© momius – Fotolia.com
Und weiter geht es in der 39 KW. mit StPO-Entscheidungen. Alle drei vorgestellten Entscheidungen haben Zwangsmaßnahmen zum Gegenstand.
Ich beginne mit dem BGH, Beschl. v. 21.08.2024 – StB 39/24 – zur Anordnung von Beugehaft zur Erlangung einer Aussage eines Zeugen, der sich auf ein Auskunftsverweigerungsrecht aus § 55 StPO beruft.
Ergangen ist der Beschluss in einem am OLG Stuttgart anhängigen Verfahren, in dem dem Angeklagten die mitgliedschaftliche Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland vorgeworfen worden ist. Im Hauptverhandlungstermin am 11.06.2024 wurde der Zeuge A. vernommen. Er war am 18.12.2023 wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland verurteilt worden; diese Entscheidung war zwischenzeitlich in Rechtskraft erwachsen. Nach der Vernehmung zur Person machte der Zeuge – entgegen dem Hinweis des Vorsitzenden des Staatsschutzsenats – geltend, ihm stehe ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht zu, und verweigerte Angaben zur Sache.
Nachdem die Festsetzung von Ordnungsmitteln keine Änderung des Aussageverhaltens bewirkt hatte, hat das OLG noch am Tag der Vernehmung auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft mit dem angefochtenen Beschluss gegen den Zeugen Beugehaft von zunächst einer Woche sowie ihre sofortige Vollstreckung angeordnet und ihm die durch seine Weigerung verursachten Kosten auferlegt. Sodann ist der Zeuge in Haft genommen worden. Er hat gegen die Entscheidung – einschließlich „der Aufbürdung von Kosten“ – „sofortige Beschwerde“ erhoben. Mit Beschluss vom 14.06.2024 hat der Staatsschutzsenat dem Rechtsmittel nicht abgeholfen.
Im Hauptverhandlungstermin zur Fortsetzung der Vernehmung am 18.06.2024 hat der Zeuge weiterhin keine Angaben zur Sache gemacht. Das OLG hat daraufhin die angeordnete Beugehaft unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten aufgehoben. Anschließend hat der Zeuge erklärt, dass sich die Beschwerde gegen die Anordnung der Beugehaft „erledigt haben dürfte“, und die Feststellung der Rechtswidrigkeit des angefochtenen Beschlusses beantragt.
Der BGH hat die nunmehr auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Anordnung und Vollstreckung der Beugehaft gerichtete Beschwerde verworfen. Er macht in dem Beschluss zunächst umfnagreiche Ausführungen dazu, dass dem Zeugen ein Verweigerungsrecht aus 3 55 StPO nicht zusteht. Insoweit ordne ich das Selbstleseverfahren an. Zur Beugehaft führt er dann aus:
„b) Auch im Übrigen war die Anordnung und Vollstreckung der Beugehaft rechtmäßig.
aa) Die Maßnahme gemäß § 70 Abs. 2 StPO steht – anders als diejenigen nach § 70 Abs. 1 StPO – im gerichtlichen Ermessen. Dabei sind die Pflicht zur Sachaufklärung sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten (s. BGH, Beschluss vom 10. Januar 2012 – StB 20/11, BGHR StPO § 70 Erzwingungshaft 8 Rn. 9).
bb) Der angefochtene Beschluss war wie schon die Vernehmung des Zeugen von der gerichtlichen Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) gedeckt.
(1) Die Erforschung des wahren Sachverhalts ist das zentrale Anliegen des Strafprozesses. Die Aufklärungspflicht begründet deshalb für die Verfahrensbeteiligten einen unverzichtbaren Anspruch darauf, dass die Beweisaufnahme auf alle Tatsachen sowie alle tauglichen und erlaubten Beweismittel erstreckt wird, die für die Entscheidung von Bedeutung sind (st. Rspr.; s. etwa BGH, Beschluss vom 17. Oktober 1983 – GSSt 1/83, BGHSt 32, 115, 122 f.). Sie kann das Tatgericht nach den Umständen des Falls sogar verpflichten, gegen einen Zeugen, der ohne gesetzlichen Grund die Aussage verweigert, die in der Strafprozessordnung vorgesehenen Zwangsmittel festzusetzen und zu vollstrecken (vgl. BGH, Urteil vom 15. Juli 1998 – 2 StR 173/98, NStZ 1999, 46; Beschluss vom 10. Januar 2012 – StB 20/11, BGHR StPO § 70 Erzwingungshaft 8 Rn. 15).
Welche Beweiserhebungen in der Hauptverhandlung geboten sind, unterliegt dabei in erster Linie der Beurteilung des erkennenden Gerichts, zumal die Aufklärungspflicht in einer Wechselbeziehung mit der tatrichterlichen Überzeugung steht (vgl. LR/Becker, StPO, 27. Aufl., § 244 Rn. 46 mwN).
(2) Gemessen an diesen Maßstäben ist das Vorgehen des Oberlandesgerichts frei von Bedenken. Insbesondere hat sich der Staatsschutzsenat – entgegen der in der Beschwerderechtfertigung geäußerten Ansicht – nicht von vorneherein mit der Verlesung der Gründe des gegen den Zeugen ergangenen rechtskräftigen Urteils sowie der Vernehmung von Ermittlungspersonen begnügen müssen. Denn das Tatgericht ist nicht gehindert, sondern vielfach, wenn nicht gar in der Regel gehalten, sich um ein sachnäheres Beweismittel zu bemühen, selbst wenn es ohne die Beweiserhebung aufgrund bereits genutzter sachfernerer Beweismittel die (unter Vorbehalt stehende) Überzeugung vom Tatvorwurf gewonnen hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 20. Dezember 2012 – 2 BvR 659/12, NStZ-RR 2013, 115 f.; BGH, Beschluss vom 8. April 2003 – 3 StR 92/03, NStZ 2004, 50; LR/Becker, StPO, 27. Aufl., § 244 Rn. 66 mwN); im Anschluss an die Rechtskraft des gegen den Zeugen ergangenen Urteils hat das Oberlandesgericht dementsprechend dessen Einvernahme in der Hauptverhandlung betrieben. Darüber hinaus hätten konkretisierende Angaben des Beschwerdeführers zur Stellung und Tätigkeit des Angeklagten im Komitee M. ohne Weiteres Bedeutung für die Strafzumessung gewinnen können.
cc) Die angefochtene Entscheidung wahrt den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Da das Gesetz keine speziellen materiellen Voraussetzungen zum Schutz des Freiheitsgrundrechts vorsieht, hat das Verhältnismäßigkeitsprinzip besondere Relevanz. Danach muss die Beugehaft nach den Umständen des Falls unerlässlich sein und darf zur Bedeutung nicht außer Verhältnis stehen, welche der Strafsache als solcher sowie der Aussage für den Ausgang des Verfahrens zukommt (s. BVerfG, Beschluss vom 25. Januar 2007 – 2 BvR 26/07, BVerfGK 10, 216, 225; BGH, Beschlüsse vom 4. August 2009 – StB 32/09, BGHR StPO § 70 Erzwingungshaft 7 Rn. 7; vom 10. Januar 2012 – StB 20/11, BGHR StPO § 70 Erzwingungshaft 8 Rn. 9).
Das Oberlandesgericht hat zu Recht angenommen, dass eine Aussage des Zeugen zur Sache ohne Beugehaft nicht zu erlangen war. Gemäß den aufgezeigten Maßstäben hat es zudem – entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers – zutreffend auf das Gewicht der dem Angeklagten angelasteten Straftat abgestellt. Überdies hat es davon ausgehen dürfen, dass trotz fortgeschrittener Beweisaufnahme Angaben des Zeugen den Ausgang des Strafverfahrens noch beeinflussen können (vgl. BGH, Beschluss vom 4. August 2009 – StB 32/09, BGHR StPO § 70 Erzwingungshaft 7 Rn. 9). Nach der maßgeblichen Ex-ante-Sicht genügt es hierfür grundsätzlich, dass die Nutzung des sachnäheren Beweismittels das bisher gewonnene Beweisergebnis voraussichtlich untermauern wird. Wie ausgeführt (s. oben bb] [2]), waren auch für den Strafausspruch bedeutsame Erkenntnisse zu erwarten. Da die Beweisaufnahme vor dem Abschluss stand, hat der Staatsschutzsenat ferner die sofortige Vollstreckung als erforderlich erachten dürfen (zur Zuständigkeit vgl. BGH, Beschluss vom 17. März 1989 – I BGs 100/89, BGHSt 36, 155, 156 f.). Schließlich zeigt sich die Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeits- und des Beschleunigungsgrundsatzes daran, dass das Oberlandesgericht die Beugehaft umgehend aufgehoben hat, nachdem es im nächsten Vernehmungstermin die Überzeugung gewonnen hatte, der Zeuge werde trotz weiteren Beugehaftvollzugs auf absehbare Zeit zur Sache nicht aussagen.
Darauf, ob der Angeklagte auch ohne die Aussage des Beschwerdeführers dem Anklagevorwurf entsprechend verurteilt worden ist, kommt es deshalb nicht ausschlaggebend an.“
Ganz interessant für die Praxis, denn wann liest man schon mal so ausführlich vom BGH zur Beugehaft.