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Auslagen für Ausdruck des digitalen Datenträgers I?, oder: Die Dokumentenpauschale gibt es nicht

entnommen wikimedia.org

Und dann auf in den RVG-Tag, heute mit zwei Entscheidungen zu Auslagen.

Zunächst kommt hier der OLG Nürnberg, Beschl. v. 25.09.2024 – Ws 649/24 – zur Frage, ob bei dem Ausdruck eines digitalen Datenträgers die Dokumentenpauschale Nr. 7000 VV RVG anfällt. Das OLG sagt: Nein und begründet das wie folgt:

„3. Die Beschwerde richtet sich nur dagegen, dass dem Erinnerungsführer eine Dokumentenpauschale aus § 46 RVG i.V.m. Nr. 7000 Ziffer 1 lit. a VV RVG in Höhe von 1.298,70 € für 6.774 Seiten selbst gefertigter Kopien zugesprochen wurden. Die Beschwerde hat in der Sache auch Erfolg. Der Pflichtverteidiger hat keinen Anspruch auf Festsetzung der für das Ausdrucken der vollständigen Akte im Umfang von 6.774 Seiten von den ihm dauerhaft überlassenen Datenträgern entstandenen Gebühren und Auslagen in Höhe von 1.298,70 €, da der Ausdruck zur sachgemäßen Bearbeitung der Rechtssache nicht geboten war.

a) Der Ausdruck einer in digitalisierter Form (hier auf mehreren CD-Rom) gespeicherten Gerichtsakte fällt unter den Gebührentatbestand der Nr. 7000 Ziff. 1 lit. a VV RVG (Ahlmann, in Riedel/Sußbauer RVG 10. Aufl. VV 7000 Rn. 5). Danach entsteht eine Dokumentenpauschale für Kopien und Ausdrucke aus Gerichtsakten, soweit deren Herstellung zur sachgemäßen Bearbeitung der Rechtssache geboten war.

Die Frage, ob die Ausdrucke (entsprechendes gilt für die Kopien aus einer Gerichtsakte) zur sachgerechten Bearbeitung erforderlich waren, beurteilt sich im Einzelfall nach dem objektiven Standpunkt eines vernünftigen sachkundigen Dritten (Hartmann, Kostengesetze 44. Aufl. RVG 7000 VV Rdn. 6; Ahlmann, in Riedel/Sußbauer RVG 10. Aufl. VV 7000 Rn. 8). Dies ist aus der Sicht zu beurteilen, die ein verständiger und durchschnittlich erfahrener Prozessbevollmächtigter (oder Verteidiger) haben kann, wenn er sich mit der betreffenden Gerichtsakte beschäftigt und alle Eventualitäten bedenkt, die bei der dann noch erforderlichen eigenen Bearbeitung der Sache auftreten können (vgl. BGH NJW 2005, 2317 f.). Es ist also ein objektivierter Maßstab zu Grunde zu legen; auf die subjektive Sicht des Rechtsanwalts kommt es nicht an (Ahlmann a.a.O. VV 7000 Rn. 8). Gleichwohl steht auch dem gerichtlich bestellten bzw. beigeordneten Rechtsanwalt ein weiter Ermessensspielraum zu (vgl. OLG Celle, NJW 2012, 1671; OLG Frankfurt/Main, Beschluss vom 29.03.2012 – 2 Ws 49/12, JurionRS 2012, 14204; OLG Köln, NStZ-RR 2012, 392). Allerdings muss der Anwalt das ihm eingeräumte Ermessen auch ausüben (OLG Koblenz, Beschluss vom 16.11.2009 – 2 Ws 526/09, JurionRS 2009, 36455; OLG Köln, NStZ-RR 2012, 392).

b) Der Senat folgt nunmehr der Auffassung (vgl. OLG Frankfurt a.?M., Beschluss vom 03.04.2018, 2 Ws 1/18, OLG Rostock, Beschluss vom 04.08.2024, 20 Ws 193/14), dass bei Überlassung von auf digitalen Datenträgern gespeicherten Akten deren Ausdruck ohne Vorliegen besonderer Umstände grundsätzlich nicht mit der Dokumentenpauschale vergütet werden kann (unter Aufgabe der im Beschluss vom 30.05.2017, 2 Ws 98/17, BeckRS 2017, 120492 vertretenen gegenteiligen Meinung).

aa) Aufgrund der fortschreitenden Digitalisierung besteht für eine sachgemäße Bearbeitung einer Rechtssache grundsätzlich kein Erfordernis, eine in elektronischer Form vorhandene Akte auszudrucken.

In Zivil- und Familiensachen ist im Freistaat Bayern und vielen anderen Bundesländern die elektronische Gerichtsakte bereits seit längerem eingeführt. In Strafsachen können die Akten gemäß § 32 Abs. 1 S. 1 StPO elektronisch geführt werden; ab 01.01.2026 ist dies verpflichtend. Bei einigen Staatsanwaltschaften und Gerichten im Freistaat Bayern laufen Pilotprojekte und die Regeleinführung der elektronischen Gerichtsakte bei den Bayerischen Gerichten hat begonnen. Hieraus ergibt sich, dass der Umgang mit elektronischen Akten mittlerweile Alltag im gerichtlichen und anwaltlichen Berufsleben geworden ist, so dass es für eine sachgemäße Bearbeitung einer Rechtssache durch einen Rechtsanwalt grundsätzlich nicht mehr erforderlich ist, eine in elektronischer Form vorhandene Akte auszudrucken. Dass die elektronische Aktenführung für Rechtsanwälte nicht verpflichtend ist, ändert daran nichts.

Ob die Akten, wie im vorliegenden Fall, auf einem elektronischen Speichermedium (etwa CD-ROM) zum dauernden Verbleib oder durch die Möglich zum Download und lokaler Speicherung auf einem Speichermedium des Rechtsanwalts zur Verfügung gestellt werden und ihm damit jederzeit und an jedem Ort ein vollständiger Zugriff auf die Akten möglich ist, ist dabei unerheblich.

bb) Aus den vom Verteidiger zur Begründung des Aktenausdrucks vorgetragenen Umstände ergibt sich nicht, dass im vorliegenden Einzelfall ein vollständiger oder teilweiser Ausdruck der Akten erforderlich war.

(1) Den Rechtsanwalt, der die elektronische Akte ausdruckt, trifft eine besondere Begründungs- und Darlegungslast, warum dies zusätzlich zu der zur Verfügung gestellten digitalisierten Akte, die eine sachgerechte Bearbeitung bereits ermöglicht, notwendig war, wenn er die zusätzlichen Ausdrucke ersetzt verlangt (OLG Frankfurt a.?M., Beschluss vom 03.04.2018, 2 Ws 1/18, OLG Rostock, Beschluss vom 04.08.2024, 20 Ws 193/14). Da die elektronische Aktenbearbeitung mittlerweile zum Alltag gehört und damit ein gezielter Zugriff auf bestimmte Informationen gerade bei umfangreichem Verfahrensstoff erheblich erleichtert wird, ist es dem Verteidiger zuzumuten, sich zunächst mit Hilfe der elektronischen Akte in den Sachverhalt einzuarbeiten und erst auf dieser Grundlage zu entscheiden, ob und wenn ja in welchem Umfang ein Aktenausdruck aus besonderen Gründen für die weitere Verteidigung zusätzlich in Papierform benötigt werden.

(2) Der Einwand des Verteidigers, nicht über einen Laptop zu verfügen, greift nicht durch. Die fehlende Ausstattung des Verteidigers mit einem Laptop stellt keinen tragfähigen Grund für den Ausdruck der Akte dar (Burhoff, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 6. Auflage, Nr. 7000 VV Rn. 97 m.w.N.). Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte sind gemäß § 5 BORA verpflichtet, die für ihre Berufsausübung erforderlichen sachlichen, personellen und organisatorischen Voraussetzungen vorzuhalten, wozu mittlerweile auch die technische Ausstattung zur Bearbeitung elektronischer Akten gehört.

(3) Auch dass es ein Rechtsanwalt als praktikabler oder einfacher empfindet, bei der Besprechung mit seinem Mandanten Anmerkungen auf den Papierausdrucken anbringen zu können, stellt aus Sicht eines verständigen und durchschnittlich erfahrenen Verteidigers keinen Grund dar, der den Ausdruck der Akte erforderlich macht. Zum einen ist auch in einem elektronischen Dokument das Anfertigen von Anmerkungen möglich. Zum anderen kann der Verteidiger bei Besprechungen gleichwohl Anmerkungen in Papierform erstellen und sich die dazugehörige Blattzahl der Akte vermerken. Sollte im Einzelfall der Ausdruck einzelner Aktenteile, etwa von Protokollen von Zeugenaussagen, erforderlich sein, rechtfertigt dies jedenfalls nicht den Ausdruck der gesamten Akte mit über 7.000 Seiten. Gründe dafür, dass der Ausdruck einzelner Aktenteile erforderlich war, hat der Verteidiger nicht vorgebracht, so dass auch eine teilweise Kostenerstattung nicht in Betracht kommt.

(4) Der Ausdruck der dem Verteidiger überlassenen elektronischen Akte stellt auch aus Gründen der Waffengleichheit keine zur sachgemäßen Bearbeitung der Rechtssache grundsätzlich erforderliche Aufwendung dar. Die Arbeit mit einer Papierakte ist der mit einer elektronischen Akte nicht überlegen. Vielmehr können die elektronische Suchfunktion oder das Anbringen von elektronischen Lesezeichen die Aktenarbeit gerade in umfangreichen Verfahren vereinfachen.“

Das ist sicherlich ein Punkt, an dem der Gesetzgeber mal etwas tun müsste. Aber er hat es im KostRÄndG 2021 nicht getan, für das KostRÄndG 2025 ware auch nichts vorgesehen. Und was danach kommt: Wer weiß das im Moment?

Beweis III: Verhandlungsleitung beim Vorsitzenden, oder: I.d.R. Finger weg vom Fragerecht des Verteidigers

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Und dann habe ich als dritte Entscheidung noch etwas aus der OLG-Rechtsprechung. Und zwar hatte mich ein Kollege auf den OLG Stuttgart, Beschl. v. 09.07.2024 – 7 ORs 28 SRs 899/23 – hingewiesen. Den habe ich mir dann über die dortige Pressestelle besorgt, was mal wieder sehr gut geklappt hat. Kein Gezicke, sondern: Zack war der Beschluss da.

In der Entscheidung geht es um die die Verhandlungsleitung des Vorsitzenden und Eingriffe des Vorsitzenden in das Fragerecht des Verteidigers. Das machen Vorsitzende ja gerne, wenn es in der HV vermeintlich nicht so läuft, wie es sich das Gericht „vorstellt“.

Hier hatten wir folgenden Sachverhalt. Der Angeklagte ist durch Urteil des LG u.a. wegen Körperverletzung in mehreren Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt worden. Hiergegen wendet er sich u.a. mit seiner auf eine Verfahrensrüge gestützten Revision. Die Revision des Angeklagten hatte teilweise Erfolg.

Zugrunde lag folgendes Verfahrensgeschehen:

In der Hauptverhandlung wurde der Zeuge A., der mutmaßlich Geschädigte in einigen Körperverletzungsfällen als Zeuge vernommen. Die Vernehmung begann am 14.o6.2023 und wurde am 21.06. 2023 fortgesetzt. Vor dem Fortsetzungstermin war dem Zeugen mit Verfügung des Vorsitzenden vom 15.06.2023 nach § 68b Abs. 2 StPO ein Zeugenbeistand bestellt worden, da der Zeuge seine Befugnisse und Interessen in der Vernehmungssituation nicht selbst wahrnehmen könne.

In der Hauptverhandlung am 21.06.2023 wurde dem Verteidiger das Fragerecht gewährt. Vor Abschluss der Befragung erging folgende Verfügung des Vorsitzenden: „Nachdem der Zeuge von Seiten der Verteidigung bisher mehrfach ständig wechselnd zwischen den Tatkomplexen 1/2 und 3 befragt wurde, wird nunmehr darauf hingewiesen, dass die Befragung zum Tatkomplex 3 fortzusetzen ist und erst im Anschluss, sollten dazu keine weiteren Fragen mehr sein, die noch verbleibenden Fragen zum Tatkomplex 1/2 zu stellen sind.“

Nachdem der Verteidiger um einen Gerichtsbeschluss gebeten hatte, bestätigte die Jugendkammer die Verfügung des Vorsitzenden. Diese sei nicht rechtswidrig; eine weitergehende Begründung erfolgte nicht. Anschließend wurde die Befragung des Zeugen in der vom Vorsitzenden vorgegebenen Reihenfolge fortgesetzt.

Dazu dann das OLG, das dieser Vorgehensweise des Vorsitzenden einen Riegel vorgeschoben hat:

„b) Die Verfahrensrüge ist zulässig.

aa) Das Rügevorbringen genügt den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO. Weiterge-hender Darlegungen, etwa zum Inhalt der an den Zeugen gerichteten Fragen, bedurfte es nicht, nachdem sich die Rüge nicht gegen die Zurückweisung einzelner Fragen nach § 241 Abs. 2 StPO richtet, sondern gegen die an die Verteidigung gerichtete Anordnung des Vorsit-zenden, den Zeugen nur in einer vorgegebenen Reihenfolge zu den einzelnen Taten zu befragen.

bb) Durch die als Beanstandung nach § 238 Abs. 2 StPO auszulegende „Bitte“ um einen Ge-richtsbeschluss hat der Verteidiger zudem von dem erforderlichen Zwischenrechtsbehelf Ge-brauch gemacht. Dass die Beanstandung nicht begründet wurde, schadet hierbei nicht. Denn es bedarf zu einer möglichen Beeinträchtigung verfahrensrechtlicher Belange keines Vortrags, wenn die Beeinträchtigung auf der Hand liegt (KK-StPO/Schneider, 9. Aufl., § 238, Rn. 17; s. auch BeckOK StPO/Gorf, 51. Ed., § 238, Rn. 12). Dies ist vorliegend der Fall.

§ 240 Abs. 2 Satz 1 StPO gewährt dem Verteidiger das Recht, Fragen an den Angeklagten, die Zeugen und die Sachverständigen zu stellen. Dieses Fragerecht verschafft ihm die Mög-lichkeit, auf die vollständige Erörterung des Verfahrensstoffes durch die bestmögliche Aus-schöpfung der persönlichen Beweismittel hinzuwirken (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 240, Rn. 1). Eine sinnvolle und effektive Ausübung des Fragerechts ist dabei grundsätzlich nur dann möglich, wenn der Verteidiger seine Befugnis eigenständig und ununterbrochen in Verfolgung des von ihm entwickelten Konzepts ausüben kann (KK-StPO/Schneider, 9. Aufl., § 240, Rn 8).

Es liegt daher auf der Hand, dass eine gerichtliche Vorgabe, das Fragerecht nur in einer be-stimmten Reihenfolge auszuüben, Verteidigungsbelange berühren kann, macht es eine solche Anordnung dem Verteidiger doch unter Umständen unmöglich, das von ihm vorbereitete Ver-nehmungskonzept umzusetzen. Einer besonderen Begründung der Beanstandung bedurfte es deshalb nicht.

c) Die vom Vorsitzenden getroffene und von der Jugendkammer bestätigte Anordnung erweist sich als verfahrensfehlerhaft. Denn der Senat kann nicht prüfen, ob die Anordnung, den Zeu-gen A. erst zur Tat II. Nr. 3 zu befragen und dann zu den Taten II. Nr. 1 und Nr. 2, zurecht er-folgte.

aa) Der Vorsitzende hat im Rahmen der ihm obliegenden Verhandlungsleitung sowie insbe-sondere in Ausübung seiner Fürsorgepflicht gegenüber Zeugen für einen sachgerechten Ab-lauf der Beweisaufnahme zu sorgen. Dabei hat er auch auf eine hinreichende Strukturierung der Vernehmung hinzuwirken, denn nur dann kann der Zeuge die ihm obliegenden Pflichten erfüllen und zur Wahrheitsfindung beitragen. Dies schließt Vorgaben auch im Hinblick auf die Reihenfolge der Befragung zu einzelnen Tatkomplexen nicht grundsätzlich aus, die Verfah-rensbeteiligten einschließlich des Verteidigers sind im Hinblick auf die Vernehmung von Zeu-gen und Sachverständigen nicht völlig frei. Jedoch bedürfen Vorgaben, die das Fragerecht berühren, stets einer sorgfältigen Begründung. An einer solchen fehlt es hier.

So lässt sich weder der Verfügung des Vorsitzenden noch dem bestätigenden Beschluss der Jugendkammer entnehmen, dass eine besondere Schutzbedürftigkeit des Zeugen bestand, die einen Eingriff in das Fragerecht der Verteidigung hätte rechtfertigen können, und es ist auch nicht dargetan, weshalb es über die Beiordnung des Zeugenbeistands hinaus des Eingriffs in das Fragerecht des Verteidigers bedurfte. Auch ist nicht erkennbar, dass die Vorgabe zur Reihenfolge einzelner Fragen deshalb erforderlich gewesen wäre, weil der Zeuge andernfalls der Befragung nicht hätte folgen können oder zu sachgerechten Antworten nicht in Lage gewesen wäre. Schließlich ist auch nicht dargelegt, dass das Fragerecht rechtsmissbräuchlich ausgeübt wurde.

bb) Eine zwischen einzelnen Taten wechselnde Befragung eines Zeugen ist nicht generell unzulässig, zumal die den Zeugen A. betreffenden Taten in einem engen sachlichen und zeitlichen Zusammenhang stehen. Zwei der Taten sollen am 19. Februar 2022 begangen worden sein, die dritte Tat dann wenige Tage später am 1. März 2022. Zudem legen die Feststellun-gen nahe, dass der Hintergrund sämtlicher Auseinandersetzungen darin liegt, dass der Ange-klagte darüber verärgert war, dass der Zeuge A. während seiner Inhaftierung eine Beziehung mit seiner ehemaligen Lebensgefährtin C. geführt hatte; hinsichtlich des Tatmotivs ist die Ju-gendkammer von Eifersucht des Angeklagten ausgegangen (UA S. 19). Angesichts dessen ist eine zwischen den einzelnen Taten hin und her wechselnde Befragung jedenfalls ohne das Hinzutreten weiterer, vorliegend nicht ersichtlicher Umstände zulässig.

d) Auf diesem Rechtsfehler beruht das Urteil (§ 337 Abs. 1 StPO). Der Senat kann nicht aus-schließen, dass die Strafkammer im Hinblick auf die Glaubhaftigkeit der Angaben des Zeugen A. zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre, hätte der Verteidiger seine Fragen in der von ihm vorgesehenen Reihenfolge stellen können. Auf die zudem erhobene Sachrüge kommt es daher insoweit nicht an.“

Fazit:  I.d.R. „Finger weg vom Fragerecht“ und eine Bitte an die Verteidiger: Die Maßnahme des Vorsitzenden muss nach § 238 Abs. 2 StPO beanstandet werden. Dabei sollte man als Verteidiger er klar und deutliche formulieren, was „gewünscht“ ist: Also nicht: „Bitte um einen Gerichtsbeschluss“, sondern „Ich beanstande…..“. Dann gibt es keine Auslegungsprobleme, was eigentlich gewollt ist. Und: Die Beanstandung sollte begründet werden. Das hatte der Verteidiger hier nicht getan, was allerdings nach Auffassung des OLG nicht geschadet hat. In Fällen, in denen die Beeinträchtigung der Verteidigerrechte nicht so eindeutig ist wie hier, kann es ggf. an der Stelle Problem geben.

Zu allem <<Werbemodus an>> Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 11. Aufl., 2025, Rn 1957 ff., und zwar auch zur Zurückweisung von Fragen und zur Entziehung des Fragerechts. <<Werbemodus aus>>.

StPO III: Neufestsetzung einer Strafe nach dem KCanG, oder: Welches Gericht ist zuständig?

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Und dann im dritten Posting drei OLG-Entscheidungen zur – inzwischen in Rechtsprechung und Literatur – umstrittenen Frage: Wer ist eigentlich in den vom KCanG betroffenen Fällen für die erforderliche Neufestsetzung einer Strafe nach Art. 316p, Art. 313 Abs. 3 S. 2 EGStGB sowie für die Neufestsetzung einer Gesamtstrafe nach Art. 316p, Art. 313 Abs. 4 S. 1 EGStGB zuständig? Ist das das erkennende Gericht oder ist das die Strafvollstreckungskammer?

Die OLG scheinen mehrheitlich zum Gericht des ersten Rechtszuges und nicht zur SttVK zu tendieren, so dass folgender Leitsatz passt:

Für die Neufestsetzung einer Strafe nach Art. 316p, Art. 313 Abs. 3 S. 2 EGStGB sowie für die Neufestsetzung einer Gesamtstrafe nach Art. 316p, Art. 313 Abs. 4 S. 1 EGStGB ist das erkennende Gericht und nicht die Strafvollstreckungskammer zuständig.

Und dazu verweise ich auf:

Wie gesagt, die Frage ist umstritten. Nachweise zu den abweichenden Meinungen stehen in den verlinkten Volltexten. Da findet man dann auch weitere Nachweise zu den Gerichten, die es ebenso sehen wi OLG Dresden, OLG Nürnberg und OLG Stuttgart.

KCanG II: Rechtsprechung vornehmlich zum Straferlass, oder: Einmal etwas zur Pflichtverteidigung

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Im zweiten Posting habe ich dann zusammengestellt, was sich bei mir in den letzten Tagen angesammelt hat. Da geht es quer durch das StGB/die StPO, und zwar mit folgenden Entscheidungen:

Der Umstand, dass am 01.04.2024 das KCanG mit einem im Einzelfall niedrigeren Strafrahmen für die abgeurteilte Anlasstat in Kraft getreten ist, findet im Rahmen der Beurteilung im Sinne von § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB keine Berücksichtigung.

1. Die Rechtswirkungen des Straferlasses nach Art. 313 Abs. 1 EGStGB iVm Art. 316p EGStGB für Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz, die nach dem Konsumcannabisgesetz oder dem Medizinal-Cannabisgesetz nicht mehr strafbar und auch nicht mit Geldbuße bedroht sind, treten unmittelbar kraft Gesetzes ein.

2. Das Revisionsgericht hat diesen rückwirkenden Straferlass gemäß § 354a StPO iVm § 2 Abs. 3 StGB auf die Sachrüge hin zu beachten. Eine gebildete Gesamtstrafe ist auf der Grundlage der gesamten Feststellungen des angefochtenen Urteils darauf zu überprüfen, ob einer einbezogenen Strafe ein nach § 3 Abs. 1 KCanG nunmehr strafloser Besitz von Cannabis zugrunde liegt. Ist ein sicherer Rückschluss auf einen Besitz zum Eigenkonsum möglich und liegen alle sonstigen Voraussetzungen einer Straflosigkeit vor, hat das Revisionsgericht seiner Entscheidung den rückwirkenden Straferlass zugrunde zu legen.

1. Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge gebietet die Beiordnung eines Pflichtverteidigers, wenn die drohenden Rechtsfolgen einschneidend sind, insbesondere bei drohenden längeren Freiheitsstrafen um 1 Jahr.

2. Zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers in den Fällen des § 34 Abs. 3 S. 2 Nr. 4 KCanG.

Zur Neufestsetzung der Strafe, wenn unerlaubter Besitz von Cannabis mit Besitz von anderen Betäubungsmitteln zusammen trifft.

Die Möglichkeit einer Strafermäßigung nach Art. 316p i. V. m. 313 EGStGB ist auch in den Fällen zu bejahen, in denen neben Cannabis gleichzeitig noch andere Betäubungsmittel unerlaubt besessen wurden.

StPO I: Encrochat-/ANOM-/SkyECC-Daten und KCanG, oder: OLG Stuttgart/LG Saarbrücken ggf. unverwertbar

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Heute gibt es hier dann einen StPO-Tag, und zwar mit einer Entscheidung zu EncroChat bzw. zur Frage der Verwertbarkeit von Encrochat-/ANOM-/SkyECC-Chats-Daten nach Inkrafttreten des KCanG, sowie einem zur Durchsuchung und dann als letztes etwas zum letzten Wort..

Ich beginne mit den Encrochat-/ANOM-/SkyECC-Chats-Daten Dazu stelle ich zwei Entscheidungen vor, allerdings nur jeweils kurz mit den entscheidenden Passagen der Entscheidungen, denn die allgemeinen Fragen der Vewertung dieser Daten waren ja schon oft genug Gegenstand der Berichterstattung.

Bei der ersten Entscheidung handelt es sich um den OLG Stuttgart, Beschl. v. 22.04.2024 – H 4 Ws 123/24. Ergangen ist die Entscheidung in einem Haftprüfungsverfahren. Gegenstand des Verfahrens sind Vorwürfe des Verstoßes gegen das BtMG. Das OLG hat wegen eines Teils der Vorwürfe den dringen Tatverdacht auf der Grundlage von ANOM-Daten bejaht, wegen eines anderen Teils führt es aus:

„Es kann deshalb dahinstehen und bleibt dem Ergebnis der Hauptverhandlung vorbehalten, ob ein dringender Tatverdacht auch bezüglich der im Haftbefehl unter Ziff. I.1, 3 und 5 bezeichneten Tatvorwürfe gegeben ist. Für die Prüfung der Verwertbarkeit der aufgrund des ANOM-Chatverkehrs gewonnenen Daten ist auf den Erkenntnisstand im Zeitpunkt der Verwertung der Beweisergebnisse abzustellen; es kommt mithin insoweit nicht auf die Rekonstruktion der Verdachtslage im (hypothetischen) Anordnungszeitpunkt, sondern auf die Informationslage im Verwendungszeitpunkt an (BGH a.a.O., Rn. 70). Nach vorläufiger Wertung liegt eine Katalogtat im Sinne des § 100b Abs. 2 Nr. 5a StPO in der seit dem 1. April 2024 gültigen Fassung, der nur Straftaten gemäß § 34 Abs. 4 Nr. 1, Nr. 3 oder Nr. 4 Konsumcannabisgesetz (KCanG) erfasst, nicht vor. Eine Verwendung der zulässig erlangten Beweise als Zufallserkenntnisse zum Nachweis von mit Katalogtaten in Zusammenhang stehenden Nichtkatalogtaten ist nur zulässig, wenn zwischen diesen Tateinheit im Sinne des § 52 Abs. 1 StGB bzw. Tatidentität im Sinne des § 264 StPO gegeben ist (BGH, Urteil vom 14. August 2009 – 3 StR 552/08, juris Rn. 27 unter Verweis auf BGH, Urteil vom 30. August 1978 – 3 StR 255/78, NJW 1979, 990; BGH, Urteil vom 22. Dezember 1981 – 5 StR 540/81, NStZ 1982, 125; BGH, Beschluss vom 18. März 1998 – 5 StR 693/97, juris Rn. 7 f.).“

Und dann der LG Saarbrücken, Beschl. v. 03.06.2024 – 4 KLs 28 Js 140/23 (16/24). Ergangen ist der Beschluss in einen Verfahren wegen BtM-Handels. Die Strafkammer hat mit dem Beschluss einen Antrag der Staatsanwaltschaft, auf Verlesung von in einem Beweisantrag näher bezeichneten SkyECC-Chats abgelehnt (und den Angeklagten anschließend frei gesprochen:

„So liegt der Fall hier: Die Anklageschrift bezieht sich lediglich auf Taten des Handeltreibens mit Cannabis. Das Handeltreiben mit Cannabis ist nach der am 1. April 2024 in Kraft getretenen gesetzlichen Neuregelung durch das Gesetz zum kontrollierten Umgang mit Cannabis und zur Änderung weiterer Vorschriften (Cannabisgesetz — CanG) nicht mehr als Katalogtat des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge nach § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG einzuordnen, sondern als Handeltreiben mit Cannabis in den besonders schweren Fällen der Gewerbsmäßigkeit und der nicht geringen Menge nach § 34 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 3 Nr. 1 und 4 KCanG. Dies stellt jedoch keine Katalogtat des § 100b Abs 2 StPO dar, da lediglich die in § 34 Abs. 4 Nr. 1, 3 und 4 KCanG aufgeführten Taten in die Aufzählung der Katalogtaten aufgenommen wurden (vgl. § 100b Abs. 2 Nr. 5a StPO; so auch KG Berlin, Beschluss v. 30.04.2024, 5 Ws 67/24).“