Schlagwort-Archive: Schwere der Tat

Pflichti III: LG Münster zur nachträglichen Beiordnung nach neuem Recht, oder: Gewogen und zu leicht befunden

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Und die dritte Entscheidung kommt dann vom LG Münster, und zwar ist es der LG Münster, Beschl. v. 19.12.2019 – 8 Qs-72 Js 8030/19-60/19.

Problematik: Mal wieder nachträgliche Beiordnung und die Frage der Schwere der Tat bei Gesamtstrafnefähigkeit. In beiden Fällen entscheidet das LG m.E. nicht überzeugend:

„Die Beschwerde ist unbegründet.

Das Amtsgericht hat den Antrag des Beschwerdeführers auf Beiordnung von Rechtsanwalt als Pflichtverteidiger im Ergebnis zu Recht abgelehnt. Dabei kann dahinstehen, ob auch schon vor dem zwischenzeitlichen Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung ein eigenes Antragsrecht des Beschuldigten im Vorverfahren anzunehmen war und – falls ja – ob sich dies aus einer unmittelbaren Anwendung der PKH-Richtlinie oder infolge richtlinienkonformer Auslegung der damals geltenden Vorschriften des nationalen Rechts ergab.

Denn jedenfalls liegen die Voraussetzungen für die Beiordnung nicht vor.

Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers kommt bereits deshalb nicht mehr in Betracht, da das Verfahren infolge der Einstellung gem. § 154 Abs. 1 StPO bereits abgeschlossen ist. Die Einstellung erfolgte im Hinblick auf die bereits rechtskräftige Verurteilung durch das Amtsgericht Coesfeld.

Nach dem Abschluss des Verfahrens besteht kein Bedürfnis für die Führung der Verteidigung mehr. Eine nachträgliche, rückwirkende Bestellung für das abgeschlossene Verfahren ist daher unzulässig, und zwar auch dann, wenn der Wahlverteidiger rechtzeitig und begründet seine Bestellung beantragt hatte (vgl. OLG Köln, Beschl. v. 28.01.2011, 2 Ws 74/11). Denn wie das Amtsgericht zutreffend ausführt, steht bei den SS 140 ff. StPO nur die Sicherung einer ordnungsgemäßen Verteidigung jm Vordergrund und die Bestellung eines Pflichtverteidigers dient nicht dem Kosteninteresse des Angeklagten, wohingegen die nachträgliche Bestellung einzig dem verfahrensfremden Zweck dienen würde, dem Verteidiger für einen bereits abgeschlossenen Verfahrensabschnitt einen Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse zu verschaffen (vgl. auch OLG Köln, a.a.O., OLG Hamm, Beschl. v. 10.07.2008, 4 Ws 181/08).

Soweit in der Rechtsprechung teilweise die Auffassung vertreten wird, unter besonderen Umständen sei eine Ausnahme von dem Grundsatz der Unzulässigkeit einer nachträglichen Beiordnung zu machen, namentlich wenn der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt wurde, die Voraussetzungen für eine Beiordnung vorlagen und das Begehren in verfahrensfehlerhafter Weise behandelt wurde (so LG Itzehoe, a.a.O. m.w.N.), schließt sich die Kammer dem nicht an. Unter Berücksichtigung des vorbenannten Zwecks der Vorschriften der SS 140 ff. StPO ist eine solche Durchbrechung nicht angezeigt (vgl. auch OLG Hamm, Beschl. v. 20.07.2000, 1 Ws 206/00).

Bereits vor diesem Hintergrund hat die Beschwerde in der Sache keinen Erfolg.

Im Übrigen ist zu berücksichtigen, dass vorliegend auch die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO für die Bestellung eines Pflichtverteidigers entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers nicht vorliegen. § 140 Abs. 2 StPO a.F. bestimmte insoweit, dass der Vorsitzende auf Antrag oder von Amts wegen einen ‚Verteidiger bestellt, wenn wegen der Schwere der Tat oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint. § 140 Abs. 2 StPO n.F. benennt als weiteren Fall der notwendigen Verteidigung nunmehr zudem ausdrücklich die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge. Dass sich aufgrund dieser ein Anlass zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers ergeben kann, war auch unter Geltung des § 140 Abs. 2 StPO a.F. bereits anerkannt. Insoweit ist dem Beschwerdeführer zwar zuzugeben, dass eine Straferwartung von 1 Jahr Freiheitsstrafe in der Regel Anlass zur Beiordnung eines Verteidigers gibt. Weiter ist dem Beschwerdeführer dahingehend zuzustimmen; dass diese Grenze auch gilt, wenn sie nur wegen einer erforderlichen Gesamtstrafenbildung erreicht wird (vgl. MeyerG0ßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. 2019, § 140 Rn. 23 m.w.N.). Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass es sich hierbei nicht um starre Grenzen handelt. § 140 StPO soll nach seinem Sinn und Zweck als Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips eine faire Verfahrensführung und eine effektivere Verteidigung des Beschuldigten gewährleisten. Die Frage, ob ein Verteidiger beizuordnen ist, kann daher nicht losgelöst von allen in Betracht zu ziehenden Umständen des Einzelfalls entschieden werden. Insbesondere wird ein geringfügiges Delikt nicht allein deshalb zur schweren Tat im Sinne von § 140 Abs. 2 StPO a.F. bzw. rechtfertigt die Rechtsfolgenerwartung die Beiordnung eines Pflichtverteidigers, weil die Strafe in eine Gesamtstrafenbildung von mehr als einem Jahr einzubeziehen  ist (vgl. zu Vorstehendem LG Frankfurt a.M., Beschl. v. 22.02.2011, 5/11 Qs 4/11 m.w.N.; OLG Stuttgart, Beschl. v. 02.03.2012, 2 WS 37/12).

Es bedarf folglich einer Prüfung im Einzelfall, ob das andere Verfahren und die Erwartung der Gesamtstrafenbildung das Gewicht des abzuurteilenden Falles tatsächlich so erhöhen, dass die Mitwirkung eines Verteidigers geboten ist (OLG Stuttgart, a.a.O.). Dies ist vorliegend nicht der Fall.

Dem Beschwerdeführer wurde in dem hiesigen Verfahren lediglich eine im Rahmen einer Auseinandersetzung geäußerte Beleidigung vorgeworfen. Soweit darüber hinaus in dem Anhörungsschreiben der Polizei ausgeführt wurde, dass der Beschwerdeführer den Lohn von Herrn pp. vorenthalten und diesem angedroht haben soll, ihn zu verletzen, ergibt sich allein aus diesem Sachverhalt noch kein weiterer konkreter strafrechtlich relevanter Vorwurf. Es war daher naheliegend, dass das gegenständliche Verfahren im Hinblick auf die gesamtstrafenfähige Verurteilung durch das Amtsgericht Coesfeld eingestellt wird. Aber auch im Falle einer Gesamtstrafenbildung wäre lediglich eine geringfügige, für den Beschwerdeführer nicht wesentlich ins Gewicht fallende Erhöhung der bereits rechtskräftig verhängten Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten zu erwarten gewesen, die das Strafübel nicht erheblich verschärft hätte. Folglich vermag allein die drohende Gesamtstrafenbildung keine notwendige Verteidigung zu begründen.

Anderweitige Gründe, die die Mitwirkung eines Verteidigers gebieten könnten, sind weder vorgetragen, noch sonst ersichtlich.“

M.E. nicht überzeugend. Die erste Frage, die ich mir schon stelle: Warum begibt sich die Strafkammer auf das „gefährliche Eis“ nachträgliche Beiordnung, wenn es darauf gar nicht ankommt, weil man die Voraussetzungen für eine Bestellung verneint. Etwa weil man das Motto der Rechtsprechung „Hauptsache keine Beiordnung“ auch nach neuem Recht fortführen will?

Wenn man aber schon zu der Frage Ausführungen macht, dann sollte man sich aber auch gründlicher mit dem neuen Recht befassen, dazu leider kein Wort. Denn offen bleibt die Frage, wie jetzt/in zukunft in dem Zusammenhang damit umzugehen ist, dass Beiordnungsanträge müssen unverzüglich verbeschieden werden: § 141 Abs. 1 StPO n.F. rechtfertigt ein Zuwarten nicht, sondern verlangt im Gegenteil, dass „unverzüglich“ (!) ein Verteidiger bestellt wird, sobald die Voraussetzungen hierfür vorliegen. Eine über § 140 StPO n.F. hinausgehende, zusätzliche Prüfung, ob die Verteidigung denn „erforderlich“ sei, hat der Gesetzgeber dagegen nicht vorgesehen. Stattdessen lässt lediglich die auf Sonderfälle beschränkte Regelung des § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO n.F. zu, dass eine an sich gebotene Bestellung unterbleibt, und dies auch nur dann, wenn lediglich Registerauszüge eingeholt oder Akten beigezogen werden sollen. Eine allgemeine Regelung, die eine Unterlassung der Beiordnung erlaubt, enthält § 141 StPO n.F. dagegen gerade nicht.

Darüber hinaus ergibt sich auch aus § 143 StPO n.F., dass eine mögliche Einstellung des Verfahrens der Beiordnung eines Pflichtverteidigers nicht entgegensteht, regelt diese Vorschrift doch ausdrücklich, dass die Bestellung mit dem rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens oder eben mit dessen Einstellung endet. Einen Ausschluss der Beiordnung in Fällen, in denen eine Einstellung in Betracht kommen könnte, hat der Gesetzgeber mithin gerade nicht schaffen wollen. Stattdessen ist mit der Reform beabsichtigt, die Beiordnungszeitpunkte nach vorne zu verlagern. So ist beispielsweise eine Beiordnung bereits dann vorzunehmen, wenn eine Hauptverhandlung vor dem LG zu erwarten ist und nicht mehr erst dann, wenn das Verfahren dort eröffnet wird. Auch die neu geschaffene Eilzuständigkeit der StA für Beiordnungen (§ 142 Abs. 4 StPO n.F.) spricht dafür, dass das unbearbeitete Herumliegen von Beiordnungsanträgen verhindert werden soll.

Überdies regelt § 143 Abs. 2 StPO n.F. lediglich Fälle, in denen eine bereits erfolgte Bestellung aufgehoben werden kann. Von der Pflicht der Staatsanwaltschaft, Beiordnungsanträge weiterzuleiten und des Gerichts, solche Anträge zu verbescheiden, entbindet dagegen auch diese Vorschrift nicht.

Man wird also nach neuem Recht bei rechtzeitig gestellten, aber grundlos nicht verbeschiedenen Beiordnungsanträgen eine nachträgliche Verteidigerbestellung, rückwirkend bis zum Zeitpunkt der Verfahrenseinstellung erst Recht zulassen müssen. Andernfalls unterbliebe jeder Ausgleich für eine ersichtlich verfahrensfehlerhafte Sachbehandlung, zumal jedenfalls bei völliger Untätigkeit des Gerichts auch nicht auf den mitunter herangezogenen Lösungsansatz der konkludenten Beiordnung zurückgegriffen werden kann. Dass dies auch dem Willen des Gesetzgebers entspricht, ergibt sich überdies auch daraus, dass ausweislich der Gesetzesbegründung zum neuen Recht eine von der StA im Rahmen ihrer Eilzuständigkeit vorgenommene Bestellung nicht aufgehoben wird, wenn diese es versäumt, rechtzeitig die erforderliche richterliche Bestätigung ihrer Entscheidung einzuholen. Auch hieraus geht hervor, dass nach dem Willen des Gesetzgebers eine fehlerhafte bzw. unterlassene Fallbearbeitung nicht zulasten des Beschuldigten gehen soll.

So viel zur nachträglichen Beiordnung.

Zu den Voraussetzungen von “ 140 Abs. 2 StPO ist nur so viel anzumerken. Ich kenne die Sätze für Beleidigungen pp. im Münsterland nicht. Aber: ggf. gibt es ja auch dort – in Süddeutschland dürfte es sie geben – Amtsrichter, die bei entsprechender Vorbelastung, auf derartige, zumal ersichtlich rassistisch motivierte Beschimpfungen („Drecks Polacke“) mit mehreren Monaten Freiheitsstrafe reagiert, so dass man die neuerliche Tat nicht lapidar als unwesentlich hätte abtun dürfen.

Insgesamt: Gewogen und zu leicht befunden.

Pflichti II: Verlust der Anwaltszulassung droht, oder: Dann gibt es einen Pflichtverteidiger

© fotodo – Fotolia.com

Die zweite „Pflichtverteidiger-Entscheidung“ kommt mit dem LG Essen, Beschl. v. 27.05.2019 – 67 Ns 65/19 – aus dem „Pott“. Geschickt hat sie mir gestern der Kollege Dr. Bleicher aus Dortmund. Das LG hat in einem Verfahren wegen Betruges einen Pflichtverteidiger bestellt. Grund: Der Angeklagte ist Rechtsanwalt und muss im Fall der Verurteilung mit dem Verlust der Zulassung rechnen:

„Die Beiordnung von Rechtsanwalt pp. aus Dortmund als Pflichtverteidiger des Angeklagten beruht auf § 140 Abs. 2 StPO. Denn die weiteren zu berücksichtigen Umstände, insbesondere die möglichen Folgen der vorgeworfenen Tat wiegen so schwer, dass die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erforderlich ist. Als Konsequenz aus einer Verurteilung hat der Angeklagte, der von Beruf Rechtsanwalt ist, mit einer Ausschließung aus der Rechtsanwaltschaft gemäß § 114 Abs. 1 Ziffer 5 BRAO zu rechnen. Ein vorläufiges Tätigkeitsverbot, das am 23.1.2019 wirksam wurde, ist gegen den Angeklagten bereits ausgesprochen worden. In der Mitteilung über dieses Tätigkeitsverbot ist durch die Rechtsanwaltskammer in Hamm ausdrücklich darauf verwiesen worden, dass die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft „zunächst“ erhalten bleibt. Damit steht eine Ausschließung aus der Rechtsanwaltschaft im Raum. Hinzu kommt, dass für die Entscheidungen im anwaltsgerichtlichen Verfahren die tatsächlichen Feststellungen im strafrechtlichen Urteil bindend sind, § 118 Abs. 3 BRAO (vgl.: OLG Hamm, Beschluss vom 29.1.2004, in StraFo 2004, 170).

Vor diesem Hintergrund war die Beiordnung des Pflichtverteidigers nach § 140 Abs. 2 StPO erforderlich.“

Bestellung liegt für mich auf der Hand. Warum man dafür ein LG braucht, erschließt sich mir nicht.

Pflichti II: Bestellung wegen „Schwere der Tat“, oder: „Angedachte“ Einstellung ist ohne Bedeutung

© Coloures-pic – Fotolia.com

Die zweite Entscheidung des Tages, der LG Stendal, Beschl. v. 01.10.2018 – 501 Qs (394 Js 6425/18) 62/18 , ist „schöner“ als der OLG Koblenz, Beschl. v. 10.12.2018 – 2 Ws 698/18 (vgl. dazu Pflichti I: Auswechselung des Pflichtverteidigers, oder: Vertrauensverhältnis ist nicht erforderlich). Er ist schon etwas älter, der Kollege Funk aus Braunschweig hat ihn aber erst vor kurzem übersandt.

Das AG hatte die Bestellung des Kollegen abgelehnt. Anders das LG. Das ordnet wegen „Schwere der Tat“ bei:

„Auf Antrag der Staatsanwaltschaft Stendal vom 28 Mai 2018 erließ das Amtsgericht Gardelegen gegen den Angeklagten einen Strafbefehl wegen eines am 07. Februar 2017 begangenen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmittel. Als Rechtsfolge war eine Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 10,00 € vorgesehen.

Unter dem 06. April 2018 hatte die Staatsanwaltschaft Stendal gegen den Angeklagten unter anderem wegen schwerer räuberischer Erpressung mit Waffen Anklage zum Landgericht Stendal erhoben. Die Hauptverhandlung in dieser Sache dauert an.

Gegen den ihm am 03. Juli 2018 zugestellten Strafbefehl hat der Angeklagte mit Schreiben seines Verteidigers vom 06. Juli 2018, beim Amtsgericht taggleich eingegangen, Einspruch erhoben und die Bestellung von Rechtsanwalt pp. als notwendigen Verteidiger beantragt. Hierbei wies er auf das oben dargestellte Verfahren vor dem Landgericht Stendal hin.

Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Amtsgericht den Beiordnungsantrag zurückgewiesen, da die Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 und Abs. 2 StPO nicht vorlägen. Mit Verfügung vom 30. Juli 2018 hat das Amtsgericht den Angeklagten zu einer Einstellung nach § 154 StPO angehört. Eine Entscheidung hierüber ist nach Aktenlage bisher nicht ergangen.

Gegen den Beschluss vom 25. Juli 2018 hat der Angeklagte mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 09 August 2018 Beschwerde erhoben und erneut auf das gesamtstrafenfähige Verfahren 501 KLs 6/18 vor dem Landgericht Stendal verwiesen.

Das Amtsgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen und die Sache der Kammer zur Entscheidung vorgelegt

Die nach § 304 StPO statthafte und ansonsten zulässige Beschwerde des Angeklagten hat in der Sache Erfolg. Die Voraussetzungen für die Bestellung als Pflichtverteidiger gern. § 140 Abs. 2 StPO waren vorliegend evident gegeben.

Nach § 140 Abs. 2 StPO ist ein Pflichtverteidiger zu bestellen. wenn die Schwere der Tat oder die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage dies gebieten. Die Schwere der Tat beurteilt sich vor allem nach dem zu erwartenden Rechtsfolgenausspruch. Bei einer Straferwartung von einem Jahr ist hierbei regelmäßig ein Pflichtverteidiger zu bestellen. Dies gilt auch dann, wenn diese Straferwartung nur aufgrund einer zu bildenden Gesamtstrafe erreicht wird (vgl. zusammenfassend Meyer-Goßner. Strafprozessordnung, 56 Auflage. § 140, Rdn. 23, m.w.N.).

Vorliegend gebietet die Schwere der Tat die Bestellung eines Pflichtverteidigers Die hier in Rede stehende Tat ist mit der Tat im Verfahren 501 KLs 6/18 gesamtstrafenfähig. Im dortigen Verfahren wird dem Angeklagten ein Verbrechen mit einer Mindeststrafe von 5 Jahren zur Last gelegt. Im Verurteilungsfalle ist es daher für die Prüfung der Pflichtverteidigerbestellung als hinreichend wahrscheinlich anzusehen, dass die Gesamtstrafe über einem Jahr liegen dürfte, womit nach der oben dargestellten Rechtsprechung die Voraussetzungen für die Bestellung eines Pflichtverteidigers erfüllt sind.

Unerheblich ist, dass es seitens des Amtsgerichts angedacht ist, das Verfahren nach § 154 StPO einzustellen. Eine solche Einstellung ist nach Aktenlage bisher nicht ausgesprochen worden, so dass zum jetzigen Zeitpunkt seitens des Angeklagten noch Verteidigungsbedarf besteht.“

Sicherlich im Hinblick auf die im Verfahren drohende Strafe ein Sonderfall, aber: Die Gesamtstrafe ist von Bedeutung. Und: Schön der Hinweis zur „angedachten Einstellung“.

Pflichti II: Beiordnung wegen „Schwere der Tat“, oder: Stichwort: Gesamtstrafe

© AllebaziB Fotolia.com

Die zweite Entscheidung kommt dann vom LG Magdeburg, und zwar mit dem LG Magdeburg, Beschl. v. 18.03.2019 – 25 Qs 772 Js 32612/18 (27/19). Nichts Besonderes, aber noch einmal eine Erinnerung an die Voraussetzungen der Beirodnung des Pflichtverteidigers wegen der sog. Schwere der Tat:

„Die Staatsanwaltschaft Magdeburg hat gegen den Angeklagten am 9. Januar 2019 Anklage wegen des Vorwurfs der Beleidigung, begangen am 6. Mai 2018 in Magdeburg, vor dem Amtsgericht Magdeburg — Strafrichter- erhoben. Die Anklage wurde zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren vor dem Strafrichter eröffnet. Die Hauptverhandlung soll am 20. März 2019 stattfinden. Geladen wurden zu diesem Termin zwei Zeugen.

Mit Beschluss vom 13. Februar 2019 lehnte das Amtsgericht den Antrag des Angeklagten auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers ab.

In der Begründung der durch anwaltlichen Schriftsatz vom 13. März 2019 eingelegten Beschwerde wird ausgeführt, dass gegen den Angeklagten zwei weitere Verfahren bei dem Amtsgericht Aschersleben mit Tatzeiten vom 6. August 2017 sowie 24. August 2018 anhängig seien und der Angeklagte mit Urteil des Amtsgerichts Aschersleben vom 18. Dezember 2018, noch nicht rechtskräftig, zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt worden sei.

Die zulässige Beschwerde ist begründet.

Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers ist wegen der Schwere der Tat gemäß § 140 Abs.2 StPO im Hinblick auf eine insgesamt zu erwartende, ein Jahr übersteigende Gesamtfreiheitsstrafe erforderlich. Nach zwischenzeitlich gefestigter Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Naumburg sind bei der Beurteilung der Schwere der Tat und der zu erwartenden Rechtsfolgen auch die zu erwartenden Rechtsfolgen in Parallelverfahren hinsichtlich einer Gesamtstrafenbildung zu berücksichtigen, und zwar unabhängig davon, ob diese bereits in Rechtskraft erwachsen sind (OLG Naumburg, Beschluss vom 08.03,2017 ¬Az.: 2 Rv 7117- Rdn. 7; OLG Naumburg, Beschluss vom 22.05.2013 – Az.: 2 Ss 65/13 – Rdn, 6; jeweils zitiert nach Juris m.w,N.; KG Berlin, Beschluss vom 06.01.2017 – Az.: 4 Ws 212/16¬Rdn. 10; zitiert nach juris m.w.N).

Unter Berücksichtigung der aus der Auskunft des Bundesamtes für Justiz vorn 30. Januar 2019 ersichtlichen Vorstrafen sowie der mitgeteilten Verfahren und Tatzeiten in der Beschwerdebegründung ist hier im Falle einer Verurteilung mit der Bildung einer Gesamtfreiheitsstrafe von über einem Jahr zu rechnen, sodass die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erforderlich war.“

Pflicht I: Bestellung wegen „Schwere der Tat“, oder: Grenze bei einem Jahr Straferwartung

© Gina Sanders – Fotolia.com

Heute dann drei Pflichtverteidigerentscheidungen. Zunächst stelle ich den KG, Beschl. v. 13.12.2018 –  3 Ws 290/18 vor. Nichts Dreamatisches, sondern einfach noch einmal die Erinnerung an die Bestellsvoraussetzungen wegen „Schwere der Tat“. Und es gilt: Die Grenze liegt bei einem Jahr Straferwartung, und zwar auch wenn die Grenze erst infolge einer zu erwartenden Gesamtstrafenbildung in Betracht kommt:

„Nach gefestigter Rechtsprechung ist die Bestellung eines Pflichtverteidigers in der Regel geboten, wenn dem Angeklagten die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe droht, die mindestens im Bereich von einem Jahr liegt (vgl. KG StV NStZ-RR 2013, 116; 1982, 412; OLG Naumburg StV 2013. 433; Laufhütte in KK-StPO, 7. Auflage, § 140 Rn. 21; Lüderssen/Jahn in LR-StPO 26. Aufl., § 140 Rn. 57; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt. StPO 61. Aufl. § 140 Rdn. 23; alle mwN). Neben der dem Angeklagten hier drohenden Strafe sind wegen der bei § 140 Abs. 2 StPO stets erforderlichen Gesamtbewertung aber auch sonstige schwerwiegenden Nachteile zu berück-sichtigen, die er infolge der drohenden Verurteilung zu gewärtigen hat (vgl. OLG Hamm StV 2004, 586). Die Grenze der Straferwartung um ein Jahr Freiheitsstrafe ist deshalb auch dann zu beachten, wenn ihr Erreichen erst infolge einer zu erwartenden Gesamtstrafenbildung in Betracht kommt (vgl. Senat, Beschluss vom 26. Oktober 2016 – (3) 161 Ss 162/16 (88/16) – juris m.w.N.; KG, Beschluss vom 6. Januar 2017 – 4 Ws 212/16 – juris).

Neben der hier verfahrensgegenständlichen Tat wird dem Angeklagten mit – dem Kammervorsitzenden bei Beschlussfassung unbekannter – Anklage der Staatsanwaltschaft Berlin vom 9. Oktober 2018 – 283 Js 2 5/18 – vorgeworfen, am 30. Dezember 2017 eine gefährliche Körperverletzung und am 9. Juni 2018 eine Körperverletzung in Tateinheit mit Sachbeschädigung begangen zu haben. In der gebotenen Gesamtschau ist zu erwarten, dass gegen den Angeklagten im Falle eines den An-klagevorwürfen entsprechenden Schuldspruchs – gegebenenfalls im Verfahren nach § 460 StPO – eine Gesamtfreiheitstrafe von mindestens einem Jahr verhängt werden wird.“

Da muss man also schon mal ein wenig rechnen 🙂 .

Und: Zu der Problematik dann auch: LG Halle, Beschl. v. 23.11.2018 – 10a Qs 132/18.