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StPO I: Ist das Schreiben an die StA eine „Beschwerde“?, oder: Wo ist der Anfechtungswille?

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Heute machen wir dann mal wieder ein wenig StPO, und zwar mit zwei LG- und einer AG-Entscheidung.

Ich beginne mit dem LG Hechingen, Beschl. v. 28.03.2022 – 3 Qs 7/22. Der Beschluss ist schon etwas älter, er ist mir leider immer wieder „durchgegangen“. Heute dann aber endlich.

In der Entscheidung geht es um die Auslegung eines Schreiben des Beschuldigten an die Staatsanwaltschaft, dass dieser, nachdem ihm einem Ermittlungsverfahren wegen Trunkenheit im Verkehr vom AG nach § 111a StPO die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen worden war, an die Staatsanwaltsschaft gerichtet hat. In der Adresszeile des Schreibens heißt es „Herr Leitenden Oberstaatsanwalt G.“. Im Schreiben trägt der Beschuldigte im Wesentlichen vor, dass nach Aktenlage keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Feststellung relativer Fahrunsicherheit bestehen. Jedenfalls dürfte das Übersehen eines Fußgängers an einem Zebrastreifen kein konkreter, alkoholtypischer Fahrfehler sein. Insofern solle es insgesamt bei einer Ordnungswidrigkeit verbleiben. Die StA wertet das Schreiben als „Beschwerde“, legt die Ermittlungsakte dem AG vor und beantragt, der „Beschwerde …. nicht abzuhelfen und die Akte unmittelbar dem LG, wo beantragt werde, die „Beschwerde“ aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung zu verwerfen.

Das LG hat die Sache ohne Sachentscheidung zurück gegeben:

„Bei dem Schriftsatz des Beschuldigten vom 11. Februar 2022 handelt es sich nicht um eine Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Hechingen vom 20. Januar 2022.

Eine Erklärung kann nur als Rechtsmittel ausgelegt werden, wenn aus ihr ein Anfechtungswille hervorgeht (Löwe-Rosenberg/Jesse, StPO, 26. Aufl. 2014, § 300 Rn. 5; KK/Paul, StPO, 8. Aufl. 2019, § 300 Rn. 2). Der Anfechtungswille beschreibt hierbei den Willen, ein zulässiges Rechtsmittel gegen eine bestimmte Entscheidung einzulegen (Löwe-Rosenberg/Jesse, StPO, 26. Aufl. 2014, § 300 Rn. 4). Aus der abgegebenen Erklärung muss also deutlich zum Ausdruck kommen, dass der Erklärende sich mit einer ihn beschwerenden gerichtlichen Entscheidung nicht abfinden wolle (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 4. April 2013 – 2 Ws 86/13, BeckRS 2013, 15473; OLG Bamberg, Beschluss vom 8. September 2016 – 3 OLG 7 Ss 78/16, BeckRS 2016, 111077). Maßgebend sind stets der Gesamtinhalt der Verfahrenserklärungen und die Erklärungsumstände (BGH, Beschluss vom 25. Januar 1952 – 2 StR 3/52, BGHSt 2, 41 (43)), wobei jedoch nur solche Erklärungen relevant sind, die innerhalb der Anfechtungsfrist abgegeben werden (BeckOK/Cirener, StPO, 42. Ed. 1. Januar 2022, § 300 Rn. 2; Löwe-Rosenberg/Jesse, StPO, 26. Aufl. 2014, § 300 Rn. 8). Für die Auslegung der Erklärung sind zudem die Rechtskenntnisse des Erklärenden beachtlich (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Januar 2019 – 5 StR 499/18, BeckRS 2019, 1966). Ein Anfechtungswille wird indes nicht schon dadurch ausgeschlossen, dass die sprachliche Form der abgegebenen Erklärung ihrerseits missverständlich oder uneindeutig ist (LG Nürnberg-Fürth, Beschluss vom 24. Juni 2021 – 12 Qs 39/21, BeckRS 2021, 15647). Bleibt auch nach der Auslegung der Erklärung der Anfechtungswille unklar, sind verbleibende Zweifel durch eine Nachfrage zu klären (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Dezember 1951 — 3 StR 691/51, BGHSt 2, 63 (67); BayObLG, Beschluss vom 28. November 1994 – 2 St RR 221/94, NJW 1995, 1230; KK/Paul, StPO, 8. Aufl. 2019, § 300 Rn. 2).

Ausgehend hiervon war der Kammer bei Anwendung der herkömmlichen Auslegungsmethoden unklar, ob sich der Beschuldigte gegen den Beschluss des Amtsgerichts Hechingen vom 20. Januar 2022 mittels einer Beschwerde erwehren wollte, ob also ein Anfechtungswille vorlag. Hierfür könnte zwar auf den ersten Blick sprechen, dass der Beschuldigte in seinem Schriftsatz betont, dass nach Aktenlage keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Feststellung relativer Fahrunsicherheit bestünden und es jedenfalls an einem Regelfall für die Entziehung der Fahrerlaubnis feh-le. Insoweit wollte er zum Ausdruck bringen, dass er die Sach- und Rechtslage anders als das Amtsgericht Hechingen mit seinem Beschluss vom 20. Januar 2022 bewertet. Bei näherer Betrachtung der schriftsätzlichen Erklärung war das Anliegen des Beschuldigten jedoch dahingehend gerichtet, lediglich zur Sach- und Rechtslage gegenüber der Staatsanwaltschaft Hechingen Stellung zu nehmen. Dies ergibt sich zum einen bereits aus der Angabe der Staatsanwaltschaft Hechingen in der Adresszeile und der konkret gewählte Anrede („Sehr geehrter Herr Leitender Oberstaatsanwalt Gruhl“). Zum anderen verwendet der Beschuldigte in dem gesamten Schriftsatz das Wort „Beschwerde“ oder einen entsprechenden Begriff, der auf die Einlegung eines Rechtsmittels hindeuten könnte, nicht. Es fehlt zudem an einer ausdrücklichen Bezugnahme auf die amtsgerichtliche Entscheidung vom 20. Januar 2022. Unter Berücksichtigung der Rechtskenntnisse des erklärenden Verteidigers ist dem gewählten Wortlaut insoweit auch eine entscheidende Bedeutung beizumessen (vgl. KK/Paul, StPO, 8. Aufl. 2019, § 300 Rn. 2). Verbleibende Zweifel über das Vorliegen eines Anfechtungswillens konnten schließlich durch Nachfrage seitens des Amtsgerichts Hechingen mit Verfügung vom 3. März 2022 und hierauf erfolgter schriftsätzlicher Antwort des Beschuldigten vom 23. März 2022 ausgeräumt werden.

Nach alledem war eine Sachentscheidung der Kammer nicht veranlasst.“

Pflichti I: Beiordnungsgründe, oder: „Einziehung droht“ und zweimal JGG-Verfahren, einmal zum Vergessen

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Heute dann mal wieder ein Pflichti-Tag, und zwar mit drei Bereichen: Beiordnungsgründe, Pflichterverteidigerwechsel und

Ich starte mit den Beiordnungsgründen.

Dazu weise ich zunächst hin auf den kleinen, aber feinen AG Eggenfelden, Beschl. v. 31.05.2021 – Cs 502 Js 5973/21 – zur Beiordnung wegen Schwere der Tat, und zwar:

„Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt vor, weil wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgen die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint. Die „Schwere der Tat“ kann sich auch aus mittelbaren Folgen des Verfahrens ergeben, insbesondere – bei einer Gesamtwürdigung der Umstände – auch eine Einziehung von Wertersatz in sehr großem Umfang. So liegt der Fall hier. Entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft ist hier neben der drohenden Geldstrafe von 160 Tagessätzen auch die Auswirkung der mittelbaren Folgen, nämlich insbesondere der drohenden Einziehung von Wertersatz in Höhe von 27.500,00 EUR zu berücksichtigen. Bei dem Einziehungsbetrag handelt es sich um einen Betrag, der annähernd ein Jahresgehalt des Angeschuldigten ausmacht. In der Gesamtschau ist daher – auch ohne Berücksichtigung von bis-her nicht näher dargelegten ausländerrechtlichen Folgen für den Angeschuldigten – die Pflichtverteidigerbestellung geboten.“

Die zweite Entscheidung, der LG Stendal, Beschl. v. 07.05.2021 – 503 Qs 2/21 – behandelt die Bestellung eines Pflichtverteidigers im JGG-Verfahren, die das LG sehr schön begründet:

„Die gem. § 68 JGG i. V. m. §§ 142 Abs. 7, 304, 311 Abs. 2 StPO fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde ist erfolgreich, weil ein Fall der notwendigen Verteidigung des Beschuldigten vorliegt. Aufgrund des amtsgerichtlichen Urteils ist derzeit eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für eine freiheitsentziehende Maßnahme im Sinne des § 68 Nr. 5 JGG sowie auch des § 68 Nr. 1 JGG i. V. m. § 140 Abs. 2 StPO gegeben.

1. Gem. § 68 Nr. 5 JGG ist unter anderem bei der Erwartung der Verhängung einer Jugendstrafe oder der Aussetzung der Verhängung einer Jugendstrafe von Gesetzes wegen ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben.

Zu erwarten ist eine Jugendstrafe, wenn deutlich mehr als ihre bloße Möglichkeit, d. h. mindestens eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für die Verhängung besteht. Dabei genügt regelmäßig, wenn sie zur Bewährung ausgesetzt, oder die Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung nach den §§ 61 ff. JGG einem nachträglichen Beschluss vorbehalten werden kann (BT-Drs. 19/13837, 59). Aufgrund der gleich belastenden Qualität wird teilweise vertreten, auch die erwartete Entscheidung nach § 27 JGG als einen Fall der notwendigen Verteidigung anzusehen (zust. Kölbel/Eisenberg, JGG, § 68; krit. Heuer u.a., ZJJ 2019, S. 1, 4).

Aufgrund des rechtskräftigen Urteils des Amtsgerichts Gardelegen vom 26.11.2020 besteht im vorliegenden Ermittlungsverfahren in Ansehung des hiesigen Tatvorwurfes und der bisherigen anderweitigen jugendrechtlichen Ahndungen die überwiegende Wahrscheinlichkeit eines Freiheitsentzuges oder die Entscheidung über einen solchen.

2. Daneben ist auch ein Fall der notwendigen Verteidigung über § 68 Nr. 1 JGG i. V. m. § 141 Abs. 2 StPO wegen der „Schwere der Tat“ gegeben. Im allgemeinen Strafrecht ist inzwischen anerkannt, dass die „Schwere der Tat“ bei einer Straferwartung von einem Jahr auch dann als erreicht gilt, auch wenn dies erst im Wege der Gesamtstrafenbildung erfolgt (vgl. nur OLG Naumburg BeckRS 2013, 10548).

Für das Jugendrecht folgt hieraus insoweit, dass einbeziehungsfähige Urteile bei der Prognose ebenfalls zu berücksichtigen sind (so schon OLG Köln StV 1991, 151). Vorliegend existiert gegen den Beschuldigten ein bereits rechtskräftiges Urteil, in welchem die Entscheidung über die Verhängung einer Jugendstrafe zur Bewährung ausgesetzt war, weil noch nicht mit Sicherheit beurteilt werden konnte, ob in den Straftaten des Beschuldigten schädliche Neigungen von einem Umfang hervorgetreten sind, dass eine Jugendstrafe erforderlich ist (§ 27 JGG). Dieses gem. § 31 Abs. 2 JGG einbeziehungsfähige Urteil wird bei der Prognose über die Straferwartung im hiesigen Verfahren zu berücksichtigen sein.“

Und dann habe ich hier noch den LG Hechingen, Beschl. v. 21.05.2021 – 3 Qs 21/21 jug.. D as LG hebt auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft – habe nur ich den Eidnruck, dass man dort gerne Rechtsmittel einlegt, wenn ein Pflichtverteidiger beigeordnet worden ist – die amtsgerichtliche Bestellung auf. Der Beschluss ist auch im JGG-Verfahren ergangen, ich würde über ihn lieber das Mäntelchen des Schweigens legen. Denn das LG meint, dass ein Pflichtverteidiger nicht beigeordnet werden muss. Man fragt sich, ob man in Hechingen schon mal was von der „Gesamtbetrachtung“ der potentiellen Beiordnungsgründe gehört hat. Und da meine: Der ehemalige Angeklagte war ein 16-Jähriger, dem eine Trunkenheitsfahrt mit seinem Roller zur Last gelegt worden ist. Gegenstand des Verfahrens war u.a. auch ein SV-Gutachten. Aber das reicht dem LG nicht, denn:

„Die Schwierigkeit der Sachlage kann auch die Auseinandersetzung mit Sachverständigengutachten (OLG Hamm StV 1987, 192; LG Bochum StV 1987, 383; OLG Karlsruhe StV 1991, 199) be-gründen. Dabei ist jedoch zu beachten, dass nicht jedes in einer Hauptverhandlung zu erörternde Sachverständigengutachten zu einer Pflichtverteidigerbestellung führen kann. Erforderlich ist hier, dass das Gutachten inhaltlich so komplex ist, dass es besonderer Sachkunde oder Einarbeitung bedarf, um sich sachgerecht und gegebenenfalls kritisch mit ihm auseinander zu setzen. Ein solcher komplexer Fall lag jedoch nicht vor. Hier ging es nur um die Frage, wann der vormalige Angeklagte zuletzt vor der Tat Cannabisprodukte konsumiert hat. Die diesbezüglichen Ausführungen des Sachverständigen sind auch ohne Kenntnis der entsprechenden Grenzwerte verständlich und können auch von einem Laien kritisch hinterfragt werden. Die Vernehmung des Sachverständigen dauerte 15 Minuten. Eine ausführliche, nur von einem Verteidiger zu bewerkstelligende Auseinandersetzung mit dem Gutachten war nicht erforderlich….

….

c) Der vormalige Angeklagte war auch nicht unfähig, sich selbst zu verteidigen.

Hierfür bestehen überhaupt keine Anhaltspunkte. Insbesondere war der vormalige Angeklagte da-zu in der Lage, in einem handschriftlich verfassten Schreiben sinnvoll zum Tatvorwurf Stellung zu nehmen. Im Jugendstrafverfahren ist zudem auch keine extensive Auslegung dieser Variante des § 140 Abs. 2 StPO geboten (KK-StPO/Willnow, 8. Aufl. 2019 Rn. 24, StPO § 140 Rn. 24).“

Mann, Mann, was denken die da in Hechingen?

Verkehrsrecht II: Reichen die Auffälligkeiten für relative Fahruntüchtigkeit?

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In der zweiten Entscheidung, dem LG Hechingen, Beschl. v. 22.06.2020 – 3 Qs 45/20 – geht es auch um ein Dauerbrennerthema, nämlich die Frage: Welche Auffälligkeiten lassen einen Rückschluss auf die Fahruntüchtigkeit des Beschuldigten zu?

Das AG hatte dem Beschuldigten vorläufig die Fahrerlaubnis wegen einer Trunkenheitsfahrt (§ 316 StGB) entzogen. Die Fahruntüchtigkeit habe sich daran gezeigt, dass der Beschuldigte innerorts mit „deutlich überhöhter Geschwindigkeit“ gefahren sei. Eine beim Beschuldigten entnommene Blutprobe habe eine Blutalkoholkonzentration von 1,01 Promille im Mittelwert ergeben.

Dagegen die Beschwerde des Beschuldigten, die beim LG keinen Erfolg hatte:

„Die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis darf nach § 111a Abs. 1 und 2 StPO nur angeordnet und aufrechterhalten werden, wenn dringende Gründe für die Annahme vorhanden sind, dass dem Beschuldigten die Fahrerlaubnis entzogen werden wird. Solche Gründe sind insbesondere dann anzunehmen, wenn der Beschuldigte der Begehung einer vorsätzlichen oder fahrlässigen Trunkenheitsfahrt nach § 316 StGB dringend tatverdächtig ist, vgl. § 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB. Dies ist vorliegend der Fall.

Zwar ist nach Auswertung der 35 Minuten nach Fahrtende erhobenen Blutprobe davon auszugehen, dass die Alkoholisierung des Beschuldigten zur Tatzeit bei 1,01 Promille und damit (knapp) unter dem Grenzwert der absoluten Fahruntüchtigkeit von 1,1 Promille lag. Auch unterhalb dieses Grenzwertes kann jedoch von Fahruntüchtigkeit im Sinne von § 316 StGB ausgegangen werden, wenn eine Gesamtbetrachtung aller konkreten Umstände der Tat und sämtlicher Indizien diese Annahme rechtfertigt (vgl. Fischer, StGB, 67. Aufl., § 316 StGB Rn. 30, 32). Maßgeblich ist dabei vor allem die Feststellung von alkoholtypischen Fahrfehlern und Ausfallerscheinungen.

Ob allein das vom Amtsgericht in der angefochtenen Entscheidung angenommene (unspezifische) Fahren mit „deutlich überhöhter Geschwindigkeit“ mit der im Rahmen von § 111a StPO erforderlichen weit überwiegenden Wahrscheinlichkeit einen Rückschluss auf die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit des Beschuldigten zulässt, erscheint zumindest zweifelhaft. Zum einen beruht die Annahme „deutlich überhöhter Geschwindigkeit“ nicht auf objektiven Messungen, sondern lediglich auf den Schätzungen der Polizeibeamten vor Ort, so dass sich das konkrete Maß der Geschwindigkeitsüberschreitung nicht bestimmen lässt. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass sich der Beschuldigte spät nachts auf einer (zu dieser Zeit) wenig befahrenen Strecke auf dem Nachhauseweg befand. Diese Begleitumstände verleiten jedoch regelmäßig auch nüchterne Straßenverkehrsteilnehmer zu der fälschlichen Annahme, sich über die geltenden Geschwindigkeitsbegrenzungen hinwegsetzen zu dürfen. Der mutmaßlich vorliegende Geschwindigkeitsverstoß lässt sich daher jedenfalls nicht per se als alkoholtypischer Fahrfehler einstufen.

Neben der Geschwindigkeit ergaben sich jedoch noch weitere Auffälligkeiten, die letztlich mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Rückschluss auf die Fahruntüchtigkeit des Beschuldigten zulassen. So führte der Polizeibeamte H., der den Beschuldigten bei der hier betreffenden Fahrt über eine Wegstrecke von knapp einen Kilometer verfolgte, in Ergänzung seines Berichts an, dass der Beschuldigte (innerorts) mehrere Kreuzungen durchquert habe, ohne seine Geschwindigkeit zu verlangsamen, obwohl er jeweils einem potentiell von rechts kommenden Verkehrsteilnehmer Vorfahrt hätte gewähren müssen. Zu einer Gefährdungslage sei es nur deshalb nicht gekommen, weil das Wohngebiet, durch welches die Fahrt verlief, zu dieser Zeit extrem wenig frequentiert gewesen sei. Bei der anschließenden Verkehrskontrolle habe der Beschuldigte außerdem seinen Führerschein mit dem Personalausweis verwechselt. Schließlich teilte der Polizeibeamte H. mit, dass der Beschuldigte eine „leicht verwaschene Aussprache“ an den Tag gelegt habe und zudem beim Stehen ein leichtes Schwanken feststellbar gewesen sei.

Bei der Beeinträchtigung des Gleichgewichtssinns handelt es sich um eine typische physiologische Folge übermäßigen Alkoholkonsums (vgl. Fischer, aaO, Rn. 35). Gleiches gilt für die verwaschene Aussprache. Auch das Verwechseln des Personalausweises mit dem Führerschein ist zumindest ein Indiz für eine alkoholbedingte Unkonzentriertheit des Beschuldigten zur Tatzeit. Vor allem aber das beschriebene mehrfache Missachten der Vorfahrtsregeln durch das ungebremste Passieren der Straßenkreuzungen in einem Wohngebiet, mit unzureichender Sicht, – in Verbindung mit einer aller Wahrscheinlichkeit nach zumindest leicht überhöhten Geschwindigkeit – deutet auf ein besonderes Maß an Kritiklosigkeit und eine erhöhte Risikobereitschaft des Beschuldigten hin, die sich typischerweise in Folge übermäßigen Alkoholkonsums einstellt (vgl. Fischer, aaO, Rn. 35). Daher kann zumindest das mehrfache „Überfahren“ der Kreuzungen mit leicht überhöhter Geschwindigkeit höchstwahrscheinlich als alkoholbedingte Ausfallerscheinung des Beschuldigten angesehen werden. Dies rechtfertigt jedenfalls in Anbetracht der hohen Blutalkoholkonzentration und der weiteren aufgeführten Indizien mit hoher Wahrscheinlichkeit die Annahme alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit und somit einer Strafbarkeit des Beschuldigten wegen fahrlässiger Trunkenheitsfahrt nach § 316 Abs. 2 StGB.

Soweit der Beschuldigte demgegenüber im Rahmen seiner Beschwerdebegründung behauptet, mit angemessener Geschwindigkeit gefahren zu sein, stehen dem – zumindest nach vorläufiger Würdigung auf Grundlage der Akten – die nachträglichen Ausführungen des Polizeibeamten H. entgegen, in denen dieser beschreibt, dass die Polizeistreife Mühe gehabt habe, den Beschuldigten einzuholen. Im Übrigen ist nicht nachvollziehbar, wie die Verkehrskontrolle vor der Wohnung des Beschuldigten (unmittelbar nach Fahrtende) möglich gewesen sein soll, wenn sich der Beschuldigte – laut eigener Angabe – stets außerhalb der Sichtweite der Polizei befand.“

Im Übrigen: Der Beschuldigte hatte Beschwerde eingelegt mit einem „Einspruchsschreiben“, „welches er in ausgedruckter Form unterschrieb und ein Lichtbild hiervon noch am selben Tag als „JPG-Bilddatei“ im Anhang einer E-Mail an das Amtsgericht Hechingen versandte.“ Dem LG hat das für eine zulässige Beschwerde gereicht.

Höchstgebühr im Berufungsverfahren, oder: Man glaubt es nicht und traut seinen Augen nicht….

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Die zweite Entscheidung, die ich vorstelle – der LG Hechingen, Beschl. v. 29.05.2020 – 3 Qs 43/20 -, ist dann eine Entscheidung, die ein Lächeln ins Gesicht zaubert. Es geht zwar auch um § 14 RVG – dessen Anwendung führt meist nicht zum Lächeln – hier dann aber (ausnahmsweise) aber mal doch.

Der Verteidiger hatte für das Berufungsverfahren, in dem er den (ehemaligen) Angeklagten auch vertreten hatte, die Höchstgebühr des Rahmens aus der Nr. 4124 VV RVG geltend gemacht. Das AG hatte nur die Mittelgebühr festgesetzt. Das LG folgt in der sofortigen Beschwerde dem Verteidiger:

„Die Absetzung durch das Amtsgericht von der geltend gemachten Verfahrensgebühr im Berufungsverfahren ist zu Unrecht erfolgt, da die Festsetzung des Verteidigers gemäß § 14 Abs. 1 RVG jedenfalls nicht unbillig und mithin verbindlich ist.

Die Geltendmachung der Höchstgebühr nach Nr. 4124 der Anlage 1 zu § 2 Abs. 2 RVG erscheint im vorliegenden Fall nicht unangemessen. Bei Rahmengebühren bestimmt der Rechtsanwalt gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG die Gebühr im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände, vor allem des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, der Bedeutung der Angelegenheit sowie der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers. Die Festsetzung der Gebühr ist jedoch nach § 14 Abs. 1 Satz 4 RVG dann nicht verbindlich, wenn sie unbillig ist. Unbillig ist ein Gebührensatz in der Regel dann, wenn er den Rahmen des Angemessenen um mehr als 20 % übersteigt (Winkler in: Mayer/Kroiß, RVG, 7. Auflage 2018, § 14 Rn.56). Der Rechtsanwalt erhält die Verfahrensgebühr für „das Betreiben des Geschäfts einschließlich der Informationen“. Abgegolten wird die gesamte Tätigkeit des Rechtsanwalts im Berufungsrechtszug, soweit hierfür keine besonderen Gebühren vorgesehen sind. Zur Verfahrensgebühr gehört auch die Tätigkeit gegenüber dem Mandanten (Beratung, Besprechung). Zwar kann die Verfahrensvorbereitung für die einzelnen Termine in den Abgeltungsbereich der Terminsgebühr (als „besondere Gebühr“) fallen. Dies ist bei dem vorliegenden umfangreichen Verfahren, bei welchem vier Termine erforderlich waren und der erste über acht Stunden dauerte, indes nicht für die gesamte Vorbereitungszeit der Fall. Es bedurfte zunächst des Aufbaus einer Verteidigungsstrategie für das Berufungsverfahren indegesamt, die mit dem Mandanten abgesprochen werden musste. Die allgemeine Vorbereitung der Berufungshauptverhandlung hat Auswirkungen auf die Verfahrensgebühr (vgl. Gerold/Schmidt/Burhoff, 24. Aufl. 2019, RVG VV 4124 Rn. 10). Die vom Verteidiger mit seiner Erinnerung dokumentierten Besprechungen und weiteren Tätigkeiten vom 23. Mai 2019 (telefonische Besprechung), vom 19. Juni 2019 (Aufbereitung/Abgleich Urteil und HV-Protokolle 1. Instanz), vom 15. Juli 2019 (Terminsabstimmung/Telefonat/Diktat) und vom 16. August 2019 (telefonische Besprechung) belegen, dass der Rechtsanwalt „sein Geschäft“ in diese Richtung umfangreich betrieben hat. Auf der Grundlage der sog. Mittelgebühr, von der auszugehen ist, können also gebührenerhöhend diese zeitintensiven Tätigkeiten, der Umfang der erstinstanzlichen Akte und die Vielzahl der Termine berücksichtigt werden, bei welcher eine Gesamtübersicht im Blick behalten werden musste. Eine Gesamtschau all dieser Umstände zeigt, dass eine erheblich über der Mittelgebühr liegende Verfahrensgebühr gerechtfertigt und die Höchstgebühr zumindest nicht unbillig ist.

Die Differenz zwischen der bereits zuerkannten Mittelgebühr und der Höchstgebühr beträgt netto 240 €. Die darauf fallende Umsatzsteuer beträgt 45,60 €. Um die Summe (285,60 €) war der festzusetzende Betrag zu erhöhen.“

Ja, Festsetzung der Höchstgebühr. Man glaubt es nicht und traut seinen Augen nicht. Dass man das noch erleben darf 🙂 .

Grundgebühr angemessen bemessen, Terminsgebühr außerhalb des Toleranzbereichs

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Als zweite Gebührenentscheidung des Tages dann nach längerer Zeit mal wieder etwas zu § 14 RVG, und zwar der LG Hechingen, Beschl. v. 21.05.2019 – 3 Qs 31/19, den der Kollege Kabaus aus Bad Saulgau erstritten hat.

Das LG äußert sich zur Höhe der Grundgebühr und zur Höhe einer Terminsgebühr, und zwar wie folgt:

„Die Geltendmachung einer Gebühr in Höhe der Mittelgebühr von 200,00 € als Grundgebühr nach Nr. 4100 der Anlage 1 zu § 2 Abs. 2 RVG erscheint im vorliegenden Fall nicht unangemessen. Bei Rahmengebühren bestimmt der Rechtsanwalt gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG die Gebühr im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände, vor allem des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, der Bedeutung der Angelegenheit sowie der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers. Die Festsetzung der Gebühr ist jedoch nach § 14 Abs. 1 Satz 4 RVG dann nicht verbindlich, wenn sie unbillig ist. Unbillig ist ein Gebührensatz in der Regel dann, wenn er den Rahmen des Angemessenen um mehr als 20 % übersteigt (Winkler in: Mayer/ Kroiß, RVG, 7. Auflage 2018, § 14 Rn. 56, OLG Köln, Beschluss vom 21. April 2016, 2 Ws 218/16, LG Saarbrücken, Beschluss vom 04. Dezember 2008, 4 II 50/60 I, Entscheidungen jeweils zitiert nach <juris>). Die Mittelgebühr soll im „Normalfall“ gelten, geht also jeweils vom durchschnittlichen Gewicht der vom Gesetzgeber aufgeführten Kriterien aus (Winkler, aaO, Rn. 39). Vorliegend mag der Aktenumfang zum Zeitpunkt der Akteneinsicht des Verteidigers mit ca. 30 Seiten eher gering gewesen sein. Jedoch ist vorliegend weiter zu berücksichtigen, dass die Angelegenheit für den (ehemaligen) Angeklagten durchaus bedeutend gewesen ist, nachdem er noch keine Eintragung im Bundeszentralregister aufwies, im Falle einer rechtskräftigen Verurteilung zu befürchten hatte, dass sein Führungszeugnis nach §§ 30 ff. BZRG nicht mehr eintragungsfrei sein würde und und ihm ein für sein berufliches Fortkommen als Physiotherapeut massiv schädigender Vorwurf eines sexuellen Übergriffes zur Last gelegt wurde. Darüber hinaus ist der Sachverhalt in rechtlicher wie tatsächlicher Hinsicht jedenfalls durchschnittlich gelagert, zumal in Ermangelung weiterer Tatzeugen eine Aussage-gegen-Aussage Konstellation gegeben war, die eine besonders sorgfältige Auseinandersetzung mit den Angaben der Belastungszeugin erforderte (vgl. OLG Stuttgart, Beschluss vom 19. September 2013, 2 Ws 263/13, zitiert nach <juris>). Die Geltendmachung der Mittelgebühr ist somit nicht zu beanstanden.

Was die Geltendmachung der Höchstgebühr von 480 € als Terminsgebühr nach Nr. 4108 der Anlage 1 zu § 2 Abs. 2 RVG anbelangt, erscheint diese im vorliegenden Fall – auch unter Berücksichtigung des zuzubilligenden Toleranzspielraums von bis zu 20 % – unbillig. Unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände bewegt sich demzufolge die Geltendmachung der Höchstgebühr außerhalb des Toleranzbereiches des ausgeübten anwaltlichen Ermessens. Bei der Terminsgebühr für einen Hauptverhandlungstermin ist die Dauer der Hauptverhandlung von erheblicher Bedeutung, da durch die Gebühr der zeitliche Aufwand vergütet werden soll, den der Rechtsanwalt durch die Teilnahme an diesem Termin hat (Gerold/Schmidt/Burhoff, RVG VV 4108 Rn. 18). Bei der Bemessung ist zunächst von der Mittelgebühr auszugehen und der Wahlanwalt kann sich an den Grenzen der Längenzuschläge nach Nrn. 4110, 4111 der Anlage 1 zu § 2 Abs. 2 RVG orientieren (OLG Köln, aaO, Rn. 11, KG, Beschluss vom 24. November 2011, 1 Ws 113-114/10, zitiert nach <juris>), sodass unter deren Berücksichtigung eine Hauptverhandlungsdauer von mehr als fünf bis acht Stunden eine erheblich über die Mittelgebühr hinausgehende Terminsgebühr rechtfertigt (so auch BeckOK RVG-Knaudt, Stand 1. März 2019, RVG VV 4108, Rn. 24.2) und wenn mehr als acht Stunden verhandelt wird, auf jeden Fall die Höchstgebühr gerechtfertigt sein wird (Gerold/Schmidt/Burhoff, aaO). Gemessen hieran bewegt sich unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände die Geltendmachung der Höchstgebühr im vorliegenden Fall außerhalb des Toleranzbereiches des ausgeübten anwaltlichen Ermessens. Die Hauptverhandlungsdauer hat vorliegend die Grenzen der Längenzuschläge nach Nrn. 4110, 4111 der Anlage 1 zu § 2 Abs. 2 RVG nicht einmal erreicht; vielmehr sind diese mit einer Verhandlungsdauer von knapp 4 Stunden noch erheblich unterschritten. Selbst im Falle deren Erreichens ist nach den einschlägigen Kommentierungen lediglich eine „erheblich über die Mittelgebühr hinausgehende Terminsgebühr“ gerechtfertigt, sodass es wertungswidersprüchlich erschiene, wenn im Falle deren Unterschreitens bereits die Höchstgebühr verlangt werden könnte. Vor diesem Hintergrund ist die festgesetzte Höchstgebühr unbillig und erscheint die in der angefochtenen Entscheidung festgesetzte Gebühr von 360,00 €, mit welcher die Mittelgebühr um 30% überschritten wird, angemessen.“

Mal wieder ein schönes Beispiel dafür, dass die gesetzlichen Rahmen einfach zu niedrig sind.