StPO I: Ist das Schreiben an die StA eine „Beschwerde“?, oder: Wo ist der Anfechtungswille?

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Heute machen wir dann mal wieder ein wenig StPO, und zwar mit zwei LG- und einer AG-Entscheidung.

Ich beginne mit dem LG Hechingen, Beschl. v. 28.03.2022 – 3 Qs 7/22. Der Beschluss ist schon etwas älter, er ist mir leider immer wieder „durchgegangen“. Heute dann aber endlich.

In der Entscheidung geht es um die Auslegung eines Schreiben des Beschuldigten an die Staatsanwaltschaft, dass dieser, nachdem ihm einem Ermittlungsverfahren wegen Trunkenheit im Verkehr vom AG nach § 111a StPO die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen worden war, an die Staatsanwaltsschaft gerichtet hat. In der Adresszeile des Schreibens heißt es „Herr Leitenden Oberstaatsanwalt G.“. Im Schreiben trägt der Beschuldigte im Wesentlichen vor, dass nach Aktenlage keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Feststellung relativer Fahrunsicherheit bestehen. Jedenfalls dürfte das Übersehen eines Fußgängers an einem Zebrastreifen kein konkreter, alkoholtypischer Fahrfehler sein. Insofern solle es insgesamt bei einer Ordnungswidrigkeit verbleiben. Die StA wertet das Schreiben als „Beschwerde“, legt die Ermittlungsakte dem AG vor und beantragt, der „Beschwerde …. nicht abzuhelfen und die Akte unmittelbar dem LG, wo beantragt werde, die „Beschwerde“ aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung zu verwerfen.

Das LG hat die Sache ohne Sachentscheidung zurück gegeben:

„Bei dem Schriftsatz des Beschuldigten vom 11. Februar 2022 handelt es sich nicht um eine Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Hechingen vom 20. Januar 2022.

Eine Erklärung kann nur als Rechtsmittel ausgelegt werden, wenn aus ihr ein Anfechtungswille hervorgeht (Löwe-Rosenberg/Jesse, StPO, 26. Aufl. 2014, § 300 Rn. 5; KK/Paul, StPO, 8. Aufl. 2019, § 300 Rn. 2). Der Anfechtungswille beschreibt hierbei den Willen, ein zulässiges Rechtsmittel gegen eine bestimmte Entscheidung einzulegen (Löwe-Rosenberg/Jesse, StPO, 26. Aufl. 2014, § 300 Rn. 4). Aus der abgegebenen Erklärung muss also deutlich zum Ausdruck kommen, dass der Erklärende sich mit einer ihn beschwerenden gerichtlichen Entscheidung nicht abfinden wolle (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 4. April 2013 – 2 Ws 86/13, BeckRS 2013, 15473; OLG Bamberg, Beschluss vom 8. September 2016 – 3 OLG 7 Ss 78/16, BeckRS 2016, 111077). Maßgebend sind stets der Gesamtinhalt der Verfahrenserklärungen und die Erklärungsumstände (BGH, Beschluss vom 25. Januar 1952 – 2 StR 3/52, BGHSt 2, 41 (43)), wobei jedoch nur solche Erklärungen relevant sind, die innerhalb der Anfechtungsfrist abgegeben werden (BeckOK/Cirener, StPO, 42. Ed. 1. Januar 2022, § 300 Rn. 2; Löwe-Rosenberg/Jesse, StPO, 26. Aufl. 2014, § 300 Rn. 8). Für die Auslegung der Erklärung sind zudem die Rechtskenntnisse des Erklärenden beachtlich (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Januar 2019 – 5 StR 499/18, BeckRS 2019, 1966). Ein Anfechtungswille wird indes nicht schon dadurch ausgeschlossen, dass die sprachliche Form der abgegebenen Erklärung ihrerseits missverständlich oder uneindeutig ist (LG Nürnberg-Fürth, Beschluss vom 24. Juni 2021 – 12 Qs 39/21, BeckRS 2021, 15647). Bleibt auch nach der Auslegung der Erklärung der Anfechtungswille unklar, sind verbleibende Zweifel durch eine Nachfrage zu klären (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Dezember 1951 — 3 StR 691/51, BGHSt 2, 63 (67); BayObLG, Beschluss vom 28. November 1994 – 2 St RR 221/94, NJW 1995, 1230; KK/Paul, StPO, 8. Aufl. 2019, § 300 Rn. 2).

Ausgehend hiervon war der Kammer bei Anwendung der herkömmlichen Auslegungsmethoden unklar, ob sich der Beschuldigte gegen den Beschluss des Amtsgerichts Hechingen vom 20. Januar 2022 mittels einer Beschwerde erwehren wollte, ob also ein Anfechtungswille vorlag. Hierfür könnte zwar auf den ersten Blick sprechen, dass der Beschuldigte in seinem Schriftsatz betont, dass nach Aktenlage keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Feststellung relativer Fahrunsicherheit bestünden und es jedenfalls an einem Regelfall für die Entziehung der Fahrerlaubnis feh-le. Insoweit wollte er zum Ausdruck bringen, dass er die Sach- und Rechtslage anders als das Amtsgericht Hechingen mit seinem Beschluss vom 20. Januar 2022 bewertet. Bei näherer Betrachtung der schriftsätzlichen Erklärung war das Anliegen des Beschuldigten jedoch dahingehend gerichtet, lediglich zur Sach- und Rechtslage gegenüber der Staatsanwaltschaft Hechingen Stellung zu nehmen. Dies ergibt sich zum einen bereits aus der Angabe der Staatsanwaltschaft Hechingen in der Adresszeile und der konkret gewählte Anrede („Sehr geehrter Herr Leitender Oberstaatsanwalt Gruhl“). Zum anderen verwendet der Beschuldigte in dem gesamten Schriftsatz das Wort „Beschwerde“ oder einen entsprechenden Begriff, der auf die Einlegung eines Rechtsmittels hindeuten könnte, nicht. Es fehlt zudem an einer ausdrücklichen Bezugnahme auf die amtsgerichtliche Entscheidung vom 20. Januar 2022. Unter Berücksichtigung der Rechtskenntnisse des erklärenden Verteidigers ist dem gewählten Wortlaut insoweit auch eine entscheidende Bedeutung beizumessen (vgl. KK/Paul, StPO, 8. Aufl. 2019, § 300 Rn. 2). Verbleibende Zweifel über das Vorliegen eines Anfechtungswillens konnten schließlich durch Nachfrage seitens des Amtsgerichts Hechingen mit Verfügung vom 3. März 2022 und hierauf erfolgter schriftsätzlicher Antwort des Beschuldigten vom 23. März 2022 ausgeräumt werden.

Nach alledem war eine Sachentscheidung der Kammer nicht veranlasst.“

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