Verhandlung vorzubereiten war (Burhoff in Gerold/Schmidt, RVG, 26. Aufl., VV 4124 Rn. 10). Eine Mittelgebühr wird in der Praxis angesetzt, wenn es sich um einen sogenannten Normalfall handelt, also die Kriterien des § 14 Abs. 1 RVG einem durchschnittlichen Fall entsprechen (Mayer in Gerold/Schmidt, aaO, § 14 Rn. 10).

bb) Demnach entspricht der Ansatz einer Mittelgebühr dem billigen Ermessen.

Bei einer auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten Berufung ist das Berufungsgericht nicht nur nicht daran gehindert ist, eigene Feststellungen zu Umständen zu treffen, die den für die Rechtsfolgenentscheidung maßgebenden Schuldumfang näher bestimmen (vgl. BGH, Beschluss vom 27.04.2017 – 4 StR 547/16, juris Rn. 22; LG Nürnberg-Fürth, Urteil vom 10.08.2023 – 12 NBs 502 Js 2528/18, juris Rn. 11), sondern nach Lage des Falles sogar dazu verpflichtet. Nichts anderes gilt für Feststellungen, die auf der Rechtsfolgenseite für eine Strafaussetzung zur Bewährung erforderlich sind.

Der Verurteilte stand bei Tatbegehung unter laufender und einschlägiger Bewährung. Die Bewährungszeit war im Zeitpunkt des Urteils des Amtsgerichts Erlangen noch nicht abgelaufen. Es hat absoluten Ausnahmecharakter, in laufender Bewährung eine weitere Bewährungschance einzuräumen (BayObLG, Urteil vom 27.07.2020 – 203 StRR 210/20, juris Rn. 6). Die Verteidigung konnte also nur erfolgversprechend sein, wenn belegbare und gewichtige Umstände für eine trotzdem günstige Sozialprognose vorgebracht werden konnten. Die Berufungskammer hat ausweislich der Akte der Bewährungsfrage Bedeutung beigemessen. Gemäß der Terminverfügung vom 20.04.2023 wurde der Bewährungshelfer um Terminteilnahme oder Übersendung eines schriftlichen Berichts gebeten. Es war bei der anwaltlichen Terminvorbereitung daher nicht mit einer Verhandlung zu rechnen, die sich lediglich mit der Höhe der zu verhängenden Strafe befassen würde. Die anwaltliche Tätigkeit war danach als zumindest durchschnittlich schwierig einzuschätzen. Unerheblich ist, dass die Verteidigerin auf die eingelegte Berufung nicht schriftsätzlich reagierte. Die Verteidigertätigkeit kann auch darin bestehen, dass mit dem Mandanten ohne Kenntnis des Gerichts daran gearbeitet wird, vor der Hauptverhandlung eine Bewährung rechtfertigende Umstände zu schaffen (z.B. Therapie- oder Arbeitsaufnahme). Diese anwaltlichen Tätigkeiten waren vorliegend auch nicht von vornherein entbehrlich, da die Hauptverhandlung erst einen Tag vor dem Termin aufgehoben wurde.

Ferner war die Angelegenheit für den Verurteilten offenkundig von erheblicher Bedeutung. Er musste damit rechnen, dass die Berufungskammer nicht nur die gegen ihn verhängte Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr 10 Monaten bestätigt, sondern dass die erstinstanzlich gewährte Bewährung wegfällt. Dies hätte weiter gerechtfertigt, die Bewährung aus seiner vorangegangenen Verurteilung zu widerrufen. Es drohte ihm also insgesamt ein beträchtlicher Freiheitsentzug.“

Die Entscheidung ist in der Sache zutreffend. Aber folgende Anmerkungen zum Verfahren:

Zunächst: Mich erstaunt, dass das AG den Kostenfestsetzungsantrag offenbar – jedenfalls ergibt sich aus dem Sachverhalt der LG-Entscheidung nichts Gegenteiliges – insgesamt wegen nicht vorliegender (Geldempfangs)Vollmacht der Verteidigerin zurückgewiesen hat, ohne zuvor bei der Pflichtverteidigerin nachzufragen. Eine solche Nachfrage hätte zumindest diesen Punkt „ausräumen“ können. Hat das AG allerdings nachgefragt – die Möglichkeit ist ja auch gegeben, dann erstaunt, warum die Pflichtverteidigerin dann nicht die erbetene Vollmacht zügig vorlegt, um so einen Ablehnungsgrund „auszuräumen“.

Und auch das weitere Verhaltgen der Pflichtverteidigerin ist zumindest bedenklich: Warum wendet sie sich nicht unmittelbar gegen die Entscheidung des AG vom 11.09.2023, sondern nimmt weiter zur Sache Stellung. Ist nicht ungefährlich.

Und schließlich: Ich frage mich, warum das LG nicht „durchentschieden“ hat. Mir erschließt sich nicht, warum „der Kammer nicht sämtliche dort einzubeziehenden Posten vorgelegen haben“. Welche gefehlt haben, ist, wenn die Pflichtverteidigerin in ihrem Festsetzungsantrag die geltend gemachten Gebühren der Höhe nach begründet hat, nicht erkennbar. Aber vielleicht wollte das LG dem AG auch nur die Gelegenheit geben, nun richtig zu entscheiden. Dass dabei „zweckmäßigerweise im Lichte der Beschwerdeentscheidung“ entschieden wird, sollte selbstverständlich sein.

beA II: Wirksamkeit der Revisionsrücknahme, oder: Rücknahme des Rechtsmittels geht auch ohne beA

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Und als zweite Entscheidung zum beA und zu den neuen Formvorschriften dann der BGH, Beschl. v. 04.07.2023 – 4 StR 171/23 – zur Wirksamkeit einer Revisionsrücknahme.

Auszugehen war von folgendem Sachverhalt: Das LG hat im Sicherungsverfahren die Unterbringung der Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Nachdem der Pflichtverteidiger der Beschuldigten frist- und formgerecht Revision gegen das Urteil eingelegt hatte, hat die weitere Pflichtverteidigerin der Beschuldigten mit Schreiben vom 27.02.2023, dem LG per Fax zugegangen am selben Tag, erklärt, dass sie „nach mehrfacher und ausführlicher Rücksprache mit der Mandantin und deren Betreuer“ die Revision zurücknehme.

Mit Schreiben vom 13.02.2023 an das LG hat der Pflichtverteidiger erklärt, die Beschuldigte habe ihm mitgeteilt, eine Ermächtigung zur Rücknahme der Revision nicht erteilt zu haben. Am folgenden Tag hat er dem Landgericht frist- und formgerecht die Revisionsbegründung sowie ein Schreiben der Beschuldigten übermittelt, in welchem diese erklärt, dass sie ihre weitere Verteidigerin nicht ausdrücklich zur Revisionsrücknahme ermächtigt habe, und für den Fall, dass sie „eine Erklärung abgegeben haben sollte, die als solcherart Ermächtigung zu werten sein könnte oder ist“, diese zurücknehme; an der Revision solle festgehalten werden. In einer schriftlichen Stellungnahme vom 21.3.2023 hat die Pflichtverteidigerin sodann erklärt, dass die Beschuldigte sie „in vielen ausführlichen Telefonaten ab dem 09.02.2023 mehrfach darum gebeten [habe], die Revision gegen das Urteil vom 19.12.2022 zurückzunehmen“.

Mit Beschluss vom 13.04.2023 hat das LG festgestellt, dass die Revision der Beschuldigten wirksam zurückgenommen worden ist. Gegen diese Entscheidung des LG richtet sich der Antrag auf Entscheidung des Revisionsgerichts. Der BGH hat festgestellt, dass die Revision wirksam zurückgenommen worden ist:

„2. Die Revision ist wirksam zurückgenommen worden.

a) Das Schreiben vom 27. Februar 2023, mit dem die Verteidigerin die Zurücknahme der Revision erklärt hat, ist dem Landgericht formgerecht übermittelt worden. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bestehen für die Rücknahmeerklärung wie auch für die Erklärung eines Rechtsmittelverzichts trotz Fehlens einer ausdrücklichen gesetzlichen Bestimmung grundsätzlich dieselben Formerfordernisse wie für die Einlegung des Rechtsmittels (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Februar 2011 – 4 StR 691/10, wistra 2011, 314 Rn. 7; Urteil vom 12. Februar 1963 – 1 StR 561/62, BGHSt 18, 257, 260 mwN). Den somit zu beachtenden Anforderungen des § 341 Abs. 1 StPO genügt die Rücknahmeerklärung, denn sie ist schriftlich erfolgt (vgl. zur Wahrung der Schriftform durch Telefax GmS-OGB, Beschluss vom 5. April 2000 – GmS-OGB 1/98, BGHZ 144, 160, 164).

Auf die für Verteidiger geltende Pflicht zur elektronischen Übermittlung einer Revision aus § 32d Satz 2 StPO erstreckt sich die Übertragung der für die Einlegung eines Rechtsmittels geltenden Formerfordernisse auf dessen Zurücknahme nicht (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 16. November 2022 – 1 Ws 312/22, NStZ-RR 2023, 81; BeckOK-StPO/Cirener, 47. Ed., § 302 Rn. 4; Valerius, ebd., § 32d Rn. 3; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 302 Rn. 7). Dies ergibt sich aus dem Wortlaut der Vorschrift sowie aus historischen und teleologischen Erwägungen. § 32d Satz 2 StPO zählt diejenigen Prozesserklärungen, für die die Übermittlung als elektronisches Dokument zwingend vorgeschrieben und infolgedessen eine Wirksamkeitsvoraussetzung ist (vgl. BGH, Beschluss vom 20. April 2022 – 3 StR 86/22, wistra 2022, 388 mwN), enumerativ auf. Schriftsätze anderen Inhalts unterliegen demgegenüber nur der Sollvorschrift des § 32d Satz 1 StPO. Ausweislich der Begründung des diesen Vorschriften zugrundeliegenden Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung der elektronischen Akte in Strafsachen und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs (BT-Drucks. 18/9416, S. 50 f.) handelt es sich hierbei um eine bewusste Differenzierung, mit der der Gesetzgeber nur bestimmte schriftliche Erklärungen von Verteidigern oder Rechtsanwälten – nämlich nur solche, bei denen ausgeschlossen ist, dass sie in einer besonders eilbedürftigen Situation abzugeben sind – der strengen Nutzungspflicht des elektronischen Rechtsverkehrs unterwerfen wollte. Die Erklärungen der Rechtsmittelrücknahme und des Rechtsmittelverzichts fehlen in dem Katalog des § 32d Satz 2 StPO, was bei der Anwendung des Gesetzes unbeschadet des Umstandes, dass auch sie regelmäßig nicht eilbedürftig sind, hinzunehmen ist (so auch OLG Karlsruhe, aaO). Eine Ausdehnung des Anwendungsbereichs des § 32d Satz 2 StPO auf diese Prozesserklärungen ist auch nicht unter dem Gesichtspunkt gerechtfertigt, der die Rechtsprechung veranlasst hat, für sie grundsätzlich dieselbe Form zu verlangen wie für die Einlegung des Rechtsmittels. Denn dieser besteht maßgeblich in dem Gedanken des Übereilungsschutzes; der Formzwang soll den zu der Erklärung Berechtigten zu einer gründlichen Prüfung des Für und Wider seines Schrittes veranlassen und ihn vor einer unüberlegten Entscheidung bewahren (vgl. BGH, Urteil vom 12. Februar 1963 – 1 StR 561/62, BGHSt 18, 257, 260). Dies gewährleisten aber bereits die Formanforderungen des § 341 Abs. 1 StPO, namentlich das hier gewahrte Schriftformerfordernis. Die für Rechtsanwälte geltenden Pflichten zur Nutzung des elektronischen Rechtsverkehrs sind hingegen weder geeignet noch bestimmt, diesen Schutz weiter zu erhöhen; sie sollen vielmehr lediglich sicherstellen, dass die vom Gesetzgeber gewollten Vorteile der elektronischen Aktenführung verwirklicht werden können (vgl. KK-StPO/Graf, 9. Aufl., § 32d Rn. 1). Sie auf die im Gesetz nicht genannten Prozesserklärungen nach § 302 StPO zu erweitern ist somit auch teleologisch nicht veranlasst.“

Und auch die anderen „klassischen“ Punkte hat der BGH bejaht:

„b) Der Wirksamkeit der Rücknahmeerklärung steht auch nicht entgegen, dass sie nicht von demjenigen Pflichtverteidiger abgegeben worden ist, der auch die Revision eingelegt hatte (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Juli 1995 – 3 StR 205/95). Die Verteidigerin war zu der Erklärung ermächtigt (§ 302 Abs. 2 StPO). Für diese Ermächtigung ist eine bestimmte Form nicht vorgeschrieben, so dass sie auch mündlich und telefonisch erteilt werden kann. Für ihren Nachweis genügt die anwaltliche Versicherung des Verteidigers (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Oktober 2019 – 1 StR 327/19 Rn. 5). Eine solche enthielt sowohl das Rücknahmeschreiben der Verteidigerin vom 27. Februar 2023 als auch deren weitere schriftliche Stellungnahme vom 21. März 2023. Deren Beweiswirkung wird auch durch das von dem anderen Verteidiger eingereichte Schreiben der Beschuldigten vom 14. März 2023 nicht entkräftet. Denn aus diesem geht hervor, dass die Beschuldigte sich gerade nicht imstande sieht auszuschließen, dass sie ihrer Verteidigerin gegenüber – wie von dieser vorgetragen – eine Erklärung abgegeben habe, die als Ermächtigung „zu werten“ war.

Die Beschuldigte hat die der Verteidigerin erteilte Ermächtigung auch nicht wirksam widerrufen. Ein Widerruf der Ermächtigung zur Revisionsrücknahme ist nur zulässig, solange die Rücknahmeerklärung noch nicht bei Gericht eingegangen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Dezember 2016 – 4 StR 558/16, NStZ-RR 2017, 185, 186). Dies war aber am 14. März 2023 bereits geschehen; ein zu einem früheren Zeitpunkt der Verteidigerin gegenüber erklärter Widerruf der Ermächtigung ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Ein Widerruf oder eine Anfechtung der Rücknahmeerklärung selbst kommt nicht in Betracht (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Februar 2021 – 4 StR 447/20 Rn. 4 mwN).

c) Schließlich bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Beschuldigte nicht in der Lage gewesen sein könnte, die Bedeutung der von ihr abgegebenen Erklärung zu erfassen (vgl. zur maßgeblichen prozessualen Handlungsfähigkeit BGH, Beschluss vom 8. Oktober 2019 – 1 StR 327/19 Rn. 9 ff.; Beschluss vom 20. Februar 2017 – 1 StR 552/16, NStZ 2017, 487, 488 mwN). Zwar ist ausweislich der Urteilsgründe bei der Beschuldigten in der Kindheit eine Grenzbegabung (IQ 73) festgestellt worden und sie hat nur bis zu ihrem 14. Lebensjahr die Schule, eine Förderschule, besucht. Überdies besteht bei ihr eine paranoide Schizophrenie. Allerdings konnte deren Symptomatik durch die der Beschuldigten in der einstweiligen Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus verabreichten antipsychotischen Medikamente erheblich vermindert werden, so dass im Urteilszeitpunkt Halluzinationen zwar noch vorhanden, aber nicht mehr handlungsleitend waren. Der Beschuldigten konnten ihre Erkrankung und die Bedeutung der medikamentösen Therapie jedenfalls oberflächlich vermittelt werden. Die Beschuldigte war ausweislich des im Freibeweisverfahren verwertbaren Akteninhalts (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Februar 2017 – 1 StR 552/16, NStZ 2017, 487, 488 mwN) zudem bereits während des laufenden landgerichtlichen Verfahrens in der Lage, sich mit schriftlichen Eingaben unter Angabe der Aktenzeichen an die Staatsanwaltschaft und „den zuständigen Richter“ zu wenden und auf in sich schlüssige Weise ihre Interessen wahrzunehmen, insbesondere ihre „Entlassung auf Bewährung aus dem Maßregelvollzug“ unter Äußerung des Bedauerns über die Anlasstaten und dem Versprechen, sich an etwaige Bewährungsauflagen halten zu wollen, anzuregen. Auch ihr Schreiben vom 14. März 2023, mit dem sie nicht geltend macht, die Bedeutung einer von ihr erteilten Ermächtigung zur Zurücknahme der Revision nicht verstanden zu haben, sondern nur die Erteilung in Abrede stellt und eine etwa doch erklärte Ermächtigung widerruft, spricht für die Verhandlungsfähigkeit der Beschuldigten, welche im Übrigen auch das Landgericht – auf der Grundlage seines in der Hauptverhandlung gewonnenen persönlichen Eindrucks – ohne weiteres angenommen hat.“

Den vom BGH zitierten OLG Karlsruhe, Beschl. v. 16.11.2022 – 1 Ws 312/22 – hatte ich hier auch im Blog, und zwar hier: beA II: Wirksamkeit der Berufungsrücknahme per Fax, oder: Berufungsrücknahme per Fax zulässig.

Unfreiwilliger „Betroffenenwechsel“, oder: Kosten nach Rücknahme des Bußgeldbescheides?

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Die zweite Entscheidung, der AG Leipzig, Beschl. v. 08.02.2021 – 211 OWi 3972/20 -, ist auch schon etwas älter, aber auch erst vor kurzem eingegangen. Eine etwas kuriose Fallgestaltung, die das AG da zu entscheiden hatte:

„Im vorliegenden Verfahren war unter dem Az. 31201095023328 am 16.01.20 eine Anhörung wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit der Geschwindigkeitsüberschreitung des PP1, wohnhaft PP in Leipzig erfolgt. Dieser hatte daraufhin am 21.01.21 den die Auslagenerstattung verlangenden Rechtsanwalt R mit seiner Verteidigung beauftragt und Erstattungsansprüche von Rechtsanwaltskosten als notwendige Auslagen an diesen abgetreten, woraufhin Rechtsanwalt R am selben Tag ohne Vollmachtsvorlage seine Verteidigung des PP1 unter dem Aktenzeichen gegenüber der Bußgeldbehörde angezeigt hatte. Am 14.04.20 erließ die Bußgeldbehörde unter demselben Aktenzeichen einen Bußgeldbescheid gegen einen PP1, wohnhaft PP 6 in Dresden und übersendete eine Ausfertigung an Rechtsanwalt R. PP1 aus Dresden legte sodann am 16.04.20 telefonisch Einspruch ein und teilte mit nie angehört worden zu sein und auch keinen Rechtsanwalt beauftragt zu haben. Rechtsanwalt R legte ebenfalls Einspruch ein. Am 23.04.20 wurde das Bußgeldverfahren eingestellt.

Rechtsanwalt R hat mit Schreiben vom 05.05.201 beantragt die Kosten des Verfahrens so-wie die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Landeskasse aufzuerlegen. Er ist der Auffassung es handele sich um eine Einstellung nach Bußgeldbescheiderlass.

Die Bußgeldbehörde ist der Auffassung es sei kein Raum für eine Auslagenerstattung des Rechtsanwalt R, da seinem Mandanten gegenüber nie ein Bußgeldbescheid erlassen wurde und damit eine Einstellung vor Bußgeldbescheiderlass vorläge.

Der Antrag ist zulässig und begründet.

Gem. § 108 Abs. 1 i.V.m § 62 OWiG ist der Antrag auf gerichtliche Entscheidung zulässig.

Von dem Grundsatz, dass im behördlichen Bußgeldverfahren bei Verfahrenseinstellung keine Auslagenerstattung gewährt wird, konstituiert § 467a Abs. 1 StPO iVm § 105 Abs. 1 OWiG eine Ausnahme für den Fall, dass das Verfahren nach Rücknahme eines Bußgeldbescheids eingestellt wird. Es spielt dabei keine Rolle, ob der Bußgeldbescheid von vorneherein unbegründet war oder sich dies erst aufgrund später durchgeführter Ermittlungen ergab (Graf in Beck OK OWiG, § 105 Kostenentscheidung, Rn. 74, 28. Edition, Stand: 01.10.2020).

Es ist unter dem Aktenzeichen gegen „PP1″ am 14.04.2020 ein Bußgeldbescheid erlassen worden, der sogar in Abschrift an Rechtsanwalt R übersendet wurde. Erst im Anschluss an den Einspruch wurde das Verfahren am 23.04.20 eingestellt. Nach Auffassung des Gerichts spielt es keine Rolle, dass der Bußgeldbescheid tatsächlich gegenüber einem namensgleichen Betroffenen aus Dresden erlassen wurde und nicht gegenüber ursprünglich an-gehörten Mandanten von Rechtsanwalt R, PP1 aus Leipzig. Vielmehr ist lediglich relevant, dass in dem Verfahren unter dem Aktenzeichen ein Bußgeldbescheid erlassen wurde. Die Voraussetzungen der Kostenerstattung gem. § 467a Abs. 1 StPO iVm § 105 Abs. 1 OWiG liegen damit vor. Es bedarf dazu insbesondere auch keiner unzulässigen ausdehnenden Auslegung.

Gem. § 62 Absatz 2 OWiG iVm § 309 Absatz 2 StPO war daher die Bußgeldbehörde zu verpflichten die unterlassene Kostenentscheidung vorzunehmen in der die Kosten und die not-wendigen Auslagen des Betroffenen der Staatskasse aufzuerlegen sind.

Richtet sich der Antrag gegen eine den Antragsteller beschwerende Unterlassung, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Entscheidung zu erlassen, wenn die Sache entscheidungsreif ist (Meyer-Goßner/Schmitt/Meyer-Goßner StPO § 309 Rn. 5).“

Tja, das Recht ist eben für die Hellen 🙂 .

Rücknahme der Verfassungsbeschwerde, oder: Gegenstandswert nur 5.000 EUR und nicht 30.000.000 EUR

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Und dann am Ende der Pfingstwoche noch die gebührenrechtlichen Entscheidungen.

Heute beginne ich mit einem „kleinen“ Beschluss vom BVerfG. Das hatte nach Rücknahme einer Verfassungsbeschwerde über einen Antrag auf Festsetzung des Gegenstandswertes zu entscheiden. Zur Erinnerung: Die Gebühren nach § 37 RVG sind der Höhe nach vom Gegenstandswert abhängig.

Das BVerfG hat im BVerfG, Beschl. v. 10.05.2021 – 2 BvR 2863/17 – den Antrag auf Festsetzung des Gegenstandswertes auf 30.000.000 EUR (!) zurückgewiesen.:

„Der Antrag auf Festsetzung des Gegenstandswerts ist unzulässig. Für die gerichtliche Festsetzung des Gegenstandswerts besteht kein Rechtsschutzbedürfnis.

Gemäß § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG beträgt der Mindestgegenstandswert im Verfahren der Verfassungsbeschwerde 5.000 Euro. Ein höherer Gegenstandswert kommt in Fällen, in denen eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen oder zurückgenommen worden ist, regelmäßig nicht in Betracht. Umstände, die hier ausnahmsweise einen höheren Gegenstandswert rechtfertigen könnten, sind weder dargetan noch sonst ersichtlich. Ist deshalb vom Mindestgegenstandswert auszugehen, so besteht für die gerichtliche Festsetzung des Gegenstandswerts kein Rechtsschutzbedürfnis (vgl. BVerfGE 79, 365 <369>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 25. Juni 2018 – 2 BvR 2263/16 -).“

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.“

Na, das merkt man aber auf dem Konto 🙂 .

Wiedereinsetzung III: Wiedereinsetzung gewährt, oder: Kein Widerruf gewährter Wiedereinsetzung

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Und zur Abrundung dann eine Entscheidung aus dem Wiedereinsetzungsverfahren, und zwar zu folgendem Sachverhalt:

Mit Beschluss vom 16.07.2020 hatte das AG Leer Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen. Gegen diese ihm am 24.07.2020zugestellte Entscheidung hatte der Verurteilte mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 15.09.2020, per Fax eingegangen am 16.09.2020, sofortige Beschwerde eingelegt und zugleich Wiedereinsetzung in den Stand vor Versäumen der Beschwerdefrist beantragt. Mit Beschluss vom 06.10.2020 hatte das AG dem Verurteilten Wiedereinsetzung gewährt.

Mit Beschluss vom 27.10.2020 hat das LG, an das die Sache zur Entscheidung über die sofortige Beschwerde gegen den Widerrufsbeschluss weitergeleitet worden war, den die Wiedereinsetzung gewährenden Beschluss des Amtsgerichts vom 06.10.2020 aufgehoben, den Antrag auf Wiedereinsetzung zurückgewiesen und die sofortige Beschwerde gegen den Widerrufsbeschluss vom 16.07.2020 als unzulässig verworfen.

Hiergegen wendet sich dann der Verurteilte. Und er hatte beim OLG Erfolg, das im OLG Oldenburg, Beschl. v. 12.01.2021 – 1 Ws 554/20 – meint:

„Das im Hinblick auf die Unzulässigkeit der weiteren Beschwerde gegen die Widerrufsentscheidung (§ 310 Abs. 2 StPO) bei sachgerechter Auslegung allein als sofortige Beschwerde gegen die den Antrag auf Wiedereinsetzung verwerfende Entscheidung gemäß § 46 Abs. 3 StPO anzusehende Rechtsmittel hat Erfolg.

1. Allerdings hat der Verurteilte die Frist zur Einlegung dieses Rechtsmittels von einer Woche nach Bekanntmachung (§ 46 Abs. 3 i.V.m. § 311 Abs. 2 StPO) ebenfalls nicht eingehalten. Gegen diese Fristversäumnis war dem Verurteilten jedoch auf seine Kosten (§ 473 Abs. 7 StPO) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Denn da die Entscheidung nicht mit der nach § 35a StPO erforderlichen Rechtsmittelbelehrung versehen war, ist das Versäumen der Frist als unverschuldet anzusehen (§ 44 Satz 2 StPO).

2. Das zulässige Rechtsmittel führt zur Aufhebung der Entscheidung des Landgerichts über das mit Schriftsatz des Verteidigers vom 15. September 2020 angebrachte Wiedereinsetzungsgesuch.

Zwar war das Landgericht als für die Entscheidung über die sofortige Beschwerde gegen den Widerruf zuständiges Gericht und nicht das Amtsgericht zur Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag berufen (§ 46 Abs. 1 StPO). Die gleichwohl mit Beschluss des Amtsgerichts Leer vom 6. Oktober 2020 bewilligte Wiedereinsetzung ist aber für das weitere Verfahren bindend (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 46 Rz. 7). Das Landgericht war deshalb gehindert, selbst über den Wiedereinsetzungsantrag zu befinden und die gegen den Widerrufsbeschluss gerichtete sofortige Beschwerde als unzulässig zu verwerfen.

Auf die sofortige Beschwerde war daher die Entscheidung der Strafkammer über das Wiedereinsetzungsgesuch aufzuheben. Hierdurch wird die mangels Zulässigkeit einer weiteren Beschwerde selbst nicht anfechtbare Beschwerdeentscheidung des Landgerichts über den Widerrufsbeschluss des Amtsgerichts Leer vom 16. Juli 2020 hinfällig (vgl. OLG Düsseldorf. Beschluss v. 06.01.1988, 2 Ws 557/87, NStZ 1988, 238). Insoweit wird die Strafkammer nunmehr in der Sache zu entscheiden haben.“