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Pflichti II: Bestellung wegen „Schwere der Tat“, oder: Gesamtstrafenfall

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Und als zweite Entscheidung zu Pflichtverteidigungsfragen dann hier der LG Braunschweig, Beschl. v. 20.08.2020 – 9 Qs 159/20, in dem es um die Bestellung wegen Schwere der Tat in den Gesamtstrafenfällen geht. Das AG hatte abgelehnt. Das LG schließt sich an:

„Die Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung gemäß § 140 Abs. 1, Abs. 2 StPO liegen nicht vor, insbesondere ist eine Beiordnung des Verteidigers auch nicht aufgrund der Schwere der Tat oder der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage geboten.

Über die Verteidigerbestellung nach § 140 Abs. 2 StPO entscheidet der Vorsitzende nach pflichtgemäßen Ermessen, wobei seinem Beurteilungsspielraum durch den Rechtsbegriff der Schwere der Tat Grenzen gesetzt sind (Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, 61. Aufl. 2018, § 140 Rn. 22 m. w. N.). Die Schwere der Tat beurteilt sich nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung (BGH, Urteil vom 29. 6. 1954 – 5 StR 207/54, NJW 1954, 1415). Nach herrschender Meinung ist die Erwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe die Grenze, ab der ein Fall notwendiger Verteidigung gegeben ist (OLG Naumburg, Beschluss vom 19.09.2011 – 2 Ws 245/11, BeckRs 2013, 00134; OLG München, Beschluss vom 13. 12. 2005 – 5St RR 129/05, NJW 2006, 789; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 06.07.1994 – 5 Ss 232/94 – 77/94 I, NStZ 1995, 147; Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung; 61. Aufl. 2018, § 140 Rn. 23 m. w. N.). Die Schwelle von einem Jahr Freiheitsstrafe gilt auch bei Gesamtstrafenbildung, denn maßgeblich ist der Umfang der Rechtsfolgen, die insgesamt an den Verfahrensgegenstand geknüpft sind, nicht die Höhe der Einzelstrafen (BeckOK StPO/Krawczyk, 36. Ed. 1.1.2020, StPO § 140 Rn. 24).

Die Gesamtstrafenbildung richtet sich nach § 54 StGB. Ihre Bildung ist ein eigenständiger Strafzumessungsakt, der sich — innerhalb des von § 54 StGB genannten Rahmens — nicht an der Summe der Einzelstrafen oder an rechnerischen Grundsätzen zu orientieren hat, sondern an gesamtstrafenspezifischen Kriterien (vgl. EGH, BGH, Beschluss vom 21. 10. 2009 – 2 StR 377/09, NStZ-RR 2010, 40; Fischer, Strafgesetzbuch, 67. Aufl. 2020, § 54 Rn 7f. m. w. N.). Die Strafzumessung obliegt dem Ermessen des Tatgerichts, das sich dabei an § 46 StGB zu orientieren hat.

Eine fehlerhafte Beurteilung der Straferwartung aufgrund der Aktenlage liegt nicht vor. Die Erhöhung der Einsatzstrafe kann umso geringer ausfallen, je mehr — wie hier – zwischen den Taten ein enger zeitlicher, sachlicher und situativer Zusammenhang besteht (Fischer, Strafgesetzbuch, 67. Aufl. 2020, § 54 Rn. 7a m. w. N.). Die Bemessung der Gesamtstrafe ist im Wege einer Gesamtschau des Unrechtsgehalts und Schuldumfangs vorzunehmen (ebd.).

Unter Berücksichtigung der weiteren gegen den Angeschuldigten geführten Verfahren ist die Verhängung einer Freiheitsstrafe von einem Jahr im Rahmen einer Gesamtstrafenbildung nicht annähernd ersichtlich. Es handelt sich jeweils um kleinere Vergehen des nicht vorbestraften Angeschuldigtem in engem zeitlichem und sachlichem Zusammenhang. Die Einschätzung der Staatsanwaltschaft, dass jeweils nur mit Geldstrafen zu rechnen ist, ist dabei nicht verfehlt.

Das Verfahren weist auch keine besondere Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage auf. Es handelt sich in sachlicher Hinsicht um ein auch für den Laien überschaubares Verfahren mit einem einfach gelagerten Vorwurf. Auch in rechtlicher Hinsicht besteht keine besondere Schwierigkeit. Der Strafbefehl umfasst lediglich zwei Tatbestände, den der (einfachen) Körperverletzung und den der Nötigung, die auch für den Laien begreifbar sind.

Eine Pflichtverteidigerbestellung war auch nicht auf den ersten Antrag von Rechtsanwalt pp. vom 15.04.2020 unter Berücksichtigung des § 141 Abs. 1, Abs. 2 StPO geboten. Die Vorschrift setzt einen Fall notwendiger Verteidigung voraus (vgl. BeckOK StPO/Krawczyk, 37. Ed. 1.7.2020, StPO § 141 Rn. 3). Vorliegend stand von Beginn des Ermittlungsverfahrens an nicht fest, ob ein Raub oder lediglich Körperverletzung und Nötigung vorgeworfen werden können, mithin war zu diesem Zeitpunkt ein Fall notwendiger Verteidigung nicht gegeben.

Auch hier: Meyer-Goßner/Schmitt in der 61. Auflage. Was ist los in Braunschweig?

Pflichti II: Materielle Voraussetzungen der Bestellung, oder: AufenthG, DNA und ausländerrechtliche Folgen

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Im zweiten Posting dann einige Entscheidungen zu den (materiellen) Voraussetzungen der Bestellung eines Pflichtverteidigers. Und damit es nicht zu viel wird, stelle ich auch hier nur die Leitsätze der Entscheidungen vor, und zwar:

Allein der Umstand, dass das Gericht das Vorliegen eines persönlichen Strafausschließungsgrundes nach § 95 Abs. 5 AufenthG zu prüfen hat, macht die Sach- oder Rechtslage noch nicht schwierig im Sinne von § 140 Abs. 2 StPO.

KG, Beschl. v. 14.102020 – 3 Ws 226/20

Die Einholung eines Sachverständigengutachtens erfordert nicht in jedem Fall die Beiordnung eines Verteidigers. Für eine Beiordnung spricht aber, das Vorliegen eines DNA-Gutachtens, mit dem eine  kritische Auseinandersetzung erfolgen muss, die einem Laien ohne Unterstützung durch einen Verteidiger in der Regel nicht möglich sein wird.

LG Aachen, Beschl. v. 08.07.2020 – 62 Qs 41/20

  • Schwere der Tat

Zur Frage der Bestellung eines Pflichtverteidigers bei einem ausländischen Beschuldigten im Hinblick auf Verständigungsschwierigkeiten und ggf. mögliche ausländerrechtliche Folgen einer Verurteilung.

LG Kaiserslautern, Beschl. v. 27.11.2020 – 5 Qs 84/20

Pflichti III: Beiordnung wegen Schwere der Tat, oder: Ein Jahr Freiheitsstrafe muss es sein

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Und als dritte Entscheidung dann der LG Magdeburg, Beschl. v. 10.08.2020 – 25 Qs 79/20 -, der mal wieder vom Kollegen Funck aus Braunschweig stammt. Er ist einer meiner Hauptlieferanten für Pflichtverteidigungsentscheidungen. Dafür hier dann mal herzlichen Dank.

Problematik der Entscheidung: Voraussetzungen des § 140 StPO bzw. Schwere der Tat. Das LG hat in einem BtM-Verfahren beigeordnet:

„Der Beschluss des Amtsgerichtes Halberstadt vom 13, Juli 2020 -Az. 3 Gs 855 Js 86084/19 (365/20) – hält der rechtlichen Überprüfung nicht stand, da ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO vorliegt. Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt auch vor, wenn die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheinen lässt. So ist es hier, da die Schwere der Rechtsfolge nach ständiger Rechtsprechung bereits bei einer zu erwartenden Freiheitsstrafe von über einem Jahr angenommen werden kann (OLG Naumburg, BeckRS 2013, 134; OLG Naumburg, BeckRS 2013, 10548; OLG Düsseldorf, NStZ 1995, 147; LG Stendal, LSK 2018, 50751; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63, Aufl. 2020, § 140, Rn. 23 f.; BeckOK StPO/Krawczyk, 37. Ed. 1.7.2020, StPO § 140 Rn. 23 f). Die Kammer schließt sich dieser Rechtsansicht an, da auch bei Begehung eines Vergehens i. S. v. § 12 Abs. 2 StGB, welche die Annahme einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von über einem Jahr rechtfertigt, keine anderen Maßstäbe gelten dürfen, als bei der Begehung eines Verbrechens i.S. v. § 12 Abs, 1 StGB, welche grundsätzlich zur Annahme eines Falles der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO führt. Diese Voraussetzung ist zu bejahen, da eine Verurteilung des Beschwerdeführers bei Erweislichkeit des Tatvorwurfes zu einer Freiheitsstrafe von über einem Jahr führen dürfte. Gegen den Beschwerdeführer besteht der Verdacht des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in einem besonders schweren Fall, da die Zeugin pp. bekundete, der Beschwerdeführer habe in mehr als zehn Fällen dem gesondert Verfolgten pp. Betäubungsmittel für den Weiterverkauf verkauft. Nach derzeitigem Stand besteht unter Berücksichtigung der kriminalistischen Erfahrungen, welche auch das Amtsgericht Halberstadt seinem Beschluss vom 08. Januar 2020 -Az. 3 Gs 855 Js 86084/19 (7/20) – zugrunde legte, der Verdacht, dass er dies tat, um sich ein regelmäßiges Einkommen zu verschaffen. Gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 S. 1 und 2 Nr. 1 BtMG sieht das Gesetz für das unerlaubte Handeltreiben mit Betäubungsmitteln, sofern der Täter gewerbsmäßig handelt, eine Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr vor. Bei Annahme des Regelbeispiels durch das Tatgericht wird sich der Strafrahmen des § 29 Abs. 1 BtMG gemäß § 29 Abs. 3 S. 1 BtMG erhöhen. Im Weiteren dürfte zu beachten sein, dass die Verurteilung des Beschwerdeführers durch das Amtsgericht Zwickau vom 17. Juli 2014 -Az. 5 Ls 323 Js 19731/13- noch nicht gemäß §§ 45 Abs. 1, 46 Abs. 1 Nr. 4 BZRG tilgungsreif ist und somit gemäß § 46 StGB i. V. m. § 51 BZRG strafschärfend berücksichtigt werden darf, so dass die zu erwartende Rechtsfolge in diesen Fällen schwer i. S. v. § 140 Abs. 2 StPO ist.

Zur Analyse des weißen Stoffes in dem Karton dürfte ein Sachverständigengutachten erforderlich sein, weswegen die Schwierigkeit der Sache auch nicht unerheblich i. S. v. § 140 Abs. 2 StPO sein wird.

Entgegen der Auffassung der Verteidigung besteht kein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO, da ein Verdacht des unerlaubten Handeltreibens gemäß § 30 a BtMG nach derzeitigem Stand nicht besteht. Die Staatsanwaltschaft hat zutreffend ausgeführt, dass die zwei Schlagringe, das Butterflymesser, die Taschenlampe-Elektroschock-Kombination sowie der Teleskopschlagstock nicht dem Beschwerdeführer zuzuordnen sein dürften. Jenes wird, nach derzeitigem Ermittlungsstand, durch die Aussage seiner Lebensgefährtin gestützt, welche sich selbst eines Verstoßes gegen das Waffengesetz bezichtigte, Im Übrigen dürfte es, wie von der Staatsanwaltschaft zutreffend ausgeführt, auch in dem Fall, dass diese Gegenstände dem Beschwerdeführer zuzuordnen wären, an der Zugriffsnähe i. S. v. § 30 a BtMG fehlen. Das Mitsichführen setzt voraus, dass die Waffe dem Täter in irgendeinem Stadium des Tatherganges zur Verfügung steht, d. h. sich so in seiner räumlichen Nähe befindet, dass er sich ihrer jederzeit, also ohne nennenswerten Zeitaufwand und ohne besondere Schwierigkeiten, bedienen kann. Dieses ist nicht mehr der Fall, wenn die Waffe und die Betäubungsmittel in einem Raus in unterschiedlichen, auch schwer zugänglichen Etagen, getrennt gelagert werden (Körner/PatzakNoikmer/VVeber, 9. Aufl. 2019, § 30 a, Rn. 79, 81). So liegt es hier, da die vermeintlichen Betäubungsmittel in dem Karton mit der Aufschrift „Caffeine“ im Keller gelagert worden sind und die Wohnung des Beschwerdeführers im Dachgeschoss lag.“

Sehr schön: Pflichtverteidiger und die Frage des § 30a BtMG gleich mitgeklärt 🙂 .

Pflichti III: „Beiordnungsbündel“, oder: Höhere Freiheitsstrafe, Akteneinsicht und SV-Gutachten

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Die dritte Entscheidung, den LG Magdeburg, Beschl. v. 24.07.2020 – 25 Qs 722 Js 17549/20 (74/20) – hat mir mal wieder der Kollege Funck aus Braunschweig geschickt.

Das LG hat auf seine sofortige Beschwerde in einem Verfahren mit dem Vorwurf gegen die Angeklagte, zwei Diebstahlstaten begangen zu haben, den Kollegen aus Pflichtverteidiger beigeordnet. Dazu stützt sich das LG auf mehrere Gründe:

„Die zulässige sofortige Beschwerde hat in der Sache Erfolg, da die Beschwerdeführerin einen Anspruch auf Bestellung eines Pflichtverteidigers gemäß § 141 Abs. 1 StPO hat.

Die Voraussetzungen sind erfüllt. Es liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO vor, da bereits die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge die Mitwirkung eines Pflichtverteidigers gebietet. Zwar gibt nicht schon jede Freiheitsstrafe Anlass zur Bestellung eines Pflichtverteidigers. Jedoch kann eine zu erwartende Freiheitsstrafe über einem Jahr in der Regel die Mitwirkung eines Verteidigers gebieten (Meyer-Goßner/Schmitt, 63. Aufl., § 140, Rn. 23 a). So liegt es hier. Der Beschwerdeführerin wird die tatmehrheitliche Begehung von zwei Diebstählen vorgeworfen. Der Diebstahl wird gemäß § 242 Abs. 1 StGB mit einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Gelstrafe bestraft. Dabei ist zu berücksichtigen, dass aufgrund der tatmehrheitlichen Begehung eine Gesamtstrafe gemäß § 53 StGB zu bilden sein wird und die Beschwerdeführerin bereits mehrfach einschlägig vorbestraft ist, wobei sie bereits mehrfach zu Freiheitsstrafen, auch Freiheitsstrafen von einem Jahr, verurteilt worden ist.

Daneben gebietet aber auch die Schwierigkeit der Sachlage die Mitwirkung eines Verteidigers, da die Beschwerdeführerin, anders als ihr Verteidiger, gemäß § 147 Abs. 4 StPO nur eine beschränkte Möglichkeit zur Einsichtnahme in die Akten hat (Meyer-Goßner/Schmitt, 63. Aufl, § 147, Rn. 32). Gegen eine persönliche Einsichtnahme der Akten durch die Beschwerdeführerin dürften insbesondere die von den Zeugen geäußerten Bedenken sprechen, dass die Beschwerdeführerin bereits einmal die Wohnungen der Zeugen betreten habe und sie erneut aufsuchen könnte.

Im Übrigen ist die Sachlage erschwert, da ein daktyloskopisches Gutachten eingeholt worden ist (Meyer-Goßner/Schmitt, 63. Aufl., § 140, Rn. 27).“

Pflichti III: Einmal Bestellung in einem „Kipo-Verfahren“ wegen Akteneinsicht, oder: Einmal „Tatschwere“

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Und zum Schluss des Tages dann noch zwei Entscheidungen zu den Bestellungsvoraussetzungen.

Zunächst der LG Halle, Beschl. v. 29.06.2020 – 10a Qs 59/20, ergangen in einem Verfahren wegen der Verbreitung kinderpornographischer Schriften. Da meint das LG zur Bestellung:

„Die von dem Verteidiger des Beschwerdeführers gegen den Beschluss des Amtsgerichts Halle (Saale) vom 30.05.2020 eingelegte sofortige Beschwerde ist gemäß § 142 Abs. 7 StPO in Verbindung mit §§ 304. 311 StPO zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.

Das Amtsgericht hat zwar überzeugend dargelegt. dass grundsätzlich weder die Schwere der Tat. noch die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge oder die Schwierigkeit der Rechtslage die notwendige Mitwirkung eines Verteidigers gebietet. Insoweit wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die zutreffenden Gründe des Amtsgericht Halle (Saale) in seinem ausführlichen Beschluss vom 20.05.2020. die sich die Kammer zu eigen macht. Bezug genommen.

Freilich ist aufgrund der Besonderheit des Verfahrensgegenstandes im vorliegenden Fall -Kinder- und Jugendpornographie — dem Beschwerdeführer sein Verteidiger als Pflichtverteidiger wegen der Schwierigkeit der Sachlage gemäß § 140 Abs. 2 StPO beizuordnen. Diese ergibt sich aus dem Umstand, dass ein unverteidigter Angeklagter gemäß § 147 Abs. 4 StPO n.F. grundsätzlich das Recht hat. unter Aufsicht amtlich verwahrte Beweisstücke — wie hier die Ausdrucke der Bilddateien in drei Beweismittelbänden —zu besichtigen, es sei denn dieser Besichtigung stehen — wie hier – überwiegende schutzwürdige Interessen Dritter entgegen. Die pornographischen Bilder betreffen den Intimbereich der abgebildeten Personen, der vor einer Besichtigung des Angeklagten außerhalb der Hauptverhandlung gewahrt werden soll, so dass ihm dieses Recht verwehrt werden müsste. Die Bilder bilden jedoch den Kern des Anklagevorwurfs, so dass sich der Angeklagte ohne deren Anschauung nicht hinreichend verteidigen könnte. In diesem Fall gebietet § 140 Abs. 2 StPO die Beiordnung eines Pflichtverteidigers, der die Bilder in der Geschäftsstelle sichten und den Angeklagten von seinen Erkenntnissen unterrichten kann (vgl. dazu M/G. StPO. 63. Auflage. § 147 Rn. 32 m.w.N.).“

Und dann habe ich noch den LG Siegen, Beschl. v. 14.07.2020 – 10 Qs 68/20 – zur Bestellung wegen „Schwere der Tat“. Der Beschluss bringt nichts Neues, daher hier nur der Leitsatz:

„Neben der dem Angeschuldigten im Verfahrens drohenden Strafe sind wegen der bei § 140 Abs. 2 StPO stets erforderlichen Gesamtbewertung aber auch sonstige schwerwiegende Nachteile zu berücksichtigen, die er infolge der drohenden Verurteilung zu gewärtigen hat. Die Grenze der Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe ist deshalb auch dann zu beachten, wenn ihr Erreichen oder Überschreiten erst infolge einer zu erwartenden Gesamtstrafenbildung in Betracht kommt.“

Danke an die Kollegen W. Siebens aus Braunschweig und H. Terjung aus Köln für die Übersendung.