Archiv für den Monat: Juni 2010

Mutiert der Richtervorbehalt des § 81a Abs. 2 StPO (in Berlin) zum Geschäftsstellenvorbehalt?

Über eine ggf. – gelinde gesagt – eigenwillige/besondere Art der Einhaltung des Richtervorbehalts aus § 81a Abs. 2 StPO in Berlin berichtet ein Berliner Kollege. Ein weiterer Berliner Kollege spricht vom „Geschäftsstellenvorbehalt„.

Die dort dargelegte Verfahrensweise ist/wäre sicherlich erschreckend, wenn der anwesende Richter nicht auf das Verhalten der Geschäftstellenbeamtin reagiert hätte, was er wohl offensichtlich mehr als deutlich getan hat (leider teilt der Kollege hier nicht mit, wie). Und man kann nur hoffen, dass die Polizeibeamten die Bestätigung, dass der Richter anwesend sei, nicht gleich als Anordnung der Blutentnahme aufgefasst und das in der Akte dann dokumentiert haben.

Allerdings: Man fragt sich aber doch, was der Anruf dann eigentlich sollte, wenn man sich mit dem Namen des Richters zufrieden gegeben hat? Wahrscheinlich werden die Berliner Kollegen doch mal in dem ein oder anderen Fall hinterfragen müssen, was genau abgelaufen ist. Sonst mutiert in Berlin der Richtervorbehalt wirklich…

Der geheime :-) Beschluss des BGH zu § 247 StPO – da ist er

Wir hatten hier über den Beschluss des Großen Senats für Strafsachen vom 21. April 2010 – GSSt 1/09 berichtet. Jetzt liegt der Volltext vor. In der PM dazu heißt es:

„Der Große Senat für Strafsachen hatte auf eine Vorlage des 5. Strafsenats über die Frage zu entscheiden, ob die Abwesenheit des gemäß § 247 StPO für die Dauer der Vernehmung eines Zeugen ausgeschlossenen Angeklagten während der anschließenden Verhandlung über die Entlassung des Zeugen eine Verletzung seines Anwesenheitsrechts bedeutet und einen absoluten Revisionsgrund darstellt. Die Rechtsprechung hatte dies bisher stets angenommen, so dass auf eine entsprechende Revisionsrüge das Urteil in der Regel aufgehoben werden musste. Demgegenüber wollte der 5. Strafsenat den Verfahrensvorgang der Verhandlung über die Entlassung eines Zeugen noch als Teil der Vernehmung verstehen, so dass die während dieser Zeitspanne fortdauernde Abwesenheit des Angeklagten von dem Ausschlussgrund gedeckt wäre. Die Rechte des Angeklagten sah er durch einen relativen Revisionsgrund der Verletzung des Fragerechts hinreichend gesichert.

Der Große Senat für Strafsachen hat die bisherige Rechtsprechung bestätigt. Die Verhandlung über die Entlassung eines Zeugen wird vom Begriff der Vernehmung i. S. v. § 247 StPO nicht erfasst. Diese restriktive Auslegung trägt vor allem der hohen Bedeutung des Anwesenheitsrechts des Angeklagten in der Hauptverhandlung sowie seinem Anspruch auf rechtliches Gehör und auf eine angemessene Verteidigung Rechnung. Seine Rechte können nur in eng begrenzten Ausnahmefällen eingeschränkt werden, in denen andere wichtige Belange dies notwendig erscheinen lassen. So sieht § 247 Satz 1 StPO aus Gründen der Wahrheitserforschung und § 247 Satz 2 StPO aus Gründen des Zeugen- und Opferschutzes die Möglichkeit vor, den Angeklagten für die Dauer der Vernehmung aus dem Sitzungssaal zu entfernen, wenn zu befürchten ist, dass der Zeuge sonst aus Angst nicht die Wahrheit sagen werde, oder für ihn aus gesundheitlichen Gründen Gefahren bestehen. Ein Ausschluss des Angeklagten von der Entlassungsverhandlung ist aber weder aus Gründen der Wahrheitserforschung erforderlich noch zum Schutz des Zeugen stets unerlässlich.

Die Verhandlung über die Entlassung eines in Abwesenheit des Angeklagten vernommenen Zeugen ist grundsätzlich ein wesentlicher Teil der Hauptverhandlung. Dauert der Ausschluss der Angeklagten in dieser Zeit fort, wird er gehindert, im unmittelbaren Anschluss an die Zeugenvernehmung Fragen und Anträge zu stellen und so seine Mitwirkungsrechte wahrzunehmen. Dies erfüllt die Voraussetzungen des absoluten Revisionsgrundes des § 338 Nr. 5 StPO. „

Wochenspiegel für die 23 KW. – oder wir blicken mal wieder über den Tellerrand

Zu berichten ist über:

  1. Die Sicherstellung von Fixie-Fahrrädern.
  2. Über eine Verkehrstragödie berichtet der Kollege Nebgen.
  3. Die Frage der sog. staatsanwaltschaftlichen Sperrberufungen beschäftigt noch einmal den Kollegen Feltus.
  4. Hier ist dann noch einmal über eine Entscheidung des AG Zerbst mit ESO ES 3.0 und veralteter Software berichtet worden.
  5. Der Kollege Hoenig berichtet unter dem schönen Titel „Eure Durchlaucht im Wespennest“ über sein „Zusammentreffen“ mit dem neu gegründeten Verband deutscher StrafrechtsAnwälte e. V., der mit seiner Werbung schon ein wenig nervt; vgl. dazu auch hier.
  6. Und immer wieder schön: Vollmachtsfragen, so wie dieser Dauerbrenner.

Keine Fernwirkung der (verfassungswidrigen) Videomessung auf die Fahrtenbuchanordnung.

Das VG Oldenburg hatte im Beschl. v. 19.01.2010 die Anordnung einer Fahrtenbuchauflage beanstandet, wenn Grundlage der Anordnung der Führung eines Fahrtenbuches (§ 31a StVZO) zwar ein Abstandsverstoß  durch einen letztlich nicht zu ermittelnden Fahrer gewesen ist, aber erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit und damit die Verwertbarkeit der durch das Messsystem gewonnenen Daten bestehen.

Das dagegen eingelegte Rechtsmittel hatte jetzt beim OVG Lüneburg Erfolg. Dieses hat in seinem Beschl. v. 07.06.2010 – 12 ME 44/10 unter Hinweis auf seine Entscheidung zur Blutentnahme in 12 ME 37/10 darauf hingewiesen, dass die vom VG Oldenburg herangezogenen Gründe der Entscheidung des OLG Oldenburg, wonach die Abstandsmessung mangels gesetzlicher Grundlage als unzulässiger Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung anzusehen sei und wegen der Schwere dieses Eingriffs im Ordnungswidrigkeitenverfahren einem Verwertungsverbot unterliege, sich auf Verfahren, die ausschließlich der Gefahrenabwehr dienen, nicht ohne Weiteres übertragen lassen. Der Beschluss war nach der Entscheidung in 12 ME 37/10 zu erwarten.

Also: Keine einheitliche Rechtsordnung.

Hochaktuell und hochinteressant: BGH zum Verwertungsverbot für verdecktes Verhör eines inhaftierten Beschuldigten

Heute ist auf der Homepage des BGH der für BGHSt bestimmte Beschl. des BGH v. 18.05.2010 – 5 StR 51/10 eingestellt worden, in der der Senat zu einem Verwertungsverbot für ein verdecktes Verhör eines inhaftierten Beschuldigten durch einen als Besucher getarnten nicht offen ermittelnden Polizeibeamten unter Zwangseinwirkung Stellung nimmt und – man lese und staune – zu einem Beweisverwertungsverbot kommt. Allerdings noch nicht zum Freispruch, da nach Auffassung des BGH eine Verurteilung aufgrund anderer Beweismittel nicht ausgeschlossen ist.

Der BGH schreibt u.a.:

„Das Vorgehen verstieß nämlich gegen das Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 Abs. 1 MRK) unter besonderer Berücksichtigung des Grundsatzes, dass niemand verpflichtet ist, zu seiner eigenen Überführung beizutragen, insbesondere sich selbst zu belasten (nemo tenetur se ipsum accusare). Dabei schließt sich der Senat – wie bereits der Sache nach der 4. Strafsenat in StV 2009, 225 – den Darlegungen des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs in BGHSt 52, 11, 17 Tz. 20 zur Genese, Verankerung und Bedeutung dieses Grundsatzes an (vgl. auch BGHSt 53, 294, 309 Tz. 49). Da der Beamte sogar eindeutig die Kompetenzen überschritten hat, die einem Verdeckten Ermittler zugestanden hätten, stünden einem noch nicht formal als unzulässig bewerteten entsprechenden Vorgehen als nicht offen ermittelnder Polizeibeamter identische durchgreifende Bedenken – erst recht – entgegen (vgl. Roxin StV 1998, 43, 44; Meyer-Goßner aaO § 110a Rdn. 4; BT-Drucks 14/1484 S. 24).

aa) Die Aushorchung des Angeklagten unter Ausnutzung der besonderen Situation seiner Inhaftierung begründet von vornherein Bedenken gegen die Zulässigkeit der heimlichen Ermittlungsmaßnahme. Nicht weniger als in anderen von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs beanstandeten Fällen heimlicher Informationsgewinnung unter Ausnutzung begleitender belastender Haftsituationen (vgl. BGHSt 34, 362; 44, 129; 52, 11; 53, 294) liegen auch hier Umstände vor, die zur Bewertung des Vorgehens als unfaire Vernachlässigung der zu achtenden Selbstbelastungsfreiheit führt.

Im Einklang mit der Auffassung des Großen Senats für Strafsachen (BGHSt 42, 139, 152; vgl. auch BGHSt 49, 56, 58) und in Übereinstimmung mit der die Selbstbelastungsfreiheit auf Art. 6 Abs. 1 MRK stützenden Rechtsprechung des EGMR (StV 2003, 257; NJW 2008, 3549; 2010, 213) sieht der Senat durch die Anwendung von Zwang den Kernbereich der Selbstbelastungsfreiheit des Angeklagten als verletzt an. Zwar sind Verdeckte Ermittler berechtigt, unter Nutzung einer Legende selbstbelastende Äußerungen eines Beschuldigten entgegenzunehmen und an die Ermittlungsbehörden weiterzuleiten. Sie sind aber nicht befugt, in diesem Rahmen den Beschuldigten zu selbstbelastenden Äußerungen zu drängen (BGHSt 52, 11, 15 Tz. 14; vgl. auch BGH StV 2009, 225, 226).“

Lesenswerte Entscheidung, die die bisherige Rechtsprechung des BGH fortführt.