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Haft I: Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen, oder: Kranker Vorsitzender, SV-Gutachten, Terminierung

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Bei mir im Blogordner hängen drei Haftentscheidungen, also reicht es heute für einen „Hafttag“.

Den beginne ich mit dem OLG Schleswig, Beschl. v. 03.12.2024 – 1 Ws 17/24 H. Ergangen ist der Beschluss im besonderen Haftprüfungsverfahren nach den §§ 121, 122 StPO, also „Sechs-Monats-Haftprüfung“. Der liegt folgender Verfahrensgang zugrunde:

Der Angeklagte befindet sich nach vorläufiger Festnahme am 23.052024 ununterbrochen in Untersuchungshaft. Ihm wird unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (Heroin und Kokain) in 219 Fällen und eine Beleidigung vorgeworfen. 216 der insgesamt 220 Tatvorwürfe haben ein identisches Tatgeschehen zum Gegenstand.

Der seinerzeit noch Beschuldigte hatte gegen den Haftbefehl Beschwerde eingelegt, die keinen Erfolg hatte. Im Anschluss hieran verfügte die Dezernentin bei der Staatsanwaltschaft am 20.06.2024 die „Fortsetzung der Ermittlungen“ durch die zuständige Kriminalpolizeistelle, ohne deren Art und Umfang zu konkretisieren. Auf ihre Sachstandsanfrage vom 08.072024 teilte ihr der sachbearbeitende Beamte mit, „dass die Ermittlungen abgeschlossen sind“. Lediglich ein Wirkstoffgutachten stehe noch aus. Hierbei handelt es sich vermutlich um ein Gutachten vom 22.07.2024. Am 17.07.2024 erstellte die Kriminalpolizeistelle ihren letzten Schlussvermerk. Die angekündigte Aktenübersendung an die Staatsanwaltschaft erfolgte sodann am 07.082024 auf dem Postweg und ohne Haftvermerk. Am 19.082024 erhob die Staatsanwaltschaft  schließlich Anklage zur Strafkammer, welche am 22.08.2024 die Zustellung und Übersetzung der Anklageschrift veranlasste. Am 16.09.2024 ging das seitens der Staatsanwaltschaft mit Anklageerhebung bei einer  Sachverständigen telefonisch unter Übersendung eines elektronischen Aktendoppels in Auftrag gegebene Gutachten zur Frage des Vorliegens der Voraussetzungen einer Unterbringung nach § 64 StGB ein.

Zwischenzeitlich war der Kammervorsitzende seit dem 12.09.2024 bis zum 17.11.2024 dienstunfähig erkrankt. Die stellvertretende Kammervorsitzende hat mit Verfügung vom 25.10.2024 die Terminverfügbarkeiten des Verteidigers und der Sachverständigen abgefragt und von diesen am 04. bzw. 01.11.2024 Rückmeldungen erhalten, aus denen sich aus Sicht der Kammer ergab, dass eine beschleunigte Durchführung der Hauptverhandlungen aufgrund unzureichender Verfügbarkeiten nicht möglich sein würde. Darüber kam es zu einer fortgesetzten Korrespondenz zwischen der stellvertretenden Kammervorsitzenden und dem Verteidiger.

Am 08.11.2024 erging sodann die Eröffnungsentscheidung der Kammer. Zugleich verfügte die stellvertretende Kammervorsitzende die Ladung zur Hauptverhandlung mit Beginn am 21.11.2024 um 16 Uhr, also vier Tage vor Ablauf der nach § 43 Abs. 2 StPO zu berechnenden Sechs-Monats-Frist. Die Ladungsverfügung wurde am 11.11.2024 ausgeführt; die Zustellung an den Verteidiger erfolgte am 13.11.2024.

Aufgrund der Nichteinhaltung der Ladungsfrist nach § 217 Abs. 1 StPO beantragte der Verteidiger für den Angeklagten in der Hauptverhandlung vom 21.11.2024 die Aussetzung der Hauptverhandlung gemäß § 217 Abs. 2 StPO und teilte auf Frage des Vorsitzenden mit, dass auch für den Beginn der Hauptverhandlung am 28.11.2024 (dem eigentlich nächsten Fortsetzungstermin) seitens des Angeklagten nicht auf die Einhaltung der Ladungsfrist verzichtet werde. Die Hauptverhandlung wurde sodann mit Beschluss der Kammer in der begonnenen Hauptverhandlung ausgesetzt. Von einer Terminierung auf den 28.11.2024 sah der Vorsitzende ab, da umstritten sei, ob die Ladungsfrist nach § 217 Abs. 1 StPO auch nach Aussetzung der Hauptverhandlung gelte. Dies sei nach seiner Auffassung jedenfalls dann anzunehmen, wenn – wie vorliegend – die Ladungsfrist bezüglich der ausgesetzten Hauptverhandlung nicht gewahrt gewesen sei.

Die Strafkammer hat die Fortdauer der Untersuchungshaft für erforderlich und verhältnismäßig gehalten und hat die Akten dem OLG zur Entscheidung vorgelegt. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Fortdauer der Untersuchungshaft anzuordnen.

Der Verteidiger hatte gegenüber der Kammer in der Korrespondenz im Hinblick auf die problematische Terminierung zunächst ausgeführt, die mögliche Terminierung trage „dem besonderen Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen hinreichend Rechnung“. In seiner an den Senat gerichteten Stellungnahme vom 28.11.2024 hate er nunmehr eine umfassende Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes gerügt.

Das OLG hat den Haftbefehl des AG aufgehoben und die Entlassung des Angeklagten aus der U-Haft angeordnet. Das OLG hat den m.E. schleppenden Verfahrensgang mit deutlichen Worten gerügt. Wegen der Einzelheiten bitte selbst lesen. Ich veröffentliche hier nur die Leitsätze (des OLG), und zwar:

1. Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen gilt während des gesamten Ermittlungsverfahrens. Es ist daher uneingeschränkt mit Beginn des Vollzuges der Untersuchungshaft zu beachten und nicht etwa – solange die Sechs-Monats-Frist (gerade noch) eingehalten werden kann – bis zur besonderen Haftprüfung nach §§ 121, 122 StPO mit geringeren Anforderungen.

2. Eine mit Haftsachen befassten Großen Strafkammer muss – anders als bei einer unvorhergesehenen und kurzen Erkrankung – dafür Sorge tragen, dass bei einem längerfristigen Ausfall eines Kammermitgliedes gleich aus welchem Grund eine angemessene Verfahrensförderung und ggf. auch die Durchführung einer Hauptverhandlung mit einer Vertretung gewährleistet ist. Ein unabsehbares Zuwarten stellt schon für sich eine Verletzung des Beschleunigungsgebots dar.

3. Es ist seitens der Staatsanwaltschaft grundsätzlich nicht zu beanstanden, dass der Eingang von Gutachten abgewartet wird, um bei Anklageerhebung sämtliche Beweismittel anführen zu können. Verzögert sich dies aber, ist dieser Verzögerung zum einen dadurch zu begegnen, dass die Gutachtenerstellung maximal priorisiert wird und zum anderen der Abschluss der Ermittlungen soweit vorangebracht wird, dass bei Eingang der restlichen Ermittlungsergebnisse diese zeitnah eingearbeitet werden können.

4. Dass es gerade im Hinblick auf die Auslastung von Verteidigern und Sachverständigen zu Konstellationen kommt, die dem Beschleunigungsgebot bei der Terminierung zuwiderlaufen, ist ein Problem, welches in Haftsachen geradezu typischerweise besteht. Es ist daher von einem mit Haftsachen befassten Spruchkörper zu erwarten, dass dem durch frühzeitige Planung und Terminabstimmung wirksam begegnet wird.

5. Bei der Annahme der Verhinderung eines Verteidigers ist ein Maßstab zugrunde zu legen, der sich an der Vorrangigkeit von Haftsachen orientiert. In einer Haftsache kommt deshalb grundsätzlich lediglich eine Verhinderung durch andere bereits bestimmte Hauptverhandlungstermine in Haftsachen in Betracht, die von dem Verteidiger grundsätzlich auch zu belegen ist. Eine Beiordnung hat zu unterbleiben oder ist zu beenden, wenn ein Verteidiger nicht gewährleisten kann, das ihm übertragene Mandat auch tatsächlich wahrzunehmen.

Bewährung I: Erörterungen der Wirkungen der U-Haft, oder: Anforderungen an die Kriminalprognose

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Am Monatsende kommen dann heute hier drei Postings zur Bewährung.

Als erste Entscheidung kommt der BGH, Beschl. v. 16.07.2024 – 2 StR 263/24. Das LG hat den Angeklagten wegen versuchter Nötigung „in Tatmehrheit mit gefährlicher Körperverletzung“ zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten verurteilt und von einem weiteren Vorwurf freigesprochen. Dagegen die Revision des Angeklagten, mit der er hinsichtlich der Frage der Bewährung Erfolg hatte:

„Rechtlich zu beanstanden ist aber, unbeschadet des hierbei bestehenden Beurteilungsspielraums des Tatgerichts (vgl. BGH, Urteil vom 10. Februar 2022 – 1 StR 437/21, StV 2022, 642, 643 Rn. 5 mwN), die Versagung der Strafaussetzung zur Bewährung.

1. Die Strafkammer hat eine positive „Sozialprognose“ im Sinne des § 56 Abs. 1 StGB verneint. Sie hat zu Ungunsten des Angeklagten ausgeführt, er sei zwar in Deutschland bisher strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten, sei aber nach der Außervollzugsetzung des Haftbefehls im Juni 2022 den ihm erteilten Weisungen – bei denen es sich um solche nach § 116 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 StPO handelte – nicht nachgekommen. Auch für die Annahme des Fehlens besonderer Umstände im Sinne des § 56 Abs. 2 StGB falle entscheidend zu Lasten des Angeklagten ins Gewicht, dass keine positive „Sozialprognose“ bestehe.

2. Diese Begründung leidet an einem rechtlich erheblichen Erörterungsmangel. Obschon das Landgericht den Angeklagten im Rahmen der Strafzumessung als haftempfindlich behandelt hat, hat es sich nicht mit möglichen spezialpräventiven Wirkungen der Untersuchungshaft befasst, die nach der erneuten Festnahme des Angeklagten zum Zeitpunkt des Urteils bereits seit über sieben Monaten andauerte (vgl. BGH, Urteil vom 10. Februar 2022 – 1 StR 437/21, StV 2022, 642, 644 Rn. 15; Beschlüsse vom 29. Mai 1990 – 5 StR 174/90 Rn. 7; vom 23. März 1995 – 4 StR 118/95, StV 1995, 414, 415, und vom 11. Januar 2022 – 6 StR 493/21, Rn. 3; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl., Rn. 215).

3. Der Senat sieht Veranlassung zu dem Hinweis, dass es für die Kriminalprognose gemäß § 56 Abs. 1 und 2 StGB allein darauf ankommt, ob ohne Vollstreckung der verhängten Freiheitsstrafe zu erwarten ist, dass der Täter sich in Zukunft nicht mehr strafbar machen wird. Allgemeines Wohlverhalten wird hierfür nicht verlangt. Das Erfordernis einer „ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben“ umfassenden günstigen Sozialprognose hat das Erste Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 25. Juni 1969 (BGBl. I, S. 645, 647) bereits mit Wirkung zum 1. Januar 1970 aufgegeben (BGH, Urteile vom 4. November 2021 – 6 StR 12/20, wistra 2022, 167, 172 Rn. 119, und vom 10. Februar 2022 – 1 StR 437/21, StV 2022, 642, 643 Rn. 8 mwN; MüKo-StGB/Groß/Kett-Straub, 4. Aufl., § 56 Rn. 16).

Damit ist es nicht ohne weiteres zu vereinbaren, die Verneinung einer positiven Prognose entscheidend auf den bloßen Ungehorsam des Angeklagten gegen die ihm im Rahmen der Haftverschonung erteilten Anweisungen zu stützen, ohne die Bedeutung seiner Verstöße gegen Melde- und Aufenthaltspflichten für die Erwartung künftiger straffreier Führung zu bewerten.“

Strafe I: Berücksichtigung von erlittener U-Haft?, oder: U-Haft bleibt grundsätzlich außen vor

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Ich stelle heute dann mal wieder Entscheidungen vor, die mit der Strafe und auch deren Vollstreckugn zu tun haben.

Den Opener mache ich mit dem BGH, Beschl. v. 15.08.2024 – 4 StR 79/24 – zur Strafzumessung und dabei zur Frage der Berücksichtigung von erlittener U-Haft. Das LG hatte diesen Umstand  bei der Strafrahmenwahl mit herangezogen, das hat edem BGH nicht gefallen:

„1. Die wirksam auf den Strafausspruch beschränkte (vgl. BGH, Urteil vom 15. Juli 2020 – 2 StR 288/19 Rn. 7 ff.; Beschluss vom 27. April 2017 – 4 StR 547/16, BGHSt 62, 155 Rn. 20) Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.

2. Der Strafausspruch hält auch unter Berücksichtigung des eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs (vgl. zum Prüfungsmaßstab BGH, Beschluss vom 10. April 1987 – GSSt 1/86, BGHSt 34, 345, 349; Beschluss vom 1. Februar 2023 – 4 StR 492/22 Rn. 4 mwN) sachlich-rechtlicher Prüfung nicht stand.

a) Die Strafrahmenwahl begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken, weil das Landgericht dabei zugunsten des Angeklagten die erlittene Untersuchungshaft von sieben Monaten berücksichtigt hat.

Erlittene Untersuchungshaft ist regelmäßig für die Strafzumessung ohne Bedeutung, weil sie nach § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB grundsätzlich auf die zu vollstreckende Strafe angerechnet wird. Auch beim erstmaligen Vollzug von Untersuchungshaft kommt eine mildernde Berücksichtigung nur in Betracht, sofern im Einzelfall besondere Umstände hinzutreten (st. Rspr.; vgl. nur Urteil vom 25. Oktober 2018 – 4 StR 312/18 mwN; Urteil vom 19. Dezember 2002 – 3 StR 401/02 Rn. 8). Solche zusätzlichen, den Angeklagten besonders beschwerenden Umstände oder Folgen des Haftvollzugs hat die Strafkammer nicht dargetan. Vielmehr ist der Angeklagte bereits hafterfahren. Gegen ihn wurde vor seiner Inhaftierung in vorliegender Sache eine mehrjährige Haftstrafe in Tschechien vollstreckt. Soweit die Strafkammer auf die (erstmalige) Verbüßung von Untersuchungshaft in Deutschland abstellt, können zwar bei einem Ausländer – wie hier – fehlende familiäre Bindungen in Deutschland oder fehlende Kenntnisse der deutschen bzw. einer sonst verbreiteten Sprache und ein daraus folgender Mangel sozialer Kontakte besondere Erschwernisse enthalten, die über die üblicherweise mit Untersuchungshaft verbundenen Beeinträchtigungen hinausgehen (vgl. BGH, Urteil vom 14. Juni 2006 – 2 StR 34/06 Rn. 10). Solche Umstände sind jedoch in den Urteilsgründen darzulegen und zu belegen. Daran fehlt es hier. Sie liegen vorliegend auch nicht auf der Hand, soweit die Strafkammer festgestellt hat, dass der kinderlose Angeklagte soziale Kontakte zu seiner seit sieben Jahren in Deutschland lebenden Schwester unterhält.

b) Da das Landgericht bei der Strafzumessung im engeren Sinne – für sich genommen unbedenklich – durch eine „abschließende zusammenfassende Würdigung“ auf seine Ausführungen zur Strafrahmenwahl Bezug genommen hat, wirkt sich der vorstehend aufgezeigte Rechtsfehler auch auf die konkrete Strafzumessung aus.

c) Der Senat kann schon nicht ausschließen, dass das Landgericht bei rechtsfehlerfreier Würdigung die Annahme eines minder schweren Falles abgelehnt und infolgedessen zu einer höheren Strafe gelangt wäre. Die Sache bedarf deshalb neuer Verhandlung und Entscheidung.“

U-Haft II: Haftgrund der Wiederholungsgefahr, oder: Maßgeblich ist das konkrete Erscheinungsbild der Tat

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Und im zweiten Posting geht es dann auch um den Haftgrund. Das LG Wiesbaden hat im LG Wiesbaden, Beschl. v. 15.05.2024 – 1 Qs 37/24 – den Haftgrund der Wiederholungsgefahr, von dem das AG ausgegangen war verneint. Dem Beschuldigten wird in dem Verfahren gewerbsmäßiger Bandendiebstahl in 17 Fällen vorgeworfen. Das reichte dem LG nicht für den Haftgrund nach § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO:

„Auch die Voraussetzungen des Haftgrunds der Wiederholungsgefahr nach § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO liegen nicht vor.

Die Wiederholungsgefahr i.S. dieser Vorschrift setzt voraus, dass der Beschuldigte dringend verdächtig ist, wiederholt oder fortgesetzt eine die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigende Straftat im Sinne des §§ 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO begangen zu haben. Bereits diese Voraussetzung ist nach Auffassung der Kammer nicht gegeben.

Allerdings stellt der Vorwurf des gewerbsmäßigen Bandendiebstahls unter Mitwirkung eines anderen Bandenmitglieds gemäß dem §§ 243 Abt 1 S. 2 Nr. 3, 244a Abs. 1 StGB in jedem einzelnen der Fälle eine Anlasstat nach dem Katalog des § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO dar, die grundsätzlich geeignet ist, den Haftgrund der Wiederholungsgefahr zu begründen. Bereits gemäß der angedrohten Freiheitsstrafe des § 244a Abs. 1 StGB ist hierbei auch von einer Straferwartung für jedenfalls einem Teil der verwirklichten Straftaten von über einem Jahr auszugehen (ausreichend: vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 01.04.2010 — 3 Ws 161/10), wobei dahingestellt bleiben kann, ob nicht ohnehin auf die zu erwartende Gesamtfreiheitsstrafe maßgeblich abzustellen ist (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 01.04.2010 —3 Ws 161/10).

Allerdings beeinträchtigt der gegebene dringende Tatverdacht die Rechtsordnung nicht schwerwiegend, so dass auch der Haftgrund der Wiederholungsgefahr gemäß § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO ausgeschlossen ist.

Im Hinblick auf das Grundrecht der Freiheit der Person ist ein strenger Maßstab an das Bestehen des Haftgrunds anzulegen und auch bei der Prüfung, ob weitere schwerwiegende Straftaten zu erwarten sind, sind strenge Anforderungen zu stellen (vgl. BVerfGE 35,185). Da jede Straftat die Rechtsordnung beeinträchtigt und die in § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO genannten Katalogtaten bereits abstrakt-generell schwerwiegender Natur sind, kann die Auslegung des Merkmals der schwerwiegenden Beeinträchtigung der Rechtsordnung nur dahingehend erfolgen, dass einschränkend erforderlich ist, dass die jeweilige Anlasstat auch im Einzelfall schwer wiegt (KHK zur StPO, 9. Aufl. 2023, zu § 112a Rn. 14a). Diese muss daher in ihrer konkreten Gestalt, insbesondere nach Art und Ausmaß des angerichteten Schadens, einen hohen Unrechtsgehalt aufweisen, so dass in einer Gesamtschau wenigstens eine Einordnung in dem Bereich der „oberen Hälfte der mittelschweren Kriminalität“ zu erfolgen hat (OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 14.09.2016 — 1 Ws 126/16; OLG Hamm, Beschluss vom 01.04.2010 — 3 W s 161 /10; OLG Braunschweig, Beschluss vom 07.11.2011 — Ws 316/11). Dabei ist auf die einzelne Tat und nicht auf die Gesamtheit aller Taten abzustellen (OLG Frankfurt a.M., a.a.O.; OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 24.11.2009 — 1 W s 126 /09; MüKo, StPO, 2. Aufl. 2023, zu § 112a, Rn. 40), da durch leichtere Übergriffe in der Regel keine schwerwiegende Beeinträchtigung der Rechtsordnung im Sinne der Störung des allgemeinen Rechtsfriedens eintritt.

Maßgeblich für die Beurteilung im Rahmen des konkreten Erscheinungsbildes der Tat sind insbesondere Art und Umfang des jeweils angerichteten Einzelschadens, wobei bei der jeweiligen Einzeltat ein Schaden von mindestens 2000 € erreicht sein muss (MüKo, a.a.O., Rn. 26; KK zur StPO, 9. Aufl. 2023, zu § 112a, Rn. 14a; für gewerbsmäßigen Betrug: OLG Naumburg, Beschluss vom 26.07.2011 — 1 Ws 616 /11; OLG Hamburg, Beschluss vom 20.07.2017- 2 Ws 110/17; vgl. a. OLG Hamm, Beschluss vom 01.04.2010 — 3 Ws 161/10). Vorliegend wird dem Beschuldigten vorgeworfen, in 17 Fällen gewerbsmäßig und als Mitglied einer Bande Beträge zwischen 10 E und 1100 E widerrechtlich entwendet zu haben. Eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Rechtsordnung kann hiernach nicht begründet werden,

Selbst wenn jedoch entgegen der hier vertretenen Auffassung das Vorliegen einer schwerwiegenden Beeinträchtigung bei fortgesetzten Taten auch anhand des Gesamtschadens zu bestimmen sein sollte, kann dieser auch bei tatmehrheitlich begangenen Serientaten nur bei einem sehr hohem (weit Überdurchschnittlichem) Gesamtunrecht Berücksichtigung finden (KK, StPO, 9. Aufl. 2023, zu § 112a, Rn. 14a; LG Freiburg, Beschluss vom 24.04.2015-2 Qs 47/15). Auch ein solches vermag die Kammer bei einem Gesamtschaden von 7802,36 € nicht zu erkennen.

Schließlich genügen keine besonderen Umstände in Tat oder der Lebensumstände des Beschuldigten dem Tatbestandmerkmal einer „schwerwiegenden Beeinträchtigung der Rechtsordnung“. So ist bereits zweifelhaft, ob solche Umstände überhaupt geeignet sind, eine solch schwerwiegende Beeinträchtigung i.S.d. Norm zu begründen. Selbst wenn dies aber bejaht werden sollte, müssten die Umstände in ihrer Schwere einen Grad erreichen, die eine Einordnung in den „oberen Bereich der mittelschweren Kriminalität“ begründen. Dies ist vorliegend nicht der Fall.

So wird dem Beschuldigten vorgeworfen, zusammen mit seinen Brüdern Tankstellen und Verkaufsläden aufgesucht zu haben, wobei einer der Beschuldigten das Verkaufspersonal abgelenkt haben soll, während die übrigen Beschuldigten überwiegend E-Shishas, zum Teil auch elektronische Geräte widerrechtlich entwendeten. Hierbei handelt es sich um Ladendiebstähle, die angesichts der einfachen Ausführung und des begrenzten Schadens weder ein gesteigertes Handlungs- noch ein gesteigertes Erfolgsunrecht erkennen lassen. Allein eine gewerbsmäßige, bandenmäßige Begehung auch in 17 zeitnahen Einzelfellen genügt nicht, hier eine abweichende Bewertung und die Annahme einer Einordnung der vorgeworfenen Taten in den oberen Bereich der mittelschweren Kriminalität zu begründen. Gleiches gilt erst recht für die persönlichen Urnstände des Beschuldigten, nach welchem dieser derzeit arbeitslos ist und nach Haftentlassung in sein gewohntes Umfeld zurückkehrt. Hieraus eine besondere, schwerwiegende Beeinträchtigung i.S.d. § 112a StPO zu rechtfertigen, ist nach Ansicht der • Kammer ausgeschlossen.

Auch wird das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung durch die vorgeworfenen Taten nicht über das Maß der den vorgeworfenen Delikten immanenten Unrechtsgehalt hinaus beeinträchtigt.“

U-Haft I: Haftgrund der Verdunkelungsgefahr, oder: Charakter des vorgeworfenen Delikts reicht nicht

entnommen der Homepage der Kanzlei Hoenig, Berlin

Und heute dann einige Haftentscheidungen.

Ich beginne mit dem OLG Hamm, Beschl. v. 16.05.2024 – III-1 Ws 192/24 – zu den Haftgründen Fluchtgefahr und Verdunkelungsgefahr. Das OLG hat einen gegenden Beschuldigetn wegen   Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt erlassenen Haftbefehl auf die weitere Haftbeschwerde des Beschuldigten außer Vollzug gesetzt.

Zu dem Haftgrund der Verdunkelungefahr führt das OLG aus:

„3. Der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr im Sinne des § 112 Abs, 2 Nr. 3 StPO ist nicht gegeben. Die Annahme dieses Haftgrundes setzt ein Verhalten des Beschuldigten voraus, das den dringenden Verdacht begründet, dass durch bestimmte Handlungen auf sachliche oder persönliche Beweismittel eingewirkt und dadurch die Ermittlung der Wahrheit erschwert werden wird. Dabei muss das Einwirken des Beschuldigten aktiv erfolgen, das bloße Bestreiten oder das Verweigern einer Einlassung reicht nicht aus. Die „Verdunkelungsgefahr‘ muss aufgrund bestimmter Tatsachen begründet sein. Diese müssen jedoch nicht zur vollen Überzeugung des Gerichts feststehen, die bloße Möglichkeit verdunkelnder Handlungen genügt andererseits nicht. Ebenso reicht es allein nicht aus, dass noch weitere umfangreiche Ermittlungen erforderlich sind. Die „bestimmten Tatsachen“ können sich aus dem Verhalten, den Beziehungen und den Lebensumständen des Beschuldigten ergeben (vgl, Senat, Beschluss vom 27.01.2014 – III-1 Ws 14/14 -; OLG Hamm, Beschluss vom 14.01.2010 – 2 Ws 347/09 juris; OLG Hamm, Beschluss vom 12.01.2004 – 2 Ws 326/03 -, juris; OLG Düsseldorf, StV 1997, 534; OLG München, StV 1996, 439; OLG Köln, StV 1992, 383; (KG Berlin, Beschluss vom 30.04,2019 — (4) 161 HEs 22/19 (10 – 11/19) —, juris; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., Rn. 26 ff., m.w.N.).

Derartige eine „Verdunkelungsgefahr“ begründende Umstände liegen hier nicht vor. Sofern das Amtsgericht auf das besonders hohe Eigeninteresse des Beschuldigten an der Beseitigung der ihn belastenden Beweismittel und seinen beachtlichen Wissensvorsprung abgestellt hat, handelt es sich schon nicht um ein Verhalten des Beschuldigten. Darüber hinaus hat das Amtsgericht für die Annahme einer Verdunkelungsgefahr auf das von einem hohen Maß an Eigennutz und krimineller Energie getragene Verhalten des Beschuldigten in den letzten Jahren bzw. das aus der Akte ersichtliche geschäftliche Handeln des Beschuldigten abgestellt, das deutlich auf Verschleierung und Entziehung schließen lasse. Auch das Landgericht hat den Haftgrund der Verdunkelungsgefahr damit begründet, die dem Beschuldigten zur Last gelegten Taten seien gerade dadurch geprägt, dass er eine Vielzahl von Arbeitnehmern nicht zur Sozialversicherung angemeldet haben und diesen — nach Abhebung nicht aufgliederbarer Barbeträge in erheblicher Höhe — die Löhne bar ausgezahlt haben soll, um die Nachvollziehbarkeit zu verhindern. Dieses im großen Stil und über mehrere Jahre betriebene Geschäftsmodell sei gerade darauf angelegt, staatliche Stellen durch fehlende Transparenz und fehlende Unterlagen an der Geltendmachung. bestehender Ansprüche zu hindern. Aufgrund dieser verschleiernden Handlungen bei der Tatbegehung erscheine es sehr wahrscheinlich, dass der Beschuldigte auch in dem gegen ihn geführten Ermittlungsverfahren Handlungen der in § 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO beschriebenen Art vornehmer) werde, um die Wahrheitsermittlung zu erschweren.

Amtsgericht und Landgericht haben die Verdunkelungsgefahr damit letztlich aus dem Charakter des dem Beschuldigten vorgeworfenen Delikts hergeleitet. Denn das Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt geht regelmäßig damit einher, das strafbare Handeln gegenüber den staatlichen Stellen zu verschleiern. Auch sind Fälle des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt regelmäßig von einem eigennützigen Gewinnstreben getragen. Aus der Eigenart und der gewählten Begehungsweise des Delikts allein lässt sich jedoch im Allgemeinen die Verdunkelungsgefahr nicht ableiten. Hinzu kommen müssen für deren Annahme vielmehr noch weitere – hier nicht feststellbare – Umstände, aus denen auf die Gefahr der negativen, nämlich verdunkelnden Einflussnahme geschlossen werden kann (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 14,01.2010 – 2 Ws 347/09 juris; OLG Hamm, Beschluss vom 06.02.2002 – 2 Ws 27/02 -, juris; KG Berlin, Beschluss vom 18,12.1998 – 2 AR 144/98 (K) – 4 Ws 264/98 -, juris; OLG Frankfurt, Beschluss vom 26.10.2006 – 1 Ws 87/06 -, Rn.128, juris, m.w.N.; BayObLG, Beschluss vom 25.01.1996 – 2 Ws 37/96 -, beck-online; OLG Frankfurt, Beschluss vom 14.02.2022 1 HEs 509/21 -, beck-online). Ginge man davon aus, dass bestimmte – auf Verschleierung und Manipulation angelegte – Delikte, wie z.B. Betrug und/oder Steuerhinterziehung allein wegen ihres Charakters die Verdunkelungsgefahr begründen, wäre bei diesen Delikten mit der Bejahung des dringenden Tatverdachts zugleich immer auch der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr indiziert. Eine solche Sicht widerspricht aber der gesetzlichen Regelung, nach der der Erlass eines Haftbefehls eben nicht nur vom Vorliegen des dringenden Tatverdachts abhängt, sondern als weitere Voraussetzung das Vorliegen eines Haftgrundes als eigenständige ‚Voraussetzung geprüft und bejaht werden muss (vgl. OLG Hamm, a.a.O.).

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der in dem Beschluss des Landgerichts Siegen zitierten Entscheidung des KG Berlin (Beschluss vom 30.04.2019 — (4) 161 HEs 22/19 (10 – 11/19) juris). Dort wird u.a. erwähnt, Verdunkelungsgefahr könne auch „durch die Deliktsnatur und die Umstände der verfolgten Tat nahegelegt werden, etwa Mitgliedschaft in kriminellen oder terroristischen Vereinigungen, Taten der organisierten Kriminalität oder auf Irreführung und Verschleierung angelegte Taten“. Dass das KG meint, allein aus der Deliktsnatur könne auf Verdunkelungsgefahr geschlossen werden, lässt sich daraus nicht entnehmen, zumal für die in der dortigen Entscheidung angenommene Verdunkelungsgefahr eine Gesamtschau von Tatsachen bedeutsam war. Der Deliktsnatur kam dabei keine erkennbare Bedeutung zu.

Überdies ist der Haftbeschwerde darin zuzustimmen ist, dass es mit dem Vorwurf eines deutlich auf Verschleierung von Schwarzlohnzahlungen angelegten Verhaltens nur schwer in Einklang zu bringen ist, dass der Beschuldigte regelmäßig auffällig hohe Barbeträge von dem Geschäftskonto der Pp.GmbH abgehoben und hierbei als Verwendungszweck oftmals Bezeichnungen wie „Löhne“ oder „Gehälter“ verwendet hat. Sofern das Landgericht demgegenüber unter Hinweis auf die nicht aufgliederbaren Barabhebungen im fünf- und sechsstelligen Bereich ausführt, das Geschäftsmodell sei gerade darauf angelegt, staatliche Stellen durch fehlende Transparenz und fehlende Unterlagen an der Geltendmachung bestehender Ansprüche zu hindern, bleibt hierbei unberücksichtigt, dass nach dem gegenwärtigen Ermittlungsstand noch keine Erkenntnisse über die Buch- und Beleglage der Pp.GmbH im Tatzeitraum vorliegen. Ob sich daraus konkrete Anhaltspunkte für eine (systematische) Verschleierung von Sachverhalten durch den Beschuldigten ergeben, ist derzeit noch ungewiss.“